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Anna Schnitzer: Mehrsprachigkeit als soziale Praxis

Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 03.04.2017

Cover Anna Schnitzer: Mehrsprachigkeit als soziale Praxis ISBN 978-3-7799-1595-9

Anna Schnitzer: Mehrsprachigkeit als soziale Praxis. (Re-)Konstruktionen von Differenz und Zugehörigkeit unter Jugendlichen im mehrsprachigen Kontext. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 372 Seiten. ISBN 978-3-7799-1595-9. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.

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Thema

Das Buch gehört zum Bereich der Schul- bzw. Mehrsprachigkeitsforschung mit ethnografischen (und biografischen) Methoden. Die Feldforschung fand in gemeinsamen bilingualen Klassen eines deutsch- und eines französischsprachigen Gymnasiums in einer ungenannten Schweizer Stadt „an der Sprachgrenze“ statt, in welcher derzeit etwa 55% hauptsächlich Deutsch- und 30% hauptsächlich Französischsprechende leben.

Aufbau und Inhalt

Kapitel 1 („Einleitung: Mehrsprachigkeit aus ethnographisch-biographischer Perspektive“) behandelt verschiedene Zugänge zur Mehrsprachigkeitsforschung, Konzept und Fragestellung der Arbeit sowie den Aufbau des Buchs.

Kapitel 2 begründet die Entscheidung der Autorin zur Verknüpfung zweier Methoden in ihrer Studie: „Methodologie und Forschungsperspektive: ein ethnographisch-biographischer Zugang“.

Kapitel 3 („Methodische Vorgehensweise: beobachtete sprachliche Praxis und erzählte Praktiken“) beschreibt die Art der Datengewinnung und -auswertung.

Kapitel 4 („Feld und Kontext: mehrsprachiger Raum in der Schweiz“) beleuchtet die Situation in der Schweiz bzw. in der Stadt, in der die Schulen stehen, sowie die Gegebenheiten in den Schulen und ihren bilingualen Klassen.

Kapitel 5 („Positioniertheit im Feld: Die Sprach(zu)ordnung der Beobachterin“) untersucht die von der Autorin vorgenommenen Sprachzuordnungen der einzelnen Schüler_innen kritisch.

Kapitel 6 („Institutionelle Ordnung: Schule als strukturierender Rahmen und (Un)Möglichkeitsraum“) beschäftigt sich ausführlich mit den organisatorischen Bedingungen der beiden beteiligten Schulen sowie mit der Umsetzung ihrer bilingualen Klassen. Die Autorin hebt hier hervor, dass – wie im Deutschschweizer Schulkontext offensichtlich üblich – zwei Varianten des Deutschen verwendet werden: Schwyzerdütsch (insbesondere als heimische Umgangssprache) und Standarddeutsch (bevorzugt als Schulsprache, aber auch in „Schweizer Färbung“ als „zweite“ Umgangssprache). Für die Französischsprechenden bedeutet dies eine kommunikative Erschwernis, wenn sie in der Schule „Deutsch“ in zwei Varianten erleben, die sie aufgrund ihrer Verschiedenheit eigentlich jede für sich erlernen müssten. Die Autorin stellt fest, dass diese sprachliche „Triade“ durch das Konzept der Zweisprachigkeit verschleiert wird. Die Schüler_innen untereinander verwenden oft Mischungen aus allen drei Sprachen (Stichwort „Translanguaging“).

Kapitel 7 („Möglichkeiten der Adressierung, Positionierung und Differenzierung: (zu)ordnende Sprachpraktiken der Jugendlichen“) analysiert die sprachlichen Zuordnungen der Schüler_innen.

In Kapitel 8 („Sprachbiographische Verläufe und Konstruktionen von Mehrsprachigkeit“) analysiert die Autorin 5 Einzelinterviews mit Schülerinnen als Fallstudien sowohl bezüglich deren sprachlichen Lebensgeschichten als auch deren Auffassungen von „Mehrsprachigkeit“. Die Kapitel 6-8 enthalten jeweils ein abschließendes „Zwischenfazit“.

