Carlo Strenger: Abenteuer Freiheit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.03.2017

Carlo Strenger: Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2017. 122 Seiten. ISBN 978-3-518-07144-1. 14,00 EUR.
Angst isst Seele auf
Der Mensch ist ein in Freiheit und Menschenwürde geborenes Lebewesen. In der für alle Menschen gültigen „globale Ethik“ wird in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 eindeutig und nicht relativierbar postuliert: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Dieser Anspruch wird in der Menschheitsgeschichte und in der Gegenwart immer wieder missachtet, verleugnet und durch Machtmissbrauch von Menschen über Menschen mit Füßen getreten. Wer die Freiheit vermisst oder wem sie entzogen ist, spürt, je nach Aufgeklärtheit und Demokratieverständnis, dass ein wesentlicher Bestandteil seines Menschseins fehlt. Unfreiheit wird zur Unmenschlichkeit. Im individuellen und kollektiven Bewusstsein zeigt sich Freiheitswille (Jos Schnurer, Das sehnsuchtsvolle Verlangen der Menschen nach Freiheit: Freiheit, die ich meine, 25. 8. 2015, http://www.sozial.de).
Wo Freiheit fehlt entstehen Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Die Ideologie der Unfreiheit gründet auf Höherwertigkeitsvorstellungen, die sich in Rassismus, Nationalismus, Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Populismus ausdrücken. Das Anderssein in der Hautfarbe, von Weltanschauung, Einstellung und kultureller Identität wird zum Feindbild. Nicht selten ist es die Angst vor dem Fremdem und den Fremden, die Aggressionen und Gewalt erzeugen. In dem 2002 produzierten Kurzfilm „Angst isst Seele auf“, wird geschildert, dass der dunkelhäutige Mulu auf der Straße von einer Gruppe Rechtsradikaler angegriffen und zusammengeschlagen wird. Die Szene wird von mehreren Passanten beobachtet; doch, ob aus Angst oder Gleichgültigkeit, niemand greift ein. Erst als die Polizei eintrifft, gelingt es den Gequälten, in ein Haus zu fliehen, wo er von einer Mieterin in ihrer Wohnung aufgenommen wird. Das Gespräch zwischen den beiden ergibt, dass Mulu ein Schauspieler ist, der auf dem Weg ins Theater war. Er spielt die Hauptrolle in dem Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder: „Angst essen Seele auf“.
Angst entsteht aus Unsicherheit, und vor Gefahren, die tatsächlich und vermeintlich überall lauern. Wenn Angst nicht nur Individuen erfasst, sondern Gemeinschaften und Gesellschaften, entwickeln sich Gefühle, bei denen die Furcht das rationale und emotionale Leben der Menschen negativ beeinflussen können (Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18499.php). Mit der Suche nach den Gründen, wie Angst entsteht, benutzt wird und das menschliche Leben beeinflusst, beschäftigen sich Psychologen, Anthropologen, Pädagogen, Soziologen und Theologen. Die Stichworte reichen von der „Urangst“ bis zur „Todesangst“. Von besonderer gesellschaftlicher Relevanz sind die Ängste, die ideologisch gemacht werden (Erhard Oeser, Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21874.php). In der Psychoanalyse hat die Auseinandersetzung mit Angst und deren Pendant, dem Hass, eine besondere Bedeutung (Verena Kast, Wider Angst und Hass. Das Fremde als Herausforderung zur Entwicklung, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22454.php).
Entstehungshintergrund und Autor
Die „Furcht vor der Freiheit“ (Erich Fromm) ist ein zweischneidiges Schwert. Es stecken darin ganz unterschiedliche und konträre Fragestellungen, wie z. B.: Fürchtet sich das Individuum vor der Freiheit? Und: Fürchten die Machthaber die Freiheit? Eine mögliche Antwort darauf lautet: „Freiheit ohne Furcht“ (Bertrand Russel). Wir leben in unsicheren Zeiten! In der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt wäre (eigentlich) zu vermuten und zu hoffen, dass die Menschheit die Freiheit vor Willkür, vor Grenzen und Ideologien nutzt, um Freiheit für ein gutes, gelingendes Leben für alle Menschen auf der Erde zu erreichen. Doch die Wirklichkeiten in der Welt zeigen, dass im Gegenteil die Globalisierung zu Zwängen und ideologischen und existentiellen Unfreiheiten führt. Die Anhäufung von Macht und Gütern auf der einen, und die Ohnmächte auf der anderen Seite bewirken, dass die Frage, ob Freiheit eine Selbstverständlichkeit, oder ein Risiko und ein Abenteuer ist, bedeutsam wird.
