Sigmund Freud: Briefe an Jeanne Lampl-de Groot 1921-1939
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 05.05.2017
Sigmund Freud: Briefe an Jeanne Lampl-de Groot 1921-1939.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2017.
150 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2568-5.
24,90 EUR.
Gertie F. Bögels (Hrsg.).
Thema
Der sich über viele Jahre erstreckende Briefwechsel, von dem leider nur die Briefe von Freud (70 ausgewählte von 76) und nicht die von Lampl-de Groot erhalten sind (letztere wurde auf ihren Wunsch von Anna Freud vernichtet), enthält neben Alltagssorgen, Gedanken über Publikationen und Kollegen und die Entwicklung der Psychoanalyse im Zusammenhang mit den Bedrohungen durch das NS-Regime. Freud zeigt in diesen Briefen ein sehr lebendiges, zupackendes, selbst- und fremdkritisches Interesse an persönlichen, politischen und theoretischen Entwicklungen.
Herausgeberin
Gertie F. Bögels war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Psychiatrischen Klinik der Universität Nimwegen und arbeitet z.Zt. als Psychiaterin, Psychoanalytikerin, sowie Dozentin und Supervisorin, und ist Mitherausgeberin der niederländischen Tijdschrift voor Psychoanalyse.
Entstehungshintergrund
Entstehungshintergrund ist die Bekanntschaft von Freud und Lampl-de Groot, die nach dem Medizinstudium 1922 bei Freud in Wien eine Ausbildungsanalyse begann und – mit Unterbrechungen – auch in den Folgejahren fortsetzte. Nach ihrer Heirat arbeitete sie seit 1925 in Berlin als Psychoanalytikerin. 1938 emigrierte sie mit ihrem jüdischen Mann nach Holland und hielt weiterhin bis zu seinem Tod 1939 engen brieflichen Kontakt mit Freud und war maßgeblich am Aufbau der Niederländischen Psychoanalytischen Vereinigung beteiligt und in internationalen Gremien – zahlreiche Veröffentlichungen zu psychoanalytischen Themen – bis zu ihrem Tod 1985 tätig.
Aufbau
In der Einleitung (3 S.) berichtet Gertie Bögels, dass sie 76 Briefe von Freud aus der Library of Congress in Washington und weitere Informationen von Jeannes Tochter und Schwiegersohn erhalten habe. Die Briefe von Lampl-de Groot wurden von Anna Freud auf ihren Wunsch 1939 vernichtet. Die Transkription (Sütterlinschrift) besorgte Gerhard Fichtner.
Gertie Bögels: Biografische Notizen (20 S.). Der persönliche und berufliche Werdegang von Jeanne Lampl-de Groot werden ausführlich beschrieben, ihre frühe Traumatisierung durch den Tod einer jüngeren Schwester und die anschließende Depression der Mutter, (die später noch einmal auftrat nach dem Tod einer 21 j. älteren Schwester von Lampl-de Groot,) konnten in der Analyse bei Freud aufgearbeitet werden. Der wachsende Antisemitismus in der Berliner Zeit erschwerte die weitere berufliche Entwicklung und führte 1939 mit ihrem jüdischen Mann und den zwei Töchtern zur Emigration nach Holland; diese war durch die inzwischen angenommene deutsche Staatsbürgerschaft nicht leicht.
Beruflich emanzipiert hat Lampl-de Groot die Familie, die praktische und wissenschaftliche Arbeit auch unter schwierigen politischen Bedingungen bewältigen und über die persönliche Freundschaft mit Freud und seiner Tochter Anna hinaus zahlreiche internationale Beziehungen anknüpfen können.
Die Briefe von Freud (72 S.) umfassen den Zeitraum von 1921 – 1939 und zeigen einen sehr modernen, aufgeschlossenen, kinderfreundlichen und -interessierten Freud: ‚Bei der heutigen Stellung er Geschlechter macht es keinen Unterschied, ob das Baby manifest männlich oder weiblich ist.‘ (S. 54). Er bezieht sich auf die enge Mutter-Kind-Beziehung angesichts der Tochter von Lampl-de Groot mit der Formulierung ‚… noch eins mit ihrem einzigen Objekt‘.-(S. 55), sieht Erziehung als ‚Mittelweg zwischen Gewährenlassen und Abhalten‘ (S. 56) und äußert Sympathie für die – noch – ‚einstöckigen‘ Kinder im Gegensatz zu den ‚mehrstöckigen‘ schwierigen Erwachsenen (S. 58) und fragt sich, warum beim Menschen die ‚Knospen immer so erfreulicher sind als die Blüten‘ (S. 67). Der Schmerz der älteren Geschwister gegenüber dem sich ankündigenden Jüngeren gehöre ‚zum Leben‘ (S. 60) dazu und solle einem Kind nicht erspart bleiben.
