Nina Preis: Bildung in „bildungsfernen“ Kontexten
Rezensiert von Prof. Dr. Marius Metzger, 12.01.2018

Nina Preis: Bildung in „bildungsfernen“ Kontexten. Eine empirische Untersuchung zur Angebotsqualität der Erziehungs- und Familienberatung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 378 Seiten. ISBN 978-3-7799-3653-4. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Das Buch widmet sich mit der Erziehungs- und Familienberatung einem vordergründig bildungsfernen Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe. Mittels einer qualitativen Studie soll die Bildungsqualität der Erziehungs- und Familienberatung herausgearbeitet werden. Als Reflexionsfolie zur Erfassung ebendiese Bildungsqualität wird das so genannte SOCC-Modell verwendet, welches ursprünglich zur Erfassung der Unterrichtsqualität in formalen Bildungskontexten entwickelt wurde. Grundlage der auf die Dimensionen des SOCC-Modelles abgestützten strukturierenden Inhaltsanalyse bildeten Interviews mit jeweils neun Klientinnen und Klienten sowie deren Beraterinnen und Berater zweier Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Die Anwendung dieses SOCC-Modells auf andere Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe wird als möglich erachtet: „Übergreifendes Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, auf dieser Grundlage der Kinder- und Jugendhilfe einen neuen, durch Erkenntnisse aus der empirisch-quantitativen Bildungsforschung inspirierten Weg aufzuzeigen, wie sie der Forderung des Nachweises der Bildungsqualität ihrer Angebote begegnen könnte.“ (S. 14).
Autorin
Dr. Nina Preis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik sowie am Zentrum für Lehrerbildung der Justus-Liebig-Universität Gießen der Universität Osnabrück. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den folgenden Bereichen: Institutionelle Aspekte von Bildungsqualität, Beratungsforschung sowie Kooperation in ganztägigen Schulen.
Entstehungshintergrund
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine Dissertationsschrift der Universität Gießen im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften. Die Idee für das Dissertationsprojekt ist im Rahmen der Mitarbeit im Arbeitsbereich „formale, non-formale und informelle Lernumwelten“ des Nationalen Bildungspanel entstanden. Während der Mittelpunkt dieses Nationalen Bildungspanel die Dokumentation und Analyse individueller Bildungsverläufe über die Lebensspanne darstellt, widmet sich der Arbeitsbereich „formale, non-formale und informelle Lernumwelten“ den Lerngelegenheiten, die Menschen im Laufe ihres Lebens in zahlreichen formalen, non-formalen und informellen Lernumwelten eröffnet erhalten. Eine Grundannahme dieser Arbeitsgruppe ist, dass die erfolgreiche Nutzung dieser Lernumwelten nicht nur vom Nutzungsverhalten des Einzelnen abhängt, sondern nicht zuletzt auch von der Bildungsqualität dieser Umwelten.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung wird der Bildungsanspruch der Kinder- und Jugendhilfe mit der Notwendigkeit einer Erweiterung des formalen Blicks auf Bildung auf non-formale Bildungsprozesse begründet. Trotz der Kontroverse um den Bildungsanspruch der Kinder- und Jugendhilfe scheint sich mehr und mehr ein Bewusstsein darüber zu etablieren, dass auch ohne expliziten gesetzlichen Bildungsauftrag die Frage danach beantwortet werden muss, inwiefern die Kinder- und Jugendhilfe einen Beitrag zu einer umfassenden Bildung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien leistet.
Das zweite Kapitel mit dem Titel „Bildung als Thema der Kinder- und Jugendhilfe“ ergänzt diesen erweiterten Blick um die Problematik, wonach die neuen Aufgaben für eine bildungsorientierte Kinder- und Jugendhilfe die Orientierung an fürsorgebezogenen Leitlinien in Frage stellt. Kritisch wird in diesem Zusammenhang auch die implizite Annahme beleuchtet, wonach sich die Frage des Nachweises von Bildungsqualität ausschließlich auf jene Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe bezieht, die bereits eine bildungsbezogene Tradition aufweisen.