Der in der Schweiz geborene und aufgewachsene Psychologe Carlo Strenger, lehrt an der Universität in Tel Aviv. Er meldet sich in objektiver, souveräner und kritischer Weise in den liberalen Medien in Israel zu Wort und mahnt, dass die Entwicklung der Menschheit sich nicht an den egoistischen, kapitalistischen, neoliberalen und nationalistischen Ideologien orientieren dürfe, sondern dass nur freiheitliche Bildung und Erziehung eine humane menschliche Entwicklung ermögliche. Er widerspricht der allgemeinen Tendenz, dass das Glück der Menschen auf der Straße liege und mühelos aufgeklaubt werden könne; vielmehr zeigt er auf, dass ein „gutes Leben“ mühsam und mit intellektueller Anstrengung erworben werden muss. Er agitiert gegen die scheinbare, seichte und selbstverständliche Leichtigkeit des menschlichen Lebens, das sich insbesondere im Bewusstsein der (westlichen) Konsumenten breit gemacht hat: „Business as usual“ und „anything goes“. Wie kommt diese Mentalität zustande, die anscheinend für ein „Must“ für die ganze Welt geworden ist?
Aufbau und Inhalt
Es sind die philosophischen und anthropologischen Grundlagen, die den Menschen als Freiheitswesen ausweisen. Die Positionen jedoch, wie diese Auffassung zu interpretieren und zu bewerten ist, basieren auf unterschiedlichen Annahmen: Während etwa im Sinne des Rousseau´schen Freiheits- und Selbstbestimmungsdenkens der Mensch als frei geboren, aber überall in Ketten liegend verstanden wird, aber dank seiner Vernunftbegabung fähig wäre, diese Ketten zu sprengen – wird Freiheit als ein Ziel verstanden, der von den Menschen lebenslang immer wieder neu und mühsam erworben werden muss: Jeder Mensch trägt tagtäglich die Verantwortung für eine menschenwürdige Gegenwart und Zukunft mit sich! In seinem Essay plädiert Carlo Strenger dafür, „der existenziellen Tragik unseres Daseins ins Auge zu sehen, das zwiespältige Geschenk der Freiheit anzunehmen und die westliche Kultur als etwas zu begreifen, das zu pflegen wir verpflichtet sind“.
Er gliedert seine Studie in zwei Teile.
Im ersten Teil setzt er sich mit der „Illusion der Glücksberechtigung“ auseinander, und
im zweiten Teil reflektiert er in ausgewählten Reflexionen und Konzepten über „modernistische Tragiker“.
Über allem steht die Sorge, dass „der Westen ( ) nicht über die geistigen und kulturellen Mittel (verfüge), um seine eigenen Grundwerte zu verteidigen“. Darin steckt die Frage, wie es gelingen könne, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie aufgeklärt sein wollen (Jos Schnurer, Wer philosophiert – lebt!, 28. 1. 2014, www.socialnet.de/materialien/174.php). Es sind die überkommenen und hergebrachten Ordnungsvorstellungen, die das Individuum an das Kollektiv binden oder von ihm befreien wollen; es sind die Ideologien und Weltanschauungen, die im freiheitlichen Denken und Handeln der Menschen ein Sakrileg sehen, wie dies etwa im islamistischen, fundamentalistischen Dschihad deutlich wird. Und es ist die legitime Herausforderung an den menschlichen Intellekt, sich gesellschafts- und kulturkritisch mit den geläufigen und zum Laufen gebrachten Entwicklungen auseinander zu setzen. Da ist eine kritische Nachschau darüber wichtig, wie sich Sicherheiten und Verunsicherungen in den nationalen und transnationalen Vergangenheiten heute darstellen, wirksam oder überwunden werden können; etwa mit Fragen, ob Universalität eine europäische Wirklichkeit oder Vision ist ( vgl. dazu: UNESCO-Kurier 7/8, 1992 ), oder wenn der Autor aufzeigt, wie sich das Unbehagen, gar der „Ekel am Westen“ entwickelt und zu seiner Analyse kommt: „Viele Menschen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften scheinen mit ihrer Freiheit nichts Sinnvolles anfangen zu können“.
Wenn „Freiheit als Konsumgut“ wirkt und „Politik zum Showbusiness verkommt“, sinken zwangsläufig Bewusstsein, Bereitschaft und Verantwortung für eine gelingende, lokale und globale Gemeinschaft, und es entstehen (ohne schlechtes Gewissen, sondern gewissermaßen selbstverständlich) Ohne-Mich-Standpunkte und populistische Einstellungen. Es wäre freilich zu einfach, und zudem auch falsch, wenn die Analyse „Wie wir geworden sind, was wir sind“, mit Begründungen oder gar Schuldzuweisungen an überzogene Utopien und unrealistisches, revolutionäres Gedankengut, etwa aus den 1960er Jahren, oder psychoanalytischen Figurationen erklären zu wollen; bedeutsam allerdings für alltägliches praktisch-philosophisches und psychologisches Deuten und Handeln ist es, die Frage danach zu stellen, wie wir als Individuen und Gesellschaftswesen das „wahre Selbst“ und die Erwartungen an die Vervollkommnung des Seins begreifen – als Dienstleistung, die abrufbar und zu liefern ist vom einer Institution, oder ob wir erkennen, dass das wahre Selbst nur „als das immer prekäre Resultat permanenter Arbeit am Selbst, als das Ergebnis eines andauernden existenziellen und mentalen Trainings“ zu haben ist.