Kapitel 9 („Diskussion der Ergebnisse: Mehrsprachigkeit, Zugehörigkeit und Differenz“) beschreibt die schulorganisatorische Sprachgruppenzuweisung als formalisierten Kontext, von dem sich die Praxis der Jugendlichen in nichtformalisierten Kontexten doch deutlich im Sinn zumindest von Sprachmischungen unterscheidet. Dann geht die Autorin nochmals auf die Problematik der drei Sprachen Schwyzerdütsch – Standarddeutsch – Französisch – ein, speziell auch unter dem Gesichtspunkt von Sprachenhierarchien und ihren Auswirkungen auf deutsch- bzw. französischsprachige Schüler_innen. Sprachliche Zugehörigkeiten erscheinen als eine wesentliche Komponente des sozialen Lebens in der Schule.

Kapitel 10 („Fazit und Ausblick“) hebt nochmals den Unterschied zwischen der schulischen Organisation und der Schullebenswelt der Schüler_innen hervor und begründet die Kombination ethnografischer und biografischer Datengewinnung mit den erreichten Ergebnissen. Die Autorin gibt hier auch Anregungen zu weiterer Forschung.

Nach dem Literaturverzeichnis finden sich im Anhang die Transkriptionen einiger kurzer Gruppengespräche der Schüler_innen.

Diskussion

Die Autorin positioniert sich gegenüber Sprache, indem sie Monica Heller zitiert, welche „.against a notion of language as connected to but distinct from society and culture, and for a view of language as one form of social practice“ eintritt (S. 49). Damit schränkt sie die Interpretationsmöglichkeiten für ihre Studie von vornherein ein, da alle individuellen sprachlich-kognitiven Vorgänge monokausal als „soziale Praxis“ verstanden werden und keine Rücksicht auf die ausschließlich individuell existenten Wissens- und Sprachsysteme genommen werden kann. Hier wird eine meiner Meinung nach viel zu starke Zielorientierung der Studie auf Typisierung grundgelegt, welche sich im folgenden Zitat deutlich zeigt:

„Im Fokus stehen nicht Menschen mit ihren Handlungsmotiven, sondern ’[i]ndem man spezifische Figuren fokussiert, [...] kann man den sozialen Kontext analysieren, wenn man danach fragt, wie die Figuren hervorgebracht und verwendet werden (Breidenstein.)“ (S. 93). „Figuren“ ist lediglich ein anderes Wort für „Typen“. Hier stellt sich die Grundsatzfrage, ob man der Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit von Schüler_innen pädagogisch über die Konstruktion von fünf Typen (das sind die von der Autorin für Fallstudien ausgewählten Schüler_innen) – oder auch mehr – gerecht werden kann, während von den Schulen gefordert wird, der jeweils individuellen Entwicklung der Schüler_innen besonderes Augenmerk zu widmen (was die Autorin auf S. 176f selbst anspricht).

Eine durchgehende Praxis der Autorin ist, ihre Beobachtungsdaten im Sinn der Typenbildung verschärfend zu deuten: „Indem mit der Aufforderung zum Sprachwechsel eine der im Feld gesprochenen Sprachen – und zwar Französisch als die offizielle Unterrichtssprache, die gerade nicht von Sandra favorisiert wird – von Marine als die legitime Sprache aufgerufen wird, positioniert sich Marina als Verfechterin der Norm, während Sandras Sprachwahl als illegitim markiert wird. Mit der Aufforderung zum Sprachwechsel wird Marina selbst die Überlegene und Wissende, Sandra hingegen zur Übertreterin der Norm.“ (S. 180) Hier bildet Schnitzer implizit die von Bourdieu übernommene Vorstellung von Sprachverwendung als Machtausübung ab.

Obwohl die Autorin durchaus gute situative Beschreibungen bietet (etwa in den Kapiteln 6 und 9 zu den unterschiedlichen Bedingungen und den verschiedenen sprachlich-kommunikativen Erscheinungen im Schulalltag), gerät sie in der Anwendung der von ihr gewählten soziologischen Sichtweise oft in die Situation, jedwedes beobachtete Phänomen als Ausdruck starker sozialer Kräfte innerhalb eines einheitlichen und „logischen“ sozialen Systems zu deuten, dem alle Studienteilnehmer_innen unterliegen; z.B.: „Die Jugendlichen, aber auch die Lehrkräfte und die Beobachterin nehmen auf der Basis sprachlicher Differenzierungen vielfältige Positionierungen und damit Zugehörigkeitsmarkierungen vor. Über das Betrachten der exemplarischen Szenen konnten einzelne Aspekte dessen verdeutlicht werden, wie genau im Feld Sprachzugehörigkeiten als Ordnungsprinzip der bilingualen Schulklasse deren soziale Ordnung strukturieren.“ (S. 201) bzw. „Die Aushandlung von sozialen Gruppenpositionen im Feld erfolgt immer auch über sprachliches Positionieren und Positioniert-Werden. Dadurch werden fortlaufend Allianzen gebildet und Abgrenzungen vorgenommen.“ (S. 202). Oder: „Aus dieser Perspektive gelingt es, Machtbalancen als Grundprinzipien menschlicher Beziehungen und als fluide Prozesse in den Blick zu nehmen, die fortwährend neu verhandelt werden.“ (S. 206; dort wird auch Elias zitiert, der Macht als allgegenwärtige Struktureigentümlichkeit von menschlichen Beziehungen sieht).

Erstaunlicherweise hat die Autorin die von ihr geführten Gespräche mit Expert_innen nicht auf ähnliche Weise ausgewertet wie die Gespräche mit den Schüler_innen. Damit bleiben entscheidende Einflussfaktoren bzw. die Konstruktion der Mehrsprachigkeit durch Vertreter_innen der Schulverwaltung, Lehrer_innen und Wissenschaftler_innen unberücksichtigt; auch kann kein Vergleich zwischen den „Mehrsprachigkeitskonstruktionen“ der schulischen „Machthaber_innen“ und der Schüler_innen vorgenommen werden. Die Autorin selbst bietet nirgendwo ihre Vorstellungen zu Zwei- oder Mehrsprachigkeit unter verschiedenen Bedingungen an; ihren „machtorientierten“ Interpretationen fehlt somit ein mögliches Gegen- oder Vergleichsbild.

Bei den Fallstudien fällt etwas auf, was in vielen soziologischen Studien zu beobachten ist: Die von den Beobachteten im Rahmen von Interviews produzierten Texte werden von der Beobachterin auf eine Weise „ernst“ genommen, als wären sie endgültige, unveränderbare Feststellungen und als seien über sie die kognitiv-emotionalen Verfassung der beobachteten Individuen wie deren gesamte Wissensbasis klar zugänglich. Tatsächlich sind sie aber lediglich aktuelle Rekonstruktionen der Beobachterin im Rahmen der sozialen Praxis der Interviews. Beispiele: stockt der Redefluss der Beobachteten, wird das immer als Unsicherheit oder gar niedrige Darstellungskompetenz gewertet, nie als z.B. Nachdenkpause oder bewusste Korrektur. Oder eine Schülerin, die sich selbst als „schüchtern“ bewertet, wird von der Beobachterin zum Typ mit „einsprachiger Sprachlosigkeit“ uminterpretiert. Eine andere Schülerin wird zum Typ der „demonstrativen Einsprachigkeit“, obwohl sie dabei ist, sich in der zweiten Sprache zurechtzufinden. Die tatsächlichen sprachlichen Bedingungen, unter denen die fünf Mädchen der Fallstudie aufgewachsen sind, bleiben ausgeblendet. Damit ist keine Beurteilung ihrer tatsächlichen sprachlichen Ontogenese und ihrer Selbstzuschreibungen bezüglich Mutter- oder Familien-, Erst- oder Zweitsprache möglich, was die Aussagekraft der Interviewanalysen verringert. Dasselbe gilt für die Gruppendynamik der Klassen (vgl. etwa Raufelder, Diana T.: Die Bedeutung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses im Bildungsprozess – eine Ethnographie. Diss. Berlin 2006).

