Michael May: Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen
Rezensiert von Prof. Michael Rothschuh, 28.09.2017
Michael May: Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen. Ein theoretischer Begründungsrahmen.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2017.
192 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2017-0.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 31,60 sFr.
Beiträge zur Sozialraumforschung, Band 14.
Thema
„Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen“ wird von Michael May deutlich gegenüber einer „Arbeit im Gemeinwesen“ abgegrenzt. Auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit der philosophischen, gesellschaftswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Begründung von Gemeinwesen soll Soziale Arbeit als Förderung der Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens konzipiert werden.
Autor
Michael May (*1956) ist Diplom-Pädagoge, Doktor der Philosophie und hat für das Fach Erziehungswissenschaften habilitiert; er ist Professor an der Hochschule Rhein-Main. Seine Themenfelder sind u.a. Sozialraumentwicklung und -organisation, Jugendarbeit, Jungenarbeit und Jugendforschung. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Widersprüche.
Entstehungshintergrund
Im Vorwort erinnert der Autor an eine Kontroverse mit Wolfgang Hinte (*1952) im Handbuch Sozialraum aus dem Jahr 2005 über Mays Formulierung „Arbeit am Gemeinwesen“. „Hintes Kritik am ‚konzeptionell verschwommenen Niveau‘ (…) einer solchen Zielbestimmung will dieses Buch begegnen“, schreibt May. Ziel ist es, mit einem „philosophischen Diskurs um den Gemeinwesen-Begriff konkrete Ansatzpunkte für eine Arbeit am Gemeinwesen zu gewinnen“ (S. 11).
Seine Publikationen zur Gemeinwesenarbeit – in dem zu besprechenden Band spricht er vorrangig von „Arbeit am Gemeinwesen“ – reichen zurück bis 1997 zum programmatischen Aufsatz: „Gemeinwesenarbeit als Organisierung nicht nur von Gegenmacht, sondern auch von Erfahrung und Interessen“ in der Zeitschrift Widersprüche. Grundzüge dieses Aufsatzes ebenso wie die Arbeiten Mays zur Sozialisation (2004: Selbstregulierung), zu den aktuellen Theoriediskursen Sozialer Arbeit (2010), zu Jugendlichen in der Provinz (2011) sowie Sozialraumentwicklung bei Kindern und Jugendlichen von Monika Alisch (*1963) und May (2013) fließen in das aktuelle Buch ein.
Aufbau
May beschreibt den Aufbau als einen „Vierer-Schritt“. Er wolle den „zunächst historisch, dann philosophisch-sozialwissenschaftlich-gesellschaftstheoretisch sowie raumanalytisch und schließlich noch sozialforscherisch begründeten Ansatz Sozialer Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen in einem sozialräumlich orientierten Konzept für Professionelle synthetisieren“ (S. 14).
Die erste Hälfte des Buches befasst sich mit drei Kapiteln mit der Bestimmung und Begründung von Gemeinwesen:
- „1. Zur Rekonstruktion der historischen Verhältnisbestimmungen von oikos und polis in der Begründung von Gemeinwesen im Rahmen unterschiedlicher Gesellschaftsformationen“,
- „2. Zur philosophischen, politiktheoretischen, gesellschaftswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Begründung von Gemeinwesen“ und
- „3. Gemeinwesen unter raumtheoretischer Perspektive.“
Es folgen zwei vor allem auf die „Subjektivität menschlichen Gemeinwesens“ bezogene Kapitel mit jeweils einem Schlussabschnitt zu den Konsequenzen für professionelle Soziale Arbeit:
- „4. Die Verwirklichung von Fähigkeiten und Vermögen als integrale Bestandteile menschlichen Gemeinwesens“ sowie
- „5. (Radikale) Bedürfnisse und Wünsche als Motor einer Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“.
Das abschließende Kapitel versteht sich als explizit auf Soziale Arbeit bezogene Synthese:„6. Ansatzpunkte professioneller Sozialer Arbeit zur Förderung einer Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“.
Inhalt
Begrifflich legt May sich im Vorwort auf einen philosophischen Begriff des Gemeinwesens fest, wie er im 1923 erschienenen Wörterbuch von Fritz Mauthner (*1849) beschrieben ist: „Etymologisch betrachtet, handelt es sich beim Wort Gemeinwesen um eine ‚Lehnübersetzung von res publica‘“ (S. 12).