Diese Analyse ist zu leisten, wenn sich der Blick auf die Apologeten richtet, die (im Westen) mit ihrem Versuch, „die menschliche Existenz unter den Bedingungen zivilisatorischer Hochgeschwindigkeitsentwicklung zu verstehen“, die Epoche des Modernismus initiiert und befördert haben. Die Auseinandersetzungen mit Charles Baudelaire und seiner Weltbetrachtung, die sich in seinem Gedicht „Die Blumen des Bösen“ artikuliert, mit Gustave Courbets provozierendem Gemälde „L´origine du monde“, mit Egon Schieles Angriff auf die traditionellen Seh- und Kunstgewohnheiten, wie auch mit dem Vorwurf der US-amerikanischen Kulturhistorikerin Camille Paglia, „wir Spätmodernen hätten weder mit der Natur noch mit dem Körper unseren Frieden gemacht“, greifen tief in das Vergangenheitsverständnis ein, das in der Gegenwart nicht nur Schleifspuren hinterlässt, sondern auch Furchen und Leitlinien für zukünftige Entwicklung bildet. Bei dieser „Abrechnung“ darf einer der wichtigsten und einflussreichsten Vertreter des Modernismus nicht fehlen: Sigmund Freud. Seine Annahmen, dass „der Mensch ein unmögliches Wesen ist“, dessen unterschiedliche evolutionären Schichten der menschlichen Psyche sich dauernd miteinander in Konflikt befänden, teilt zwar Strenger, doch er rät zur Vorsicht bei der allzu vereinfachenden bis logistischen Anwendung in Richtung auf die kognitiven Neurowissenschaften. Er lenkt den Blick auf die sichtlichen und real existierenden, körperlichen und geistigen Fehlentwicklungen (in den westlichen Gesellschaften), nämlich sich mit den Gefühlen von Leere und Unvollständigkeit auseinander zu setzen, und gleichzeitig der „Erwartung, Glück stehe jedem dauerhaft zu“, ohne selbst Wesentliches dazu beitragen zu müssen, ein Muss zum eigenen Denken und Handeln entgegen zu stellen. Es gilt auch, sich mit den gegensätzlichen Aporien, in denen sich die existenzialistische Tragik einer „Flucht vor der Freiheit“ verbirgt, zu beschäftigen und dabei die Janusköpfigkeit von Toleranz als Sollens- und Wollens-Haltung zu beachten.
Auch wenn das Dilemma bleibt, dass Freiheit eine vielschichtige und vielstimmige Anforderung an die Humanität der Menschen ist, darf aus der Gemengelage von Gewissheiten und Ungewissheiten, Aktivitäten und Widerständen, Wirklichkeiten und Utopien weder Usurpatismus noch Fatalismus entstehen. Die „konflikthafte Tragik der menschlichen Existenz“ ist kein Schicksal, sondern Einsicht. Damit ergibt sich die Chance, nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, wie wir die Angst vor der Freiheit, wie auch die Lust an der Freiheit human und menschenrechtlich miteinander in Einklang bringen können. Beispiele aus Kunst, Theater und Film bieten genug Gelegenheiten, gespielte Szenen über freiheitliches Denken und Handeln von Menschen als Mutmacher für die reale Auseinandersetzung mit Momentanismus und Vorstellungskraft zu begreifen.
Als einen Protagonisten für Freiheitsbewusstsein stellt Strenger den russisch-britischen Philosophen Isaiah Berin (1909 – 1997) vor, der in seinem Werk zwischen negativer und positiver Freiheit unterschied und seine Philosophie des Wertepluralismus der des (Neo-)Liberalismus entgegen setzte. Die Ideale der Aufklärung sind es, die den Menschen befähigen und es ihm ermöglichen, in Freiheit zu leben. Seine Aufforderung, Aufklärung nicht als „Heilslehre“ zu begreifen, sondern als Auftrag, ist heute aktueller und notwendiger denn je.
Fazit
Freiheit ist ein Abenteuer, keine Philippika, kein Damoklesschwert und keine Apokalypse, und schon gar kein Rezept! Freiheit als Chance und mit den Erfüllungen und Unzulänglichkeiten von Freiheit zu leben und daran mitzuarbeiten, dass Freiheit als Menschenrecht überall in der Welt verwirklicht werden kann, ist eine Kompetenz, die es als Bildungsauftrag und Lebenslehre zu verwirklichen gilt. Carlo Strenger verweist in seinem „Wegweiser für unsichere Zeiten“ auf zahlreiche Imponderabilien, historische Fakten, alltägliche und wissenschaftliche Diskurse und plädiert dafür, „der existenziellen Tragik unseres Daseins ins Auge zu sehen, das zwiespältige Geschenk der Freiheit anzunehmen und die westliche Kultur als etwas zu begreifen, das zu pflegen wir verpflichtet sind“. Es ist sicherlich keine Überspannung des Bogens, wenn die Verpflichtung, die „westliche Kultur“ zu bewahren und zu verteidigen, vom Rezensenten ergänzt wird mit „interkultureller und globaler Kultur“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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