Meiner Ansicht nach ist die angewandte durchgehende Interpretation der Kommunikation im Schulalltag bzw. im Unterricht nicht angemessen: Die Autorin übersieht insbesondere, dass Schüler_innen im Unterricht nicht nur – bewusst oder unbewusst – gegenseitige Machtausübung suchen, sondern neben Konkurrenz auch Kooperation anstreben bzw. organisieren, um den Schulalltag gemeinsam zu bewältigen. Kooperationsmodelle werden – gerade im Bereich des Sprachenlernens – z.T. auch gemeinsam mit den Lehrer_innen entwickelt, ebenfalls im Interesse einer gemeinsamen „Zielerfüllung“. In der Beobachtungsweise der Autorin gibt es aber nichts Gemeinsames, keine Kooperation, keine Empathie, keine stabilen Freundschaften. Eine solche Vorgehensweise gefährdet die Vorteile der teilnehmenden Beobachtung, weil sie die Beobachtungen sehr schnell in ein Analyseschema presst, das – entgegen den Behauptungen der Autorin und den Anforderungen der ethnografischen Methode – weder offen noch durch Beobachtungen und Analysen veränderbar ist. Vergleiche ich gute Beobachtungsdaten der Autorin mit den darauf folgenden Interpretationen, wächst in mir der Verdacht, dass diese Interpretationen vielleicht eher durch eine bestimmte „soziale Praxis“ in universitären Arbeitsgruppen entstehen als durch die Beobachtungen selbst. Ein Indiz dafür ist das recht offene Kapitel „Fazit und Ausblick“, welches aus meiner Sicht den Widerspruch zwischen offener Beobachtung und rigider Deutung illustriert, der die ganze Arbeit durchzieht.

In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die Autorin auf die Diskussionen zur Krise ethnografischer Arbeit bzw. Repräsentation von Beobachtungen überhaupt nicht eingeht (auch wenn die Schulen im eigenen Land vielleicht nicht der Prototyp der „fremden Kultur“ sind). In der Literaturliste finden sich die Publikationen von Geertz oder Marcus & Clifford nicht; konstruktivistische Ansätze (vgl. etwa Honer, Anna: Lebenweltliche Ethnographie: ein explorativ-interpretativer Forschungsansatz am Beispiel von Heimwerker-Wissen. Wiesbaden: DUV 1993) werden zwar zitiert (Kalthoff, Kelle), aber in der Arbeit nicht wirklich erörtert (bezüglich der biografischen Methode fehlt z.B. Wohlrab-Sahr, Monika: Biographieforschung jenseits des Konstruktivismus? In: Soziale Welt 50 (1999), 483-494). Speziell mit Gymnasialschüler_innen hätte die Autorin – Lassiter folgend – auch Teile ihrer Texte (speziell die Fallstudien) zusammen mit den jeweils Interviewten schreiben bzw. diese zumindest mit diesen nachbesprechen können (vgl. Lassiter, Luke E.: The Chicago Guide to Collaborative Ethnography. Chicago University Press 2005).

Fazit

Ein Buch, das interessante Einblicke in die bilinguale Praxis einer höheren Schulen in der Schweiz gibt. Die Beobachtungen der Autorin und die transkribierten Texte der Schüler_innen vermitteln ein realistisches Bild der Situation. Die ethnografischen bzw. biografischen Interpretationen der Autorin sind leider zu einseitig an einem Konstrukt von „Sprache“ als Instrument der Machtausübung und sozialen Positionierung ausgerichtet. Auch wenn völlig klar ist, dass weder Sprachverwendung noch schulische Organisation von Zweisprachigkeit „neutral“ sein können, spielen neben Machtausübung und sozialer Positionierung viele andere Faktoren in der sprachlich-kommunikativen bzw. sozialen Praxis zweisprachiger Schulen eine Rolle. Diese zu ignorieren, bedeutet eine methodisch unangemessene Anwendung, weil zu starke Beschränkung des ethnografischen Verfahrens von Anfang an.

Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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Es gibt 80 Rezensionen von Franz Dotter.

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Zitiervorschlag
Franz Dotter. Rezension vom 03.04.2017 zu: Anna Schnitzer: Mehrsprachigkeit als soziale Praxis. (Re-)Konstruktionen von Differenz und Zugehörigkeit unter Jugendlichen im mehrsprachigen Kontext. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. ISBN 978-3-7799-1595-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22434.php, Datum des Zugriffs 17.09.2024.


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