Michael Klundt: Kinderpolitik. Eine Einführung in Praxisfelder und Probleme
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 23.05.2017

Michael Klundt: Kinderpolitik. Eine Einführung in Praxisfelder und Probleme.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2017.
248 Seiten.
ISBN 978-3-7799-3663-3.
D: 24,95 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 34,60 sFr.
Studienmodule Kindheitspädagogik.
Thema
Seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert, was unter dem Terminus „Kinderpolitik“ verstanden werden soll. Manche sehen darin
- eine Politik, die von Erwachsenen für Kinder gemacht wird,
- andere eine Politik, die von Erwachsenen mit Kindern gemacht wird,
- und andere sogar eine Politik, die maßgeblich von Kindern bzw. Kinder- und Jugendverbändenpraktiziert wird.
Ein wichtiges und viel diskutiertes Thema in diesem Zusammenhang ist, wie die Interessen und Rechte von Kindern am besten zu vertreten und welche Einrichtungen dafür erforderlich sind (z.B. als Beschwerdeinstanz bei der Verletzung von Kinderrechten). Mitunter wird auch von „Kindheitspolitik“ in dem Sinne gesprochen, dass sich Politik nicht auf einzelne oder Gruppen von Kindern bezieht, sondern Kindheit(en) insgesamt gestaltet.
Kontrovers wird auch diskutiert, ob Kinderpolitik eher als ein besonderer Politikbereich oder als Querschnittpolitik praktiziert werden soll. Dabei wird Kinderpolitik meist in enger Verbindung zu einer Politik für und mit jungen Menschen gesehen, die nicht mehr der Altersphase der Kindheit zuzurechnen sind, also auch als Jugendpolitik verstanden.
In diesen Diskussionen drücken sich verschiedene Vorstellungen darüber aus, worin die Ziele und Aufgaben von Kinderpolitik bestehen sollen. Meist wird ihre vorrangige Aufgabe darin gesehen, die Gesellschaft kinderfreundlicher oder kindgerechter zu gestalten, wobei wiederum verschiedene Vorstellungen darüber bestehen, was dies im Konkreten bedeuten soll. Unbestritten ist heute, dass Kinderpolitik sich an den Menschenrechten der Kinder – seit 1989 prominent verankert in der UN-Kinderrechtskonvention – orientieren und zu ihrer Verwirklichung beitragen muss. Dies gilt für den Schutz der Kinder (und Jugendlichen) ebenso wie für ihre Förderung und Partizipation in allen Angelegenheiten, die sie betreffen.
Kinderpolitik manifestiert sich auch in der Berichterstattung über die Lebensverhältnisse von Kindern, die sich in den letzten Jahren ausgeweitet und immer differenzierter geworden ist, wie zum Beispiel die von der Bundesregierung periodisch vorgelegten Kinder- und Jugendberichte. Diese waren bei ihrer Einführung Mitte der 1960er Jahre zunächst als amtliche Jugendberichte konzipiert. Seit Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (Sozialgesetzbuch VIII) Anfang der 1990er Jahre werden sie zu jeweils besonderen Schwerpunkten von einer unabhängigen Sachverständigenkommission erarbeitet und von einer Stellungnahme der Regierung begleitet. Dazu gehört die Entwicklung von Indikatoren, an denen die Qualität der Lebensverhältnisse von Kindern und die darin enthaltenen Unterschiede gemessen werden können.
Bis heute gibt es in Deutschland kein umfassendes Kinder- und Jugendgesetz, das sich durchgängig an den Menschenrechten der Kinder orientiert. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Kinderpolitik sind auf eine Vielzahl von Gesetzen verstreut und widmen sich jeweils nur Teilfragen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz orientiert sich zwar implizit teilweise an den Kinderrechten, betrachtet Kinder aber nicht als eigenständige Rechtssubjekte, sondern unter dem Aspekt ihres Hilfebedarfs. Auch im deutschen Grundgesetz sind Kinder bislang nicht ausdrücklich als eigenständige Rechtssubjekte anerkannt.
Mit dem Entwurf eines „Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen“ („Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG“) strebt die Bundesregierung seit Juni 2016 eine Reform des Kindschaftsrechts an. Trotz heftiger Kritik von Fachverbänden, die sich auch gegen die mangelnde Transparenz des Verfahrens richtet, soll das Gesetz noch in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden.
Zwar liegen zum Thema Kinderpolitik zahlreiche mehr oder minder gründliche Veröffentlichungen vor, aber es fehlte bisher eine kompakte und übersichtliche Einführung.
Aufbau und Inhalt
In der Reihe „Studienmodule Kindheitspädagogik“ des Verlags Beltz Juventa liegt mit dem Buch von Michael Klundt nunmehr erstmals eine kompakte Einführung in Praxisfelder und Probleme der Kinderpolitik vor. Das Buch versteht sich nicht nur als „Einführung für Studierende“ und andere Interessierte, sondern beansprucht auch, eine „(politik-) wissenschaftliche Grundlage der Kinderpolitik“ bereitzustellen. Der Autor ist als Professor für Kinderpolitik im Studienbereich Angewandte Kindheitswissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal tätig.
In Anlehnung an ein Konzept des Bundesjugendkuratoriums unterscheidet der Autor vier Typen von Kinder- und Jugendpolitik:
- Schutz- und Unterstützungspolitik,
- Befähigungspolitik,
- Teilhabepolitik und
- Generationenpolitik.
Sie liegen der Gliederung des Buches zugrunde und werden in insgesamt elf Kapiteln kritisch unter die Lupe genommen.
