Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Tim Rathjen: Zeit- und Einkommensarmut in Deutschland

Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 07.09.2017

Cover Tim Rathjen: Zeit- und Einkommensarmut in Deutschland ISBN 978-3-8487-3996-7

Tim Rathjen: Zeit- und Einkommensarmut in Deutschland. Multidimensionale Analysen mit Zeitverwendungsdaten. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2017. 285 Seiten. ISBN 978-3-8487-3996-7. D: 59,00 EUR, A: 60,70 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Der Armutsdiskurs behandelt Armut weithin als eindimensionales Konstrukt. Sie wird gemessen am Nettoeinkommen. Wer in der EU über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verfügt, gilt als ‚armutsgefährdet‘. Aber so wie die Wohlfahrt eines Landes nicht nur über das Einkommen gemessen werden kann, so lässt sich auch der Armutsbegriff in anderer Weise operationalisieren. Die US-amerikanischen ‚working poor‘ mögen sich – gemessen an ihrem Einkommen – gerade noch hinlänglich finanzieren können, ihre prekäre Lebenssituation, in der sie zwei oder drei Beschäftigungen nachgehen, wird aber zutreffender abgebildet, wenn nicht nur das Einkommen sondern auch die verfügbare Freizeit als Indikator verwendet wird. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Zeitarmutsmessung und besonders mit der Kombination der beiden Armutsindikatoren Zeit und Einkommen.

Entstehungshintergrund

Der Autor hat bei seinen Analysen weniger die amerikanischen Verhältnisse als die der hiesigen Freiberufler vor Augen, deren Selbstausbeutung bei oft geringen Erträgen bekannt ist. Das Buch ist aus einem Dissertationsprojekt hervorgegangen, das am Forschungsinstitut für Freie Berufe an der Leuphana angesiedelt war.

Aufbau

Der Aufbau ist der einer typischen empirischen Promotionsschrift. Etwa die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich den theoretischen Grundlagen zum Thema. Hier geht es um die Armutstheorie und die multidimensionale Messung der Armut. Besonders wird auf die Messung mithilfe der Dimensionen Zeit und Einkommen eingegangen. Aus einem Integrationsmodell, das diese Dimensionen kombiniert, werden Hypothesen abgeleitet, die empirisch geprüft werden sollen.

Im empirischen Teil der Arbeit wird einleitend die Methode der Ermittlung der integrierten Armutsgrenze erläutert. Im Anschluss wird die Datengrundlage aus mehreren Erhebungen dargelegt, die den folgenden umfangreichen empirischen Analysen zur Einkommensarmut, zur Zeitarmut und zur ‚interdependenten multidimensionalen Armut‘ zugrunde gelegt wird. Den Abschluss bildet eine ausführliche Zusammenfassung mit einem Ausblick auf weitere Forschungsfragen und auf die politische Dimension der Zeitarmut.

Inhalt

Kapitel 1 führt in die Thematik der Forderung nach einer mehrdimensionalen Betrachtung der Armut ein. Es hebt die Bedeutung der Freizeit für die soziale Teilhabe hervor und konstatiert ein relatives Defizit bei der Berücksichtigung der Zeitdimension. Als Ziel der Arbeit wird eine schlüssige Integration der Zeitdimension in ein mehrdimensionales Konzept der Armut formuliert.

Ein Rezeptionsvorschlag für den ‚eiligen Leser‘ findet sich auf p. 21.

Kapitel 2 geht zuerst auf klassische Armutskonzepte und Armutsindizes ein. Hier werden ausführlich Zeit und Einkommen als Dimensionen in einem multidimensionalen Ansatz dargestellt. Der dann weiter verwendete Ansatz wird zu einer Definition des integrierten Konzeptes zusammengeführt (p. 94 ff.). Um eine zu große Komplexität zu vermeiden, wird dabei für die Einkommensarmut von dem in Deutschland eingeführten Standard ausgegangen, der für die Definition der Zeitarmut analog übertragen wird: Zeitarm ist, wer weniger als 60 Prozent des Medians der verfügbaren Zeit in der Bevölkerung hat. Persönliche Zeit ist Restzeit nach Abzug der Zeit für Erwerbsarbeit, Haushalt, Kinderbetreuung und persönliche Bedürfnisse wie Schlafen und Essen (p. 97 f.). Die Kombination der beiden Dimensionen führt dann zu einem interdependenten Modell, bei dem sich in einem gewissem Grad Zeit und Einkommen gegenseitig ausgleichen können. Eine mathematische Modellierung erfolgt durch eine CES-Funktion, die in den Wirtschaftswissenschaften häufig verwendet wird. Mit ihr wird eine interdependente multidimensionale Armutsgrenze (IMDAG) konzipiert. Zur Prüfung des Konzepts werden zum Abschluss des Kapitels mehrere Hypothesen zum Zusammenhang von Geschlecht, Alter, Schulabschluss, Berufsstatus, Wochenarbeitszeit u.a. formuliert. Für Frauen wird beispielsweise die Hypothese aufgestellt, dass sie unabhängig vom Einkommen eher von Zeitarmut und damit auch von interdependenter multidimensionaler Armut betroffen sind.

Kapitel 3 geht auf methodische Fragen ein. Vor allem ist die Art des Substitutionsverhältnisses zwischen Zeit und Einkommen zu bestimmen. Der Autor entscheidet sich für einen empirischen Weg (p.108), bei dem die entsprechenden Parameter aus empirischen Bevölkerungsdaten (der wenigstens 300 Minuten täglich Beschäftigten) zur Lebenszufriedenheit geschätzt werden.

