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Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.03.2017

Cover Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie ISBN 978-3-518-42579-4

Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2017. 544 Seiten. ISBN 978-3-518-42579-4. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 36,50 sFr.

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„Wir bedenken, was wir wollen, nur eben in dem Augenblick, in dem wir es wollen“

Dieser paradigmatische wie gleichzeitig irritierende Ausspruch stammt von Michel de Montaigne, der von 1533 bis 1592 lebte und als Begründer der Essayistik gilt. Wer diesen Spruch heute benutzt, setzt sich damit auseinander, wie in den Zeiten des „Jetzt“ und des Momentanismus das Denken der Menschen eine Chance haben könne. Es ist die anthropologische und philosophische Erkenntnis, dass der anthrôpos, der Mensch, ein mit Vernunft ausgestattetes Lebewesen und in der Lage ist, selbst zu denken und nicht( nur) andere für sich denken zu lassen (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php). Mit Montaignes Satz lässt sich eine Biographie schreiben, die als Reflexion über das Jahrzehnte lange Suchen nach dem eigenen und gesellschaftlichen Gestern, dem erlebtem Heute und dem erhofftem, aber unbekanntem Morgen, der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer zu seinem 85. Geburtstag vorlegt. Mit der apodiktischen Benutzung des Lebenszeichens „Jetzt“ drückt der Autor und Literaturkritiker eine optimistische und ermunternde Einstellung aus, „nämlich die Gewissheit, ständig auf Unbekanntes zu stoßen, die Welt als nicht bekannte Zone fesselnd zu finden und daraus den Lebensimpuls… zu gewinnen“.

Es ist eine besondere Kompetenz, wenn Menschen den Rückblick auf das eigene Leben nicht in (überwiegender) Nostalgie, oder gar mit Versuch(ung)en vornehmen, die eigene Geschichte und die der Gesellschaft, in der man lebt, zugunsten des Ego und/oder gar einer Ideologie zu „verklittern“. Karl Heinz Bohrer gelingt das in erzählender Form, in der die Auseinandersetzung mit dem, wie er geworden ist, wie er ist, im Mittelpunkt steht. Es sei schon einmal vorweg gesagt, er bekennt darin, dass er das „Jetzt“ noch nicht gefunden hat, sich aber stetig und weiterhin darum bemüht, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft; denn die philosophische Erkenntnis, „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ adelt ihn. Unglaubwürdig, unehrlich und arrogant nämlich sind Menschen, die behaupten, sie wüssten die alleinige Wahrheit, die sie wie Monstranzen oder Fahnen vor sich hertragen (Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php).

Aufbau

Bohrer gliedert seine Erzählung in drei Teile, die er jeweils überschreibt mit Statements, die auf die inhaltlichen Ausführungen verweisen:

  • I/1 Die Blätter haben eine andere Farbe
  • I/2 Alles wurde fremd
  • I/3 Der tote Esel am Strand
  • I/4 Überall eine Bühne
  • II/5 Auch die Guillotine war plötzlich
  • II/6 Preußischblau
  • II/7 Der verschwundene Augenblick
  • II/8 Die Sonne, die Steine, die Götter
  • III/9 Und jetzt?