Im dritten Kapitel mit dem Titel „Erziehungs- und Familienberatungsstellen als Orte bildungsbezogener Fremdheit?“ wird das Bildungspotential dieses klassischen Angebotes der Kinder- und Jugendhilfe und die Notwendigkeit einer bildungsorientierten Neubetrachtung von Beratung herausgearbeitet.
Das vierte Kapitel mit dem Titel „Bildungsqualität formaler und non-formaler Kontexte“ widmet sich der empirischen Frage, wie sich die Qualität des herausgearbeiteten Bildungspotentials der Erziehungs- und Familienberatungsstellen sicherstellen lässt. Als zur Prüfung der Bildungsqualität geeignet werden die Dimensionen des aus der Unterrichtsforschung bekannten SSOC-Modell betrachtet: Struktur (structure), Unterstützung (support), Orientierung (orientation) und Herausforderung (challenge).
Im fünften Kapitel mit dem Titel „Der empirische Kontext: Erziehungs- und Familienberatungsstellen“ werden Struktur und Leistungsangebot der untersuchten Erziehungs- und Familienberatungsstellen genauer beschrieben.
Das sechste Kapitel mit dem Titel „Methodologische Grundlagen und methodisches Vorgehen zur Wahl eines explorativen Forschungsdesign“ begründet die Orientierung am qualitativen Forschungsparadigmas und weist die gewählten Methoden der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung aus. Die mittels Experteninterviews erhobenen und transkribierten Daten wurden computergestützt mittels einer inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse ausgewertet.
Im siebten Kapitel mit dem Titel „Bedeutung und Facettierung des Konstrukts ‚Bildungsqualität‘ in der Erziehungs- und Familienberatung“ sind die dimensional verorteten Ergebnisse der empirischen Studie hinsichtlich Orientierung, Struktur, Unterstützung und Herausforderung respektive Aktivierung dargestellt.
Das Kapitel „Abschlussbetrachtung“ widmet sich in einer abschließenden Diskussion der Frage, welche Impulse von der vorliegenden Studie ausgehen.
Diskussion
Ausgangspunkt der Prüfung der Bildungsqualität der Erziehungs- und Familienberatung stellt die generelle Frage nach dem Bildungsanspruch der Kinder- und Jugendhilfe dar. Die Kontroverse rund um diesen Bildungsanspruch wird verständlich nachgezeichnet und mittels pointierter Aussagen veranschaulicht, wie etwa jener von Winkler (2006): „Sozialpädagogik und Jugendhilfe [müssen] erst einmal begreifen, dass es in der aktuellen Bildungsdebatte gar nicht unbedingt um Bildung geht. Hier wird vielmehr ein neuer Typus von Kontrolle und Disziplinierung etabliert, hier geht es um die Abrichtung von Menschen für eine allerdings problematische Ökonomie (S. 154)“. Aus solchen Aussagen schält die Autorin anschließend analytisch versiert den Kern der vielfältig-kritischen Stellungnahmen zum Bildungsanspruch der Kinder- und Jugendhilfe heraus: „Die Angst vor der Reduktion (vermeintlich ausschließlich) sozialpädagogischer Fragestellungen auf einen kognitiv geprägten Bildungsbegriff als Folge gegenwärtig (noch) nicht wertfreier Anerkennung unterschiedlicher Bildungsformen“ (S. 22).