Kapitel 4 beschreibt die Datensätze, die für die Untersuchung verwendet werden. Es sind Daten der Zeitbudgeterhebung, die das Statistische Bundesamt 1991/92 und noch einmal zehn Jahre später mit der Technik der Tagebucheinträge im Auftrag des BMFSFJ erhoben hat, sowie Daten des sozioökonomischen Panels des DIW von 2002.

In Kapitel 5 werden dann die Ergebnisse der Datenanalysen vorgelegt. Der Median der persönlichen Freizeit betrug 1992 215 Minuten pro Tag und erhöhte sich bis 2002 auf 240 min. Die Zeitarmutsgrenze lag demnach bei 129 bzw. 144 min (p. 188). Die durch empirische Verankerung ermittelte IMDAG weist für einen Ein-Personenhaushalt am Grenzwert sowohl der Einkommens- als auch der Zeitarmut eine Substitutionsbeziehung auf, bei der eine Stunde Freizeit dem Betrag von 8,60 entspricht, was im Blick auf den Stundenlohn der Betroffenen als plausibles Ergebnis gewertet wird (p. 202). Zeit- und einkommensarm waren 1992 1,6% der arbeitenden Bevölkerung, 2002 waren es 1,7%; im internationalen Vergleich war es hier möglich, eine Parallele zu Großbritannien zu ziehen, hier liegen die Verhältnisse ähnlich, die Rate der mehrdimensional Armen – allerdings im erwerbsfähigen Alter, nicht unbedingt erwerbstätig – lag 2008 bei 1,6%.

Zentral sind die Befunde, bei denen für die arbeitende Bevölkerung die Raten der Personen ermittelt werden, denen die Kompensation von Zeit durch Geld und umgekehrt möglich ist. Hier zeigt die Auswertung der Datensätze für die berufstätige Bevölkerungsstichprobe 1992 einen Anteil von 1,9% (2002: 1,8%) Einkommensarmer, die diesen Mangel durch Zeit ausgleichen können, während 21,1% (24,8%) zeitarme Probanden ihren Mangel durch Geld ausgleichen können. Weiter werden Untersuchungen referiert, die Erklärungen für interdependente Armut liefern. Ein Ergebnis weist zum Beispiel Paare mit mehreren Kindern oder mit Kindern unter sieben Jahren als besonders zeit- und einkommensarm aus.

Diskussion

Der Autor berichtet von der erfolgreichen Entwicklung und Validierung eines mehrdimensionalen Modells der Armutsmessung. Das Modell ist an heute bereits historischen Daten entwickelt worden, eine Anwendung für eine aktuelle Armutsberichterstattung steht damit noch aus. Der Ansatz kann zunächst leicht für sich einnehmen. Die Berücksichtigung mehrerer Dimensionen erscheint gegenüber einfachen Ansätzen immer logisch überlegen. Die pragmatischen Vorteile der Einfachheit gehen dabei allerdings verloren. So ergibt sich zum Beispiel der Nachteil, dass keine einfache Nachvollziehbarkeit mehr besteht. Zwar hat der Autor versucht, sein Modell im Rahmen von vertrauten Vorgaben zu konzipieren, trotzdem setzt das Ergebnis für den Nachvollzug eine Menge an Oberstufenmathematik voraus. Freilich sind Armutsberichte Elaborate von Experten, deren Entstehung nicht für Laien nachvollziehbar sein muss. Wichtiger ist die Verstehbarkeit der Ergebnisse. Hier entwickelt der Autor eine einleuchtende Technik der grafischen Aufbereitung mit einer sektoriellen Beschreibung, die für eine untersuchte Population die jeweils Betroffenen der beiden Armutsdimensionen darstellt, daneben die Betroffenen im Kombinationsbereich und zudem diejenigen, denen eine Substitution der einen Armut durch die andere möglich oder unmöglich ist (p. 206 f., 209).

Ein anderer Aspekt, der den Wert der multidimensionale Betrachtung etwas relativiert, ist der Geltungsbereich der zugrundeliegenden Dimensionen. So ist die Zeitdimension für Rentner anders einzuschätzen als für Arbeitnehmer. Aus diesem Grund werden zur Bestimmung der zentralen Parameter auch nur die Datensätze der arbeitenden Bevölkerung herangezogen. Dabei gibt es aber sicherlich einen erheblichen Anteil zeitarme Senioren, die ihre Zeit in einem sehr hohen Ausmaß für die Erhaltung ihrer Gesundheit und Selbstständigkeit aufwenden müssen. Für diesen qualitativen Unterschied ist das Modell aber blind.

Für die Lebenssituation einzelner Gruppen – Freiberufler oder kinderreiche Familien – bietet das Modell aber eine neue Möglichkeit einer integrierten Beschreibung, die auch für die Sozialpolitik handlungsleitend sein kann. Wie weit die Armutsberichterstattung davon Gebrauch machen wird, bleibt abzuwarten.

Fazit

Das Buch bietet einen interessanten Beitrag zu einem alternativen Modell der mehrdimensionalen Armutsmessung mit der verfügbaren Freizeit als zweiten Indikator. Es ist eher für Spezialisten der Armutsforschung und der Sozialpolitik geeignet.

Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
Website
Mailformular

Es gibt 35 Rezensionen von Carl Heese.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 07.09.2017 zu: Tim Rathjen: Zeit- und Einkommensarmut in Deutschland. Multidimensionale Analysen mit Zeitverwendungsdaten. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2017. ISBN 978-3-8487-3996-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22515.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht