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Jochen Oltmer: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 29.03.2017

Cover Jochen Oltmer: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart ISBN 978-3-8062-2818-2

Jochen Oltmer: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Theiss Verlag (Darmstadt) 2017. 288 Seiten. ISBN 978-3-8062-2818-2. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR.

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Das Jahrhundert der Flüchtlinge = Jahrhunderttausende der Migration

Es ist ein Gemeinplatz, dass der homo sapiens immer schon ein homo migrans war – und bleibt! Die geistigen und räumlichen Veränderungen des Menschen bewirken, dass der anthrôpos, der mit Vernunft ausgestattete, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigte und zwischen Gut und Böse unterscheidungsfähige Mensch lebens- und überlebensfähig ist. Dieses anthropologische Selbstverständnis wird im Prozess der Menschheitsentwicklung akzeptiert – und vergessen. Die Sesshaftigkeit des Menschen hat auch bewirkt, dass bei der Identitätsbildung und -entwicklung Unterscheidungen zwischen dem Ich und Wir und Du und Anderen vorgenommen werden. Die intellektuelle Erkenntnis, dass der Andere als der Fremde ich selbst bin wird immer wieder konterkariert durch Höherwertigkeitsvorstellungen, Fremdenangst und Xenophobie (Erhard Oeser, Die Angst vor dem Fremden. Die Wurzeln der Xenophobie, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21874.php). Der Wunsch – „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“ – ist ja grundgelegt für die Conditio Humana, wie sie im anthropologisch-philosophischen Denken (Jos Schnurer, Wer philosophiert – lebt!, 28. 1. 2014, www.socialnet.de/materialien/174.php) und im lebensweltlichen Handeln formuliert wird (Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Im wissenschaftlichen Diskurs werden die Urfragen – „Wer bin ich?“ und „Wer bist du?“ – immer wieder fachbezogen und interdisziplinär thematisiert. In der fächerübergreifenden Disziplin der Migrationsforschung wird den Phänomenen der Wanderungsbewegungen der Menschen eine große Aufmerksamkeit gewidmet. Die Fragen nach den Motiven von Ein- und Auswanderung, nach den Ursachen und Gründen von räumlichen Veränderungen sind immer eingebettet in die individuelle und kollektive Nachschau: „Wie bin ich geworden, was ich bin!“. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Faktoren von Migration hat also die Frage nach der Geschichte eine besondere Bedeutung.

Die Historische Migrationsforschung bringt die Phänomene zutage, die in der Menschheitsgeschichte von der Frühzeit der menschlichen Entwicklung, in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit durch die Wanderungsbewegungen bedeutsam waren und sind. Durch die Nutzung von Quellenmaterialien, Zeugnissen, Prozessen und Analysen werden Entwicklungen erkennbar, die sich als unterschiedliche Motivationen und Anlässe zeigen und die Frage beantworten können: Warum machen sich Menschen auf den Weg, weg von ihrer angestammten Heimat und hin in die Fremde, das Unbekannte und Hoffnungsvolle? Der Migrationsforscher Jochen Oltmer, Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (MIS) der Universität Osnabrück, vermittelt mit seinem Buch über die Geschichte der Migration „Einblicke in zentrale Muster der deutschen, europäischen und globalen Migrationssituation in der Neuzeit und insbesondere seit dem späten 18. Jahrhundert“. Weil Migration immer auf individuellen und kollektiven Motiven gründet, natürliche und menschengemachte Ursachen hat, auf freiwilligen und selbstbestimmten Entscheidungen beruht, von unfreiwilligen und Zwangsgründen bestimmt wird, müssen in der Migrationsforschung vielfältige Blickrichtungen beachtet werden. Der Fragenkatalog umfasst dabei zahlreiche Prozesse:

  • Migrationsziele, -hoffnungen, -strategien und -möglichkeiten.
  • Bewegungsrichtungen.
  • Netzwerkbindungen.
  • Erwartungen und Erfahrungen.
  • Bedingungen im Zielgebiet.
  • Individuelle und kulturelle Grundlagen.
  • Integrationsfähigkeit und -bereitschaft
  • Einwanderungs- und Migrationspolitik in den Aufnahmeländern.
  • Theorie und Praxis der gesellschaftlichen Informations- und Wissenskompetenz.
  • Ideologische und mediale Einflüsse.
  • Wirkungen von Migrationsprozessen auf die Daheimgebliebenen.