- In Kapitel 1 wird ein Überblick über die verschiedenen Handlungsfelder der Kinderpolitik gegeben. Es wird aufgezeigt, in welcher Weise sie den in der UN-Kinderrechtskonvention verankerten Kinderrechten verpflichtet ist und zu deren Umsetzung beitragen soll. Die drei folgenden Kapitel diskutieren die Aufgaben von Kinderpolitik als Teil von Sozial- bzw. Kinder- und Jugendhilfepolitik.
- Kapitel 2 ist dem Problem der Kinderarmut gewidmet. Der Autor versteht das Problem als Teil der wachsenden sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich und stellt die gesellschaftspolitischen Ursachen ebenso dar wie die psychosozialen Folgen für Gesundheit und Bildungschancen.
- In Kapitel 3 werden verschiedene Weisen des Umgangs mit dem Thema soziale Ungleichheit kritisch beleuchtet.
- In Kapitel 4 wird Kinderpolitik als Wohlfahrtspolitik definiert und in den Zusammenhang des im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsgebots gestellt.
Die beiden folgenden Kapitel diskutieren die Aufgaben von Kinderpolitik an den Schnittstellen von Familien- und Bildungspolitik.
- In Kapitel 5 setzt sich der Autor vor allem mit der Problematik des Betreuungsgeldes auseinander.
- In Kapitel 6 steht die mit der vorherrschenden Bildungspolitik einhergehende Reproduktion und Verschärfung sozialer Ungleichheit im Fokus.
In den folgenden Teilen des Buches widmet sich der Autor besonders intensiv Fragen von Teilhabe- und Generationenpolitik.
- In Kapitel 7 hinterfragt er die unter veränderten demografischen Bedingungen in den Vordergrund getretenen Diskurse um Generationengerechtigkeit.
- In Kapitel 8 zeigt der Autor die Schwierigkeiten auf, die sich bei der Bestimmung der Rechtsfigur des Kindeswohls stellen, und setzt sich mit den Ökonomisierungstendenzen in der Kinder- und Jugendhilfe auseinander.
- In Kapitel 9 diskutiert der Autor problematische Vorstellungen und Einwände gegen die Partizipation von Kindern und begründet unter Rückgriff auf den von Oskar Negt geprägten Begriff der Kinderöffentlichkeit, warum Kinder „selbstbestimmt die Akteure ihrer eigenen öffentlichen Beteiligung“ (S. 198) sein sollen.
- In Kapitel 10 versucht der Autor, teilweise unter Rückgriff auf internationale Entwicklungen, die Hintergründe und Reichweite periodisch auftretender Jugendrebellionen zu ergründen, und umreißt, welche Bedeutung ihnen auch für eine Rekonzeptualisierung von Kinderpolitik zukommt.
- In dem das Buch abschließenden Kapitel 11 betont der Autor, es sei die zentrale „Aufgabe wissenschaftlicher Kinderpolitik“, „die Handlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu erweitern“ (S. 220).
Den Buchkapiteln sind jeweils Fragen und Aufgaben angefügt, die Studierende dazu anregen sollen, ihr durch die Lektüre erworbenes Wissen zu überprüfen und zu eigenen Schlussfolgerungen zu gelangen.
Diskussion
Auch Darstellungen, die einen Überblick über Fachgebiete geben und als eine Art Lehrbuch dienen sollen, tragen immer die persönliche Handschrift ihrer Autoren, auch wenn oft so getan wird, als seien sie „neutral“. Im vorliegenden Fall macht der Autor keinen Hehl daraus, dass er mit seinem Buch Partei ergreift für ein bestimmtes Verständnis von Kinderpolitik.
Das Buch vermittelt sachkundige Einblicke in verschiedene Handlungsfelder und Problemstellungen des weiten und komplexen Feldes von Kinder- und Jugendpolitik und lädt zu intensiverer Beschäftigung mit speziellen Fragen ein. Die thematischen Schwerpunkte sind meines Erachtens klug gewählt und nachvollziehbar. Die gilt ebenso für die teils massive Kritik an bestimmten Tendenzen, z.B. an der Indienstnahme der Kinderpolitik für herrschende ökonomische Interessen, der propagandistischen Rede von Generationengerechtigkeit oder dem verbreiteten instrumentellen und oft scheinheiligen Verständnis von Kinderpartizipation.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob die „richtige“ Kinderpolitik so einfach „wissenschaftlich“ abzuleiten ist, wie der Autor anzunehmen scheint. Eine wissenschaftliche Untersuchung von Politik sollte sich meines Erachtens darauf beschränken, sie in ideologiekritischer Weise zu hinterfragen und auf die insgeheim mit ihr verfolgten Interessen abzuklopfen (was in dem Buch auch geschieht). Dies schließt nicht aus, Alternativen zu formulieren. Doch diese Alternativen sollten so präsentiert werden, dass sie selbst ihre Voraussetzungen kenntlich machen und hinterfragbar bleiben. Gerade weil ich die Auffassungen des Autors über eine notwendige Rekonzeptualisierung der Kinderpolitik weitgehend teile, hätte ich mir gewünscht, dass er auf den das Buch durchziehenden autoritativen Gestus verzichtet und seine Überlegungen in einer zum Dialog einladenden Sprache vorgetragen hätte. Ein behutsames Lektorat hätte dem Buch sicher gutgetan.
Fazit
Eine faktenreiche und kluge Darstellung von Grundfragen und Grundproblemen heutiger Kinderpolitik, die durch eine eher diskursive Sprache an Überzeugungskraft gewonnen hätte.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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