Inhalte

Nach dem Studium waren die Anfänge des jungen Redakteurs einer wichtigen und auflagenstarken Tageszeitung wie „ungewarnt ins Wasser schmeißen“, den Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Kennern, Könnern und Blendern in der Zeit der (west-)deutschen Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre. Das hierarchische wie konservative Ordnungssystem in der Redaktion funktionierte nach dem Prinzip: „Mögen sie uns hassen, wenn sie uns nur fürchten!“. Die seriöse, anerkannte Arbeit des jungen Redakteurs bewirkte bald, dass er die Leitung der Literatursparte („Literaturblatt“) übernahm und sich gewissermaßen „seine eigene moderne Philosophie“ zurechtlegte, aufbauend vor allem auf dem philosophischem Gedankengut von Walter Benjamin. Seine (Arbeits-)Kontakte mit Jürgen Habermas ließen ihn entdecken, „dass die Blätter sich nun wirklich färbten, die Revolution aber noch immer nicht kam“. Die Auseinandersetzungen bei den zahlreichen Begegnungen mit dem „Philosophen“, wie Bohrer Habermas meist benennt, und mit seinem „Gefolge“, werden beinahe anekdotisch, herzerfrischend bis sarkastisch geschildert; etwa seine Begegnungen mit Thomas Bernhard und vielen anderen, die mit ihren Begriffen, Parolen und Utopien handwerkten und in der konservativen Redaktion nicht ernst genommen wurden. Auch die Beschreibungen, die er bei dem zuvor stattgefundenem Wechsel vom „schwerfälligen“ Studienort Göttingen ins „prätentiöse“ Heidelberg gibt, seine Zweifel an der Studienrichtung – weg von der Literaturwissenschaft und hin zur Soziologie? – sein immer tieferes Eintauchen in die Faszination der Literatur, die eher hilflosen Versuche, die gelesene Romantik in die praktischen Phantasien der Liebe, oder eher doch von naivem Erfahrungserwerbs?, das war wohl eher etwas Vorübergehendes bei der Suche nach dem Faszinosum. Sartre, Camus

Die beruflichen Perspektiven für eine angedachte akademische Karriere in der Universität verflüchtigten sich immer mehr: Politischer Journalist und Auslandskorrespondent werden, so stellte sich die neue Zielsetzung dar; nicht zuletzt befördert durch die irritierenden Beobachtungen, die Bohrer bei einem Besuch im benachbarten Frankreich im Zusammenhang mit den Unruhen im französischen Departement Algerien und beim Algerienkrieg machte: „Es gab tatsächlich Dinge, die gingen über jede Erklärbarkeit hinaus, weil ihre Tatsächlichkeit einem so intensiv überfiel“. Seine Abarbeitung der (vermeintlichen) Verstricktheiten mit den revolutionären und ideologisierten RAF-Aktivitäten, den publizierten Vorwürfen durch die Zeitschrift „konkret“, das unerwartete und unerbetene Lob von Carl Schmitt, seiner späten Beschäftigung mit den Schriften von Ernst Jünger, die Eintritte von Enzensberger für eine gerechte (Dritte) Welt, Bernhards Gleichsetzungen von Surrealismus und Terrorismus, die symbolischen Tötungen des „schwarzen Stiers“ als Widerstand gegen Faschismus und Kapitalismus, all die Erlebnisse und Auseinandersetzungen bündeln sich in dem Bild des toten Esels am Strand bei Alicante, wo er seinem Schreib- und Reflexionstalent mit den historischen und aktuellen, ästhetischen und künstlerischen Entwicklungen in diesem Teil Europas, der einmal arabisch war, freien Lauf ließ.

Die Interna im „Schlangennetz“ der FAZ, die Bohrer im Zusammenhang mit dem Wechsel der Herausgeberschaft und insbesondere des Feuilletons zum besten gibt, machen deutlich, dass der Politikwechsel in der Republik ihn auch „zwischen zwei Feuer“ geraten ließ, „zwischen die radikale Linke und die alte Rechte“; was in der Redaktion auch dazu führte, dass er als Chef des Literaturblatts der Zeitung abgelöst wurde. Bezeichnenderweise nennt er seinen Nachfolger nicht beim Namen; vielmehr charakterisiert er ihn in Anerkennung und Achtung als „lauten Gegensatz zum langweiligen Ernst vieler westdeutscher Intellektueller. Er würde den gutbürgerlichen Lesern der Zeitung nach seinem Geschmack auftischen und sie dabei nach ihrem Geschmack beköstigen“. Ist es Resignation, wenn er feststellt: „Meine Zeit in Deutschland war zu Ende“?