Im Vorwort erläutert er zudem seine Art zu schreiben und zu zitieren: „Zugegeben stellt der hier gewählte Ansatz einer dialektisch-materialistischen Aufhebung verschiedener, auf unterschiedlichen theoretischem Hintergrund entwickelter Begriffe hohe Anforderungen an die Lesenden. Zudem habe ich sehr viel wörtlich zitiert. Dies mag flüssiges Lesen erschweren. Dieses wörtliche Zitieren hat jedoch nicht allein die Funktion, den Lesenden ein eigenes Urteil über meine Interpretationen, sowie die von mir hergestellten dialektisch-materialistischen Synthesen zu ermöglichen. Vor dem Hintergrund des von mir derart entfalteten Begriffs der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens kann ein diesbezüglicher Text eigentlich nur so geschrieben werden, dass den Lesenden nicht nur eine eigene Rezeption der einzelnen von mir in dieser Weise kritisierten, wie auch aufgenommenen und neu synthetisierten Ansätze ermöglicht wird. Vielmehr muss er darüber hinaus, in der Reibung an diesem sperrigen Stoff zu eigenen Interpretationen und Synthesen herausfordern, um dem Programm einer Verwirklichung gerade der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens treu zu bleiben“ (S. 15).
Damit die Leser Mays Sprache und Denkfiguren kennen lernen, habe ich als Rezensent die komplex formulierten Kapitel- und Abschnittüberschriften in aller Regel wörtlich wiedergegeben. Auch sonst sind zitierte Sätze jeweils vollständig einschließlich der Zitate und deren Urheber. Lediglich die Quellenangaben wurden weggelassen, weil sie auf das Literaturverzeichnis von Michael May verweisen. Bei den von May genannten Bezugspersonen habe ich zur historischen Einordnung das jeweilige Geburtsjahr hinzugefügt, in der Regel aus Wikipedia übernommen.
Im Kapitel 1 („Zur Rekonstruktion der historischen Verhältnisbestimmungen von oikos und polis in der Begründung von Gemeinwesen im Rahmen unterschiedlicher Gesellschaftsformationen“) geht May zunächst auf der Grundlage der Arbeiten von Oskar Negt (*1934) und Alexander Kluge (*1932) der „1.1 Frage nach einem ursprünglichen Gemeinwesen“ nach, bezieht dann Jürgen Habermas (*1929) und Hannah Arendt (*1906) bei der Fragestellung „1.2 Das antike Gemeinwesen: oikos und/oder polis?“ – gemeint sind Gemeinwesen als Hausgemeinschaft und Gemeinwesen als Staat – in die Untersuchung ein, um dann anhand von Habermas und Helmut Richter (*1943) „1.3 Die Verschiebungen von Öffentlichkeit und Privatheit im mittelalterlichen Gemeinwesen“ in den Blick zu nehmen. Das Kapitel mündet in einen Abschnitt zum „1.4 Gemeinwesen unter der Herrschaft der politischen Ökonomie“, in dem auch unter Berufung auf Michel Foucault (*1926) der „fundamentale Wandel im Verhältnis zwischen Familie, Ökonomie und Staat“ behandelt wird.
Kapitel 2 („Zur philosophischen, politiktheoretischen, gesellschaftswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Begründung von Gemeinwesen“) ist mit einem Viertel des Buches das umfangreichste Kapitel. „Es scheint“, so schreibt May, „angebracht, die bisher in der Geschichte von Philosophie und politischer Theorie entwickelten Begriffsbestimmungen von Gemeinwesen kritisch in den Blick zu nehmen, um zumindest einige der markantesten und profiliertesten Ansätze dialektisch materialistisch in diesbezüglich neue Synthesen aufzuheben, die dann auch eine theoretische Begründung von Sozialer Arbeit als Arbeit an einem gleichermaßen demokratischen wie sozialen Gemeinwesen in der Verwirklichung menschlicher Subjektivität ermöglichen“ (S. 33).
Der Bestimmung und Begründung des Gemeinwesens werden in den Abschnitten unterschiedliche Charakteristika und Dimensionen zugeordnet:
- Aristoteles (*384 v.Chr.): Begründung des Gemeinwesens im Verhältnis von oikos und polis (2.1);
- Thomas More (*1478), Tomasso Campanella (*1568) und Jean-Jaques Rousseau (*1712): sozialutopische Begründungsversuche (2.2);
- Georg Friedrich Wilhelm Hegel (*1770): Bestimmung von Gemeinwesen in der dialektischen Vermittlung von Arbeit, Sprache und sittlichem Verhältnis (2.3);
- Hannah Arendt: handlungs- und machttheoretische Begründung eines politischen Gemeinwesens (2.4);
- Jürgen Habermas: diskurstheoretísche Begründung eines vernünftigen Gemeinwesens (2.5);
- Helmut Richter: Gemeinwesen in einer kommunalen Pädagogik (2.6): Es „spricht alles dafür, ein Gemeinwesen zu wollen, das die Ökonomie des ‚ganzen Hauses‘ mit der politischen Ökonomie des Staates vermittelt. Der ‚oikos‘ wäre dann identisch mit der ‚polis‘, Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung würden sich hierin aufheben“;
- Karl Marx (*1818): Begriffe von politischem und subjektivem Gemeinwesen (2.7);
- Henri Lefebvre (*1901), Paolo Freire (*1921), Ernst Bloch (*1885), Agnes Heller (*1929): Perspektive der Alltagskritik (2.8.)
Zentrale Bezugspunkte sind bei May in diesem Buch durchgehend die Aussagen des frühen Marx zum inneren Gemeinwesen, das May auch mit subjektivem Gemeinwesen oder Subjektivität des Gemeinwesens bezeichnet: „All diese Ansätze können so gelesen werden, dass die darin zumindest implizit angelegten Konzepte zur Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens sich darauf stützen, im Anschluss an Marx´ Begriff eines ‚wahren menschlichen Gemeinwesens‘ (…) in je spezifischer Art und Weise einen emphatischen Begriff des totalen Menschen, der entfalteten Individualität und eine Form von Gesellschaftlichkeit, die diese Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens fördert, mit einer sozial-revolutionären Praxis – im Sinne von Marx – zu verbinden, die bis in den täglich erfahrbaren Lebensbereich hineinreicht.“(S. 68)
Im Kapitel 3 rekapituliert May die Diskussion um „Gemeinwesen unter raumtheoretischer Perspektive“. Er stellt (3.1) die „Debatte um historisch vorherrschende Raumkonzepte und ihre dialektische Aufhebung in ihrer Bedeutung für die Begründung von Gemeinwesen“ mit der Gegenüberstellung eines Raums der Relationen und Raum als Container dar. Weiterhin behandelt werden:
- „3.2 Die raumtheoretische Fassung unterschiedlicher Maßstabsebenen in der Begründung von Gemeinwesen“;
- „3.3 Der Raum der Ausdehnung als gleichermaßen historischer wie systematischer Begriff in der Begründung von Gemeinwesen“;
- „3.4 Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit in ihrer Bedeutung für die Begründung von Gemeinwesen“;
- „3.5 Zur räumlichen Gestalt transnationaler Arbeit am Gemeinwesen“ sowie
- „3.6 Mehrräumige und mehrzeitliche Dialektik in ihrer Bedeutung für die Begründung von Gemeinwesen“.
Damit wird zugleich die Diskussion um oikos und polis aus dem ersten Kapitel wieder aufgegriffen. May gelangt zu Lefebvres „Begriff des U-Topischen in dessen ursprünglicher, altgriechischer Wortbedeutung von ‚kein Ort‘: objektive Möglichkeiten gesellschaftlicher Wirklichkeit, denen bisher die räumliche Bedingungen zu ihrer Verwirklichung herrschaftlich vorenthalten oder entzogen wurden“ (S. 98). Das U-Topische erschöpfe sich nicht in einem imaginär Abstrakten, „sondern verweist auf herrschaftlich blockierte objektive Möglichkeiten einer Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens in der gesellschaftlichen und menschlichen Wirklichkeit des Alltäglichen“ (S. 100).
In den Kapiteln 4 und 5 geht May „sozialisationsforscherisch“ (S. 100) auf der Grundlage der nach Marx entwickelten Vorstellung von einem inneren Gemeinwesen den „Modi einer Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“ (S. 100) nach.
Der Mensch wird hier als in seiner Totalität gesehen