Freud kritisiert auch die ‚unmoralische Beziehung‘, (wenn ein ärztlicher Kollege sich für seine Arbeit nicht bezahlen lässt,) für ihn ein Grund zum Abbruch dieser Beziehung. Er trifft lockere Vereinbarungen, was Termine und Umlegungen anbetrifft, enthält sich nicht sehr persönlicher Mitteilungen auch im Hinblick auf körperliche Beschwerden auf seiner Seite und ehelichen Problemen auf ihrer (S. 69). Er schreibt über Unannehmlichkeiten des Alltags: ‚… wieder was los, was nicht sein sollte.‘ (S. 77) und über das Leid von Angehörigen: ‚Unsere Nächsten und Liebsten als Naturprodukte zu betrachten wie alles andere und die ihnen bestimmten Schicksale anzunehmen, ist vielleicht noch schwerer, als sich in die eigenen Schicksale zu finden.‘ (S. 78); er erwähnt die Probleme in allzu nahen Beziehungen (S.99), wenn psychische Erkrankungen, die ‚Idealität der Person‘ aufheben (S. 107).
Freud ist hart in seinem Urteil gegen über Kollegen: Reich und Fenichel werden als ‚bolschewistische Angreifer‘, bezeichnet (S. 71). Umsturz und Unordnung waren ihm verhasst (S.73), doch zeigte er als Ungläubiger auch Toleranz gegenüber Gläubigen: ‚Als Interjektion ist Gott doch nicht zu entbehren.‘ (S.75).
Er gibt Hilfen zu wissenschaftlichen Arbeiten: Theoretisches von Beobachtbarem trennen und warnt vor einem ‚Zuviel‘ an Gedanken (S. 97).
Politisch äußert er sich Ironisch und kritisch, dass im Programm von Hitler der einzige positive Punkt ‚die Judenhetze‘ sei (S.103). Er bezeichnet die Nazis als Räuber, da er die Erpressung von Hab und Gut 1938 nach dem erzwungenen Umzug nach London befürchtet (S. 118). Kritisch äußert er sich über Einsteins Beitrag ‚Warum Krieg‘ (S. 103) und hat vor 1938 noch Hoffnungen, dass sich Österreich politisch, unter Hinweis auf einen ‚bodenständigeren Faschismus‘ (S.114), anders entwickeln werde als Deutschland (S.108/9). Das ‚kulturelle Gewissen‘, Fremde gastlich aufzunehmen, sei oft nicht allzu entwickelt (S.113).
Die ‚Mosesarbeit‘ bezeichnet er als ‚Bruchstück‘ (S. 115) und äußert sich einerseits selbstkritisch ‚wie unvollständig doch alle meine früheren Analysen waren!‘ (S.119), andererseits auch überkritisch gegenüber Kollegen: ‚Eigentlich haben wir doch nur in Wien ordentliche Analyse getrieben‘ (S. 121), was möglicherweise auch mit der in London schwelenden Kontroverse um Melanie Klein zu tun hat (S. 122).
Der letzte Brief ist datiert vom 3. April 1939.
Ein Kommentar der Herausgeberin Gertie Bögels enthält Brieffragmente von Lampl-de Groot an ihre Eltern 1921-1923 (32 S.). Lampl-de Groot ist auf die finanzielle Unterstützung der Eltern angewiesen, um die Ausbildung und den Aufenthalt in Wien bestreiten zu können und muss dabei Überzeugungsarbeit leisten, die ihr umso leichter fällt, je intensiver sie selbst aufgrund eigener Erfahrung von der psychoanalytischen Methode überzeugt ist und auch Selbstvertrauen gewinnt, nicht nur selbst Patienten zu behandeln sondern – wenn auch zunächst schüchtern – eigene Beiträge zur theoretischen Themen zu leisten.
Schwierigkeiten würden wir heute mit der fehlenden Distanz zwischen Analytiker und Analysand haben, wenn Lampl-de Groot auf die Anfrage von Freud ihren offensichtlich großzügigen Vater um finanzielle Unterstützung für einen bedürftigen Patienten (der ‚Wolfsmann‘ wahrscheinlich) und für den Verlag bittet.
Wien ist für die junge Frau auch kulturell interessant (Theater. Konzerte, Museen), und offensichtlich findet sie nach einem eher ernüchternden Medizinstudium in der psychoanalytischen Tätigkeit eine Arbeit, die sie ‚außerordentlich interessiert‘, insbesondere da es offensichtlich auch in der Analyse bei Freud ‚dann und wann viel zu lachen‘ gibt.
