Georg Vobruba: Krisendiskurs. Die nächste Zukunft Europas
Rezensiert von Prof. Dr. Marion Möhle, 12.09.2018

Georg Vobruba: Krisendiskurs. Die nächste Zukunft Europas. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 128 Seiten. ISBN 978-3-7799-3621-3. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 21,30 sFr.
Thema
Europa ist seit einiger Zeit in einer Krise, die sich nicht zuletzt durch die durch Flucht und Migration gestellten Herausforderungen manifestiert. Dabei stellen zum einen die Schengenkrise und zum anderen die Finanzmarktkrise für die Europäische Union große Belastungsproben dar. Hiervon ist die Europäische Integration insgesamt, aber auch das Verhältnis der EU zu den benachbarten Nicht-EU-Ländern sowie die Zukunft eines sozialen Europas betroffen.
Autor
Georg Vobruba ist Professor an der Universität Leipzig und forscht seit vielen Jahren zu den Themenfeldern Soziologie der Sozialen Sicherheit und Europasoziologie.
Entstehungshintergrund
Die Kapitel in diesem Werk sind zum Teil bereits im Vorfeld an anderer Stelle bereits publiziert und wurden für dieses Buch überarbeitet und erweitert.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in drei Teile, die jeweils mit markanten Überschriften versehen sind und so die dort versammelten Beiträge inhaltlich bündeln.
- Im ersten Teil finden sich unter der Überschrift „Sicherheit und Konflikt“ fünf Unterkapitel,
- im zweiten Teil werden unter der Überschrift „Krise und Integration“ vier Kapitel versammelt, während
- im abschließenden dritten Teil „Nachbarschaft und Grenze“ drei Aufsätze zu finden sind.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Zum ersten Teil
Die im ersten Teil versammelten fünf Kapitel zum Themenkomplex „Sicherheit und Konflikt“ haben teilweise eine dezidiert europäische Perspektive, analysieren das Thema aber auch aus theoretischer Perspektive.
Im ersten Beitrag widmet sich Georg Vobruba den Voraussetzungen für die Entstehung einer Europäischen Sozialpolitik. Hierzu wird zunächst eine Definition von Sozialpolitik aus soziologischer Perspektive gegeben. Daraufhin zeichnet der Autor knapp die historische Entwicklung staatlicher Sozialpolitik nach. Diese Darstellung hat vor allem die Intention, Schlüsselindikatoren herauszuarbeiten, die die Entstehung von Sozialpolitik im Allgemeinen ermöglicht hat. Diese dienen dann als Checkliste, um auf europäischer Ebene zu untersuchen, inwieweit es hier um die Voraussetzungen einer genuin Europäischen Sozialpolitik bestellt ist. Diese Checkliste besteht aus fünf Indikatoren wie z.B. Interessen der beteiligten Akteure, Organisationsstrukturen und sozialer Wandel.
Der zweite Beitrag rückt die Eurokrise unter dem Blickwinkel von Verteilungskonflikten in den Fokus. Hierzu zeichnet der Autor die Entstehung und Entwicklung der Eurokrise aus konfliktsoziologischer Perspektive nach. Dabei kommt er zu der Schlussfolgerung, dass in der Eurokrise die tiefe wechselseitige Verflechtung der EU-Mitgliedsländer zum Ausdruck kommt und insofern als „Manifestation Europäischer Gesellschaftsbildung“ (S. 39) zu interpretieren sei.
Den umstrittenen Eurobonds widmet sich der Autor im folgenden Aufsatz, wobei es sich hier um ein knappes Plädoyer für die Einführung von Eurobonds handelt.
Der nachfolgende Beitrag stellt Überlegungen hinsichtlich des ambivalenten Verhältnisses von Fremd- und Selbstbestimmung im modernen Sozialstaat an. Dabei zeigt er an einigen Beispielen die komplexe Verschachtelung von Fremd- und Selbstbestimmung auf.
Mit dem abschließenden Beitrag in diesem ersten Teil rücken abermals Fragen der Autonomie in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Hier geht es um das Verhältnis von Sozial- und Bildungspolitik, bei dem in den vergangenen Jahren die Tendenz zu beobachten war, individuelle Freiräume zu funktionalisieren. Dies führt der Autor an Beispielen wie der Reform der Beschäftigungspolitik (Fordern und Fördern) und der Standardisierung von Bildung aus.
Zum zweiten Teil
Im zweiten Teil sind unter dem Stichwort „Krise und Integration“ wirtschaftssoziologische Aufsätze zu europapolitischen Fragen versammelt.
So diskutiert Vobruba zunächst die soziologische Bedeutung von Krisen, bevor er den Verlauf der Eurokrise nachzeichnet. Im weiteren Verlauf dieses Beitrages diskutiert er die Ambivalenzen der Eurokrise, die sowohl gesellschaftsbildende als auch desintegrierende Effekte hat.