Aufgrund der nachvollziehbar dargelegten Forderung, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe der Frage nach dem Bildungsauftrag kaum verschließen kann, wird der Weg nun frei, um die Bildungsqualität der typischen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe zu klären. Statt sich hier allerdings auf vordergründig einfach zu erschließende Bildungspotentiale von Handlungsfeldern wie etwa der Schulsozialarbeit zu beschränken, wird mit der Erziehungs- und Familienberatung ein Handlungsfeld in den Fokus genommen, aus welchem sich die Bildungsqualität nicht unmittelbar erschließt. Diese Herausforderung kann insbesondere dank einer (Neu-)Betrachtung von Bildung als Grundkategorie von Beratung gemeistert werden: Die Autorin zeigt auf, dass auf konzeptioneller Ebene die disziplinären Bemühungen der Erziehungswissenschaft, Bildung als Kern von Beratung zu identifizieren, schön länger als die aktuelle Bildungsdebatte andauern. So verweist sie insbesondere auf einen richtungsweisenden Aufsatz Mollenhauers aus dem Jahr 1965 mit dem Titel „Das pädagogische Phänomen Beratung“, in welchem er den Beratungsvorgang als reflexives und verstehendes Gespräch etikettiert. Beratung ist damit mehr als die bloße Weitergabe von Informationen, sondern führe wie auch Bildung zu einer kritischen Aufgeklärtheit. Diese Suche nach der Bildungsqualität in der Beratung ist indessen nicht einfach der Meisterung einer Herausforderung geschuldet, sondern lässt sich von der Annahme leiten, dass „[…] durch die Bildungsimplikationen bisher unentdeckte Potenziale der Erziehungs- und Familienberatung systematisch sichtbar gemacht werden können und damit eine Perspektivenerweiterung zum bisher eng gefassten Verständnis dieses Felds von ‚Hilfe und Kontrolle‘ erreicht werden kann“ (S. 63).
Die Adaption des SOCC-Modelles auf die Erziehungs- und Familienberatung wurde deswegen als möglich erachtet, da bereits erste Ergebnisse zur Übertragung auf weniger formalisierte Kontexte vorliegen. Im Ergebnis der empirischen Untersuchung bestätigt sich dann auch diese Übertragbarkeit des Modells auf einen weniger formalisierten Bildungskontext, sofern die notwendigen Adaptionsleistungen erbracht werden können. Dieser Versuch ist als verdienstvoll zu betrachten, da sich die Frage nach dem Nachweis eines eingelösten Bildungsanspruches in der Kinder- und Jugendhilfe noch nicht wirklich schlüssig beantworten lässt. Als ermutigend ist daher die folgende Schlussfolgerung der Autorin zu betrachten: „Während bisher – aufgrund fehlender Messinstrumente – nur schwer nachgewiesen werden konnte, dass die Erziehung- und Familienberatung als exemplarische Vertreterin dieser ‚bildungsfernen‘ Seite der Kinder- und Jugendhilfe in der Lage ist, den Erwerb von sozialen und besonders personalen Kompetenzen zu fördern, konnte in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, dass die empirische Bildungsforschung mit dem SSCO-Modell ein Instrument bereithält, das geeignet sein könnte, dieses Forschungsdesiderat zu bearbeiten“ (S. 332).
Die sorgfältig durchgeführte empirische Studie mündet in der Erkenntnis, dass die Erziehungs- und Familienberatung zwar insbesondere durch ihre kompensatorische Funktion Legitimität erhält, aber sich darüber hinaus auch als selbstbewussten Bildungsort präsentieren kann, der die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten deren Klientel dahingehend verbessert, dass Entwicklung und Zusammenleben in der Familie möglich ist und bleibt. Die Bildungsqualität der Erziehungs- und Familienberatung sollte allerdings nicht isoliert, sondern als Teil einer weit gefassten Bildungslandschaft betrachtet werden.
Fazit
Die empirische Untersuchung zur Angebotsqualität der Erziehungs- und Familienberatung leistet einen wichtigen Beitrag zur raren erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit non-formalen Bildungsprozessen der Kinder- und Jugendhilfe. Interessant erscheint insbesondere auch der Versuch, der Beratung als dominante Handlungsart der Sozialen Arbeit Bildung gegenüberzustellen.
Die genaue Beschreibung der Untersuchung erlauben es der Leserschaft, das Vorgehen bestens nachvollziehen zu können. Die interessanten Ergebnisse sowie deren hervorragende Verortung im Fachdiskurs ermöglichen einen differenzierten Blick auf die Bildungsqualität der Erziehungs- und Familienberatung als vermeintlich bildungsfernes Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe.
Rezension von
Prof. Dr. Marius Metzger
Verantwortlicher Kompetenzzentrum Erziehung, Bildung und Betreuung in Lebensphasen am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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