Trotz Multinationalität im psychoanalytischen Verein (Amerikaner, Engländer, Schweizer, Deutsche) kriecht – nach Freud – ‚jede Nationalität in ihr eigenes kleines Eckchen‘: als einzige Holländerin somit ‚ein Eckchen für mich allein‘. Sie ist sehr mit Freud und seinen Ansichten identifiziert, z.B. auch mit der frühen altersgemäßen Aufklärung von Kindern, und empfiehlt ihrer Mutter, Freud zu lesen. Die Internationalität beschäftigt sie auch auf ihrem ersten Kongress in Berlin 1922. Sie spricht in den Briefen über Kollegen und, wenn auch anonymisiert, über Patienten. Sicherlich idealisiert sie eine Zeitlang Freud und die Psychoanalyse, was bei den Eltern Besorgnis und ihrem Ehemann unbegründete Eifersucht hervorruft, da es sich ganz zweifellos um ein sehr gutes Arbeitsbündnis handelt. Das zeigt sich auch in dem schönen Bild, das Freud für die Psychoanalyse gewählt hat, das sich aber auch auf das Unbewusste anwenden lässt: eine italienische Renaissancekirche, die im Laufe der Jahrhunderte verändert, aber dennoch in ihrem Kernbestand erhalten bleibt. Wissenschaft sei allerdings ‚kein Ersatz für einen Katechismus‘, müsse vielmehr ständig infrage stellen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Die Psychoanalyse sei eine Erfahrungswissenschaft, die dennoch der Theorie als Arbeitshypothese nicht entbehren könne (S. 158).
Sorge macht ihr bereits 1923 die politische Entwicklung in Deutschland und der Antisemitismus in Österreich.
Nachwort von Joachim Danckwarth (S. 6), der zunächst auf die Unterschrift Freuds ‚Herzlich der alte, taube XX‘ (1933) eingeht. Das ‚taube XX‘ wird von Dankwarth als religiöses Symbol der Taube interpretiert, die nach der Sintflut (Sündflut) die Erlösung mit einem Olivenzweig ankündigte, übertragen i.S. einer rettenden Inspiration. Er geht dann auf die Todestriebhypothese 1920 (Beginn der Arbeit mit Lampl-de Groot 1921) ein, die Gegenstand gemeinsamer Erörterungen wurde, an den Abschied von Anleihen bei der Biologie und die Diskussion über die Todestriebhypothese: „Die Bejahung – als Ersatz der Vereinigung – gehört dem Eros an, die Verneinung – Nachfolge der Ausstoßung – dem Destruktionstrieb“ (Freud 1925). Später entwickelt Freud jedoch aus der mit der Verneinung gekoppelten Symbolbildung – Verneinungssymbolbildung – positiv neue spielerische und gekonnte aggressive Handlungsmodalitäten.
Lampl-de Groot sei gleichzeitig Zeugin und Dokumentarin (in ihren wissenschaftlichen Arbeiten und in den Briefen an die Eltern) im Übergang von biologischen Tatsachen- zu hermeneutischen Erfahrungshypothesen gewesen, aber auch Autorin eigenständiger Beiträge, z.B. ‚Entwicklung des Ödipuskomplexes bei der Frau‘. Dankwarth weist auf die besondere Qualität dieser Dokumente i.S. einer entscheidenden Stufe in der Entwicklung psychoanalytischer Theorie hin und greift noch einmal auf die ‚Taubenhypothese‘ zurück: „Die Taube plündert niemanden aus“.
Diskussion
Es handelt sich um eine zeitgeschichtliche Dokumentation eines intensiven brieflichen Austausches über persönliche, theoretische und politische-soziale Probleme, die Freud als einen sehr lebendigen, an alltäglichen und gleichzeitig auch theoretischen Problemen und Fragen interessierten Lehrer, Freund und kritischen Begleiter zeigen, der mit wachem Interesse kindliche Entwicklungen beobachtet, kritisch sich selbst und Kollegen gegenüber die Fort- und Rückschritte in der Theoriebildung begleitet und aus der ironischen Distanz auch die Schwächen des ‚Programms‘ der Nazis beobachtet. Dass über manche Thesen – z.B. Todestriebhypothese – bis heute gestritten wird, entbindet einen nicht der Verantwortung, sich mit den Überlegungen von Freud auseinanderzusetzen.
Wer daran interessiert ist, Freud von einer sehr menschlichen privaten, fast familiären Seite, aber auch theoretisch und politisch an einem lebendigen Austausch interessierten Menschen näher kennenzulernen, dem ist dieses Buch zu empfehlen, auch wenn beim Lesen immer wieder frustrierend ist, dass man die andere Seite dieser Beziehung, die Briefe von Lampl-de Groot, leider nicht zu lesen bekommt.
Fazit
Ein zeitgeschichtliches Dokument, das einen lebendigen und anregenden Eindruck einer wohl für beide Seiten fruchtbaren Lehrer-Schüler- oder Analytiker-Analysand-Beziehung vermittelt.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 121 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 05.05.2017 zu:
Sigmund Freud: Briefe an Jeanne Lampl-de Groot 1921-1939. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2017.
ISBN 978-3-8379-2568-5.
Gertie F. Bögels (Hrsg.).
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22419.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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