Der nächste Beitrag unternimmt den spannenden Versuch, die Folgen der Eurokrise für Griechenland mit der Transformation der DDR zu vergleichen. Dabei ermittelt er einige zentrale Indikatoren, die förderlich bzw. hinderlich für gesellschaftliche Transformationsprozesse sein können.
Im folgenden Beitrag nimmt sich Vobruba die These vor, dass die Eurokrise die Europäische Union insgesamt gefährden würde. Diese unterzieht er einer kritischen Betrachtung und kommt zu dem gegenteiligen Schluss, insofern er einen deutlichen Kompetenz- und Bedeutungszuwachs der EU-Institutionen verzeichnet. Allerdings stellen sich der EU mit dem Demokratiedefizit und den sozialen Verwerfungen in den von der Eurokrise besonders betroffenen Ländern zwei Herausforderungen, die sich künftig als schwere Belastungsprobe für die europäische Integration erweisen dürften.
Der folgende Aufsatz widmet sich der unmittelbaren Zukunft der europäischen Integration. Dabei nimmt er neben der Eurokrise auch die Schengen-Krise, die infolge der Flüchtlingskrise ab 2015 an Bedeutung gewann, in den Blick. Hier beleuchtet Vobruba diese beiden Krisen aus der Perspektive von Zentrum bzw. Peripherie der EU. Dabei sind die Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ sowohl geographisch als auch ökonomisch zu verstehen. Deutlich wird hier, dass mit den krisenhaften Erscheinungen der letzten Dekade das Kräfteverhältnis dieser beiden Akteure zueinander grundlegende Verschiebungen erfahren hat.
Zum dritten Teil
Der dritte Teil des Buches steht unter dem Titel „Nachbarschaft und Grenze“ und untersucht im ersten Beitrag die Dynamik der Europäischen Union in historischer Perspektive. Dabei unterscheidet Vobruba drei Phasen, wobei nur die ersten beiden klar umrissen werden können. So lässt sich die erste Phase als Expansionsphase benennen, die durch stetige Erweiterung der Anzahl der Mitglieder der EU charakterisiert war. Die darauffolgende Phase ist durch den Übergang von der Erweiterungspolitik zur Europäischen Nachbarschaftspolitik gekennzeichnet. Die dritte, aktuelle noch anhaltende Phase, ist durch das Ineinandergreifen von Eurokrise einerseits und Schengenkrise andererseits beeinflusst.
Im nachfolgenden Beitrag nimmt sich der Autor die soeben schon angerissene Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) vor, die bereits seit 2003 Teil der Außenpolitik der EU mit ihren Nachbarstaaten darstellt. Nach einer knappen Darstellung der ENP steht die Diskussion nach den Ursachen für ihren Attraktivitätsverlust im Zentrum der Betrachtungen. Hierfür wird neben der zunehmend konfrontativen Konstellation zwischen der EU und Russland vor allem der Arabische Frühling benannt, in dessen Folge Flüchtlingsbewegungen nach Europa ausgelöst wurden. Angesichts dieser Herausforderungen sieht Vobruba die Notwendigkeit, die ENP mit einem „neuen Realismus“ (S. 118) auszustatten, die neben den unmittelbaren Nachbarn auch die Perspektive der „Nachbarn der Nachbarn“ berücksichtigt.
Im abschließenden Beitrag nimmt der Autor den europäischen Krisendiskurs diesmal unter besonderer Berücksichtigung des Brexits in den Fokus – der, so sein Fazit, angesichts der Komplexität der beiden zentralen Krisen im Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie nicht als der vordringliche Krisenindikator für die EU zu werten sei.
Diskussion
Die in diesem Buch versammelten Aufsätze werfen aus verschiedenen soziologischen Perspektiven den Blick auf krisenhafte Erscheinungen in Europa und thematisieren nicht nur deren Ursachen und Folgen, sondern auch den Umgang mit ihnen. Angesichts dieser Komplexität wäre das sehr spannende Buch noch besser gelungen, wenn den drei klar betitelten Teilen jeweils knappe Einführungen vorangestellt worden wären. Damit hätten sich Zusammenhänge noch besser erschlossen.
Fazit
Für einschlägig vorgebildete Leser/innen aus Wissenschaft und Politik, die sowohl mit den Strukturen der Europäischen Union als auch mit der Soziologie des Sozialstaats vertraut sind, ist dieses Buch mit Gewinn zu lesen. Es bietet viele – teils auch provokative – Anregungen zur Debatte um die Zukunft des Sozialstaats und der Europäischen Union.
Rezension von
Prof. Dr. Marion Möhle
Hochschule Esslingen, Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
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Zitiervorschlag
Marion Möhle. Rezension vom 12.09.2018 zu:
Georg Vobruba: Krisendiskurs. Die nächste Zukunft Europas. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2017.
ISBN 978-3-7799-3621-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22487.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
Urheberrecht
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