Mit seiner Überschrift „Überall eine Bühne“ greift er seine Erlebnisse und Erfahrungen in London auf. Er erzählt von Affären und Arrangements in der britischen Society, und von den „Troubles“ im Nordirlandkonflikt, vom Fußball und seinen neuen Blick von außen auf Deutschland, der nicht nur seine Distanz zu seiner Zeitung erhöhte. Die Perspektiven, als neuer Herausgeber des „Merkur“ tätig zu sein, als „das beste, das einflussreichste intellektuelle Organ in deutscher Sprache“, beförderte die langgehegte, immer wieder verschobene Absicht, sich mit der Schrift „Die Ästhetik des Schreckens“, in der er die Diskussionen über Ernst Jünger und den Surrealismus aufnahm, in Bielefeld zu habilitieren und dort eine Professur zu übernehmen.

Das ist der Zeitpunkt, mit dem er im zweiten Teil die Zustände an den deutschen Universitäten thematisiert und insbesondere über die Aufbruchsstimmungen wie Querelen im damaligen „akademischem Mekka“, Bielefeld, erzählt. Es waren seine Veröffentlichungen, literarischen und politischen Beiträge im akademischem Diskurs, die seine Bielefelder Lehre und Forschung charakterisierten und mit dem Begriff „Plötzlichkeit“, als Titel einer 1981 verfassten Schrift mit dem Untertitel „Zum Augenblick des ästhetischen Scheins“ sowohl sein universitäres Wirken, als auch seine privaten Befindlichkeiten (Undine) beeinflussten. Die längst vollzogene Herausgeberschaft „seines“ Merkurs und die Einladung der Pariser École des Hautes Études zu einem auf zwei Jahre terminiertem Vorlesungsauftrag, die bescheidene Wohnung in Paris und das zeitaufwändige und anstrengende Pendeln zwischen Paris und Bielefeld dämpften die anfänglichen Euphorien, und mit den erfreulichen Begegnungen unter Freunden, wie auch den unerquicklichen Auseinandersetzungen mit den Gegnern seiner Forschungen und Lehre, haben bei Bohrer das Bild von der plötzlichen Guillotine aufkommen lassen.

Der unerwartete Mauerfall und die friedliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hat die deutschen Intellektuellen überrascht, auch Karl Heinz Bohrer. Die Tatsachen, wie auch die gewünschten, erwarteten, aber auch befürchteten zukünftigen Entwicklungen eines nunmehr in vieler Hinsicht größeren Deutschlands, forderten den Journalisten und Zeitdiagnostiker heraus. Seine Reaktionen und Analysen aber wurden, zur Überraschung und Irritation Bohrers, vom „Philosophen“ nicht geteilt, sondern mit einem Aufsatz in der Wochenzeitung DIE ZEIT mit dem Titel „Die andere Zerstörung der Vernunft“ konterkariert. Die scheinbare Beruhigung ob der Kontroversen in seinen Pariser Seminaren, die Auseinandersetzungen mit den Studierenden, Politikern, Künstlern, Bohemien und Bürgerlichen tilgten mehr und mehr sein „Preußischblau“ aus; und der „deutsche Pariser“ empfand sich immer öfter als „Nostalgiker“.

Zurück nach Deutschland, nach Köln, wurde im „Jetzt“ und im „Vergänglichen“ erneut zu einer Neuentdeckung, wie auch die Lust an der Lehre in Bielefeld. Sein Engagement bei „seinem“ Merkur (vgl. z. B. dazu auch: Heft 9/10, September/Oktober 2011, „Sag die Wahrheit!“, www.socialnet.de/rezensionen/12494.php), sein Hin und Her zwischen dem Rheinland und Paris, die gesundheitlichen Schwierigkeiten von Undine, die (vielleicht oberflächlichen) Verständigungen zwischen Deutschen und Franzosen, wie auch die mentalen und psychologischen Missverständnisse, die beim Pendeln zwischen den beiden Ländern, Mentalitäten und unterschiedlichen politischen Verfasstheiten deutlich wurden, lassen beim Autor (nostalgische) Gefühle entstehen, die er mit dem „verschwundene(n) Augenblick“ titelt.