Mit der Studie soll erreicht werden, „durch den Blick auf lange Linien des historischen Wandels grundlegende Bedingungen, Formen und Folgen von Migration aufzuzeigen und auf diese Weise einen Beitrag zu leisten, wie Wanderungsverhältnisse der Gegenwart zu erklären und Perspektiven zu absehbaren migratorischen Zukunftsfragen zu entwickeln“.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einführung gliedert der Autor seine Arbeit in weitere acht Kapitel:

  1. Er fragt nach den Gründen, Motiven, Erscheinungsformen und Auswirkungen der Migrationsbewegungen.
  2. Er thematisiert die Wanderbewegungen in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in Amerika und Europa.
  3. Er zeigt die Massenmigration im „langen“ 19. Jahrhundert in Europa und in Übersee auf.
  4. Er setzt sich mit den Entwicklungen der Industrialisierung und der Agrarmodernisierung in der deutschen und europäischen Arbeitsmigration auseinander.
  5. Er verdeutlicht die durch den Kolonialismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entstandenen weltweiten Auswanderungsmotive.
  6. Er verweist auf die durch die Weltkriege im 20. Jahrhundert entstandenen gewaltsamen Flucht-, Vertreibungs- und Deportationsbewegungen.
  7. Er vergleicht die während des „Kalten Kriegs“ unterschiedlich entstandenen Ost-West-Entwicklungen mit den expandierenden Ökonomien im Westen.
  8. Und er analysiert die im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert sich darstellenden Entwicklungen der Ost-West-Migration, bis hin zur aktuellen globalen Flucht- und Flüchtlingsproblematik.

Insbesondere bei der historischen Betrachtung von unterschiedlichen Wanderungsbewegungen werden die zeit-, orts-, kulturell-, mentalitäts-, gesellschafts-, politisch- und ideologisch bedingten

Migrationsgründe und -motive erkennbar. Es sind die in der Migrationsforschung in besonderer Weise bedachten und beobachteten Push- und Pullfaktoren, die sowohl bei den Einwanderern wie auch bei den Eingesessenen unterschiedliche Aktionen und Reaktionen, spontane und institutionalisierte Organisationsformen, Anpassungs-, Integrations- und Separierungs-Entwicklungen bewirken.

Die Entwicklungen, wie sie etwa bei den freiwilligen wie aus Existenznot und auch gewaltsamen Verbringungen (Sklavenhandel) bestimmten Auswanderungen in die „Neue Welt“ und in wenig bevölkerte und entwickelte Gebiete in Europa entstanden sind und dadurch einen Bevölkerungswandel mit sich brachten, haben bei der Kennzeichnung der betroffenen Kontinente und Länder zu Klassifizierungen als „Einwanderungs- und Auswanderungsländer“ geführt. Der „Melting Pot“ USA etwa brachte einen neuen Typus von Bevölkerung, kultureller und Staatszugehörigkeit hervor. Die sich in diesem Einwanderungsprozess entwickelnden „Kettenwanderungen“ führten dazu, dass sich räumlich geschlossene Aufenthalts- und Siedlungsgebiete bildeten, wie etwa der „German belt“ von Ohio im Osten, Nebraska im Westen, Wisconsin im Norden und Missouri im Süden der USA. Diese historischen Wanderungsrichtungen und Standorte lassen sich auch bei den Einwanderungsbewegungen nach Europa und Deutschland identifizieren; wie etwa bei der Einwanderung von polnischen Arbeitern im Zuge der Industrialisierung in das Ruhrgebiet, bis hin zu den neuen Arbeitsmigrationsbewegungen.

Die durch Kriege, gewaltsame Umstürze, Revolutionen und weltanschauliche Konflikte entstandenen Vertreibungs- und Fluchtbewegungen insbesondere im 20. Jahrhundert, stellten die Aufnahmeländer vor enorme Probleme. Auch wenn die damaligen Situationen nicht unbedingt vergleichbar mit den aktuellen, globalen Fluchtkatastrophen sind, kann doch die Erinnerung, dass Ende des Zweiten Weltkriegs Deutschland rund 14 Millionen Flüchtlinge aufnahm, das Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung stärken: „Wir schaffen das!“; zwar unter anderen Voraussetzungen und Bedingungen als damals, aber gleichbedeutender menschlicher Not und humaner Verantwortung.