Der Kampf Undines mit ihrer Krankheit, die sie ans Bett fesselte und ihre Lieblingsbeschäftigung, das Schreiben, nicht mehr möglich machte, das Diktieren ihres letzten Buches mit dem Titel „Hortus conclusus“, ein verschlossener Garten, der zum kontemplativen Aufenthalt einlädt, und schließlich ihr Tod am 3. Oktober 2002 in Paris, veranlassen Bohrer, sein letztes Kapitel im zweiten Teil seiner Biographie mit „Die Sonne, die Steine, die Götter“ zu titeln. Der Unermüdliche, Suchende brach danach erneut auf, um an der Stanford University in Kalifornien über Hölderlins Augenblicklichkeiten zu lehren und das vergangene und aktuelle „Jetzt“ damit zu konfrontieren; ein wichtiger Gesprächspartner war dabei Richard Rorty. Seine Zwischenstationen in London und seine Liaison mit seiner langjährigen Bekannten Angela konnten ihn nicht davon abhalten, nach Deutschland zurück zu kehren und sich erneut und in stärkerem Maße um den „Merkur“ zu kümmern; um damit (partei-) politisch und ideologisch wieder mit Kontroversen und Angriffen konfrontiert zu werden. Das Pendeln zwischen Berlin und London, die Gespräche, An- und Einsichten in anderes kulturelles und historisches Denken und Werten lassen – das klingt beinahe wie eine Alltags- und Allgemeinerfahrung – Einsichten entstehen, wie_ „Wer nicht im eigenen Land lebt…, dem werden das Alltägliche wie das Nichtalltägliche häufig symbolisch. Alles Sichtbare verlangt nach Deutung und verliert dabei die Fremdheit und Exotik, die ich in meiner Wahrnehmung doch so suche“. Und wieder Columbia, Stanford, New York und Palo Alto, mit den Begegnungen und fruchtbaren Kontakten und Gesprächen. Ist es die vielgesagte „Altersweisheit“, die den Unentwegten wieder zu den Göttern schauen lassen? Den griechischen in der Literatur und in der Philosophie?

Wenn es um die Frage „Und jetzt?“ geht, wird vielleicht jemandem, der Zeit seines Lebens „auf dem Sprung ins Fremde gelebt“ hat und dieses Fremde immer schon als Jetzt erlebt, eine Gegenwartsanalyse leichter fällen können als einem, der den Sprung über den Gartenzaun nie gewagt hat. „Das Fremde im Sinn von etwas Geheimnisvollem trat für mich erst dann hervor, wenn es mir im Bekannten erschien“; diese inter- und transkulturelle Erkenntnis wird ja pädagogisch und didaktisch in dem Satz erkennbar: „Der Fremde bin ich selbst!“. Bohrer wäre nicht er, wenn er seine Kritik, seine Analysen und Bewertungen des deutschen „Jetzt“, angesichts der weltweiten Flüchtlingskrisen und der populistischen, nationalistischen und rassistischen Reaktionen, nicht auch moralisch zu erklären versuchte und Verständnis dafür aufbringen würde, wie dies z. B. Herfried und Marianne Münkler tun (Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21453.php).

Fazit

Das „Plötzliche“ und das „Jetzt“ steht im Mittelpunkt der Bohrerschen Biographie. Das Ineinandergreifen von individuellen, persönlichen Begebenheiten und Erfahrungen mit lokal- und globalgesellschaftlichen Entwicklungen machen die Erzählung nicht zu einer Lektüre für den Nachttisch; und zwar nicht nur nicht deshalb, weil der Autor in mehreren Fällen die Namen seiner Protagonisten und Figuren nicht nennt, sondern sie ausführlich charakterisiert und damit kenntlich macht, sondern auch, weil die beschriebenen, geschichtlichen und aktuell-politischen Zeitläufte, Ereignisse und Begebenheiten für die nichtfachliche Leserschaft nicht immer präsent und bekannt sein dürften und eine bibliographische Nachschau notwendig machen.

Das ist kein Manko, sondern eine intellektuelle Herausforderung. Wer sich darauf einlässt, gewinnt eine Fülle von neuen Informationen und Erkenntnisse, nicht nur, wie Karl Heinz Bohrer sondern auch wir geworden sind, was wir sind!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 28.03.2017 zu: Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2017. ISBN 978-3-518-42579-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22496.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.


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