So ist es durchaus sinnvoll und berechtigt, wenn der Autor die zeitlich, politisch und existentiell unterschiedlichen Situationen von Wander- und Fluchtbewegungen in den verschiedenen Regionen der Welt in Beziehung bringt mit der Ost-West-Wanderung in Europa, und mit der globalen Flüchtlingsfrage heute und morgen. Es sind Veränderungsprozesse, die neben den erneut aufkeimenden nationalistischen, imperialen, hegemonialen, fundamentalen und populistischen Entwicklungen auch durch die Folgen des Klimawandels und der Umweltveränderungen zustande kommen. Sie appellieren an die „globale Ethik“, wie sie für alle Menschen gilt und mit dem Menschenrecht verbindet, dass jeder Mensch das Recht hat, ein gutes, gelingendes, friedliches, also menschenwürdiges Leben führen zu können.

Fluchtbewegungen sind meist langwierige und lang andauernde Prozesse, die von der Binnen- bis zur Außenwanderung reichen. Die Prognosen der (ungerechten) Weltentwicklung, wonach die Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden, zeigen, dass die Migrationsbedürfnisse vor allem der Benachteiligten immer größer werden – wenn es nicht gelingt, endlich einen individuellen und globalen Perspektivenwechsel zu vollziehen, wie ihn bereits die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren: kurz neue Lebensformen zu finden“. Die Voraussetzung dafür ist, dass sich bei den Menschen, lokal und global, ein Bewusstsein durchsetzt, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wie dies in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt (vgl. dazu auch: Carlo Strenger, Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22486.php).

Die schwierige, aber notwendige Auseinandersetzung mit dem Für und Wider von Ein-, Auswanderung und Flucht zeigt sich in dem Dilemma, dass der Zugewanderte für den Eingesessenen sowohl Bedrohung als auch Chance darstellen kann. Diese Klippen zu überwinden und eine reale Willkommenskultur zu entwickeln, stellt eine humane Herausforderung dar. Sie kann erreicht werden, wenn es gelingt, das Wissen über die ungerechten Zustände in der Welt zu erhöhen und ein Verantwortungsempfinden zu stärken, dass jeder Mensch, wo und wie er auch lebt, die Verantwortung für eine friedliche und gerechte, gegenwärtige und zukünftige EINE WELT mit und in sich trägt. Das kann ermöglicht werden durch Informationen und Kenntnisse, wie sich Wanderungs- und Fluchtbewegungen in der (neueren) Geschichte der Menschheit vollzogen haben, gelungen oder misslungen sind.

Fazit

Jochen Oltmer zeigt in seiner Studie über die Migrationsgeschichte mit der gelungenen und gleichzeitig den Intellekt des Menschen herausfordernden Untertitelung auf: „Geschichte und Zukunft der Gegenwart“. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir als Individuen und Gemeinschaftswesen geworden sind, was und wie wir sind, mit all unseren Egoismen und Schwächen, der Freundlichkeiten und Feindlichkeiten, von Empathie und Höherwertigkeitsvorstellungen gegenüber den Mitmenschen, erfordert ein aktives Dasein im Hier und Jetzt und im Morgen. Der Autor bietet zum Schluss seiner Analyse über die Geschichte der Migration sechs Denkaufforderungen an, die Handlungsmuster für ein verantwortungsvolles, friedliches Miteinander sein können. Die zahlreichen Beispiele aus der Migrationsgeschichte belegt Oltmer mit den im Anhang auf 47 Seiten ausgewiesenen Anmerkungen und Literaturhinweisen. Das Buch kann ein Bollwerk sein gegen die Kakophonien, Fake News, rassistischen, nationalistischen, fundamentalistischen und populistischen Argumentationen, die mit dem Finger auf den Flüchtling als den Schuldigen zeigen, ohne zu bedenken, dass beim Fingerzeiger immer drei Finger auf ihn selbst zurück verweisen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1672 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 29.03.2017 zu: Jochen Oltmer: Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart. Theiss Verlag (Darmstadt) 2017. ISBN 978-3-8062-2818-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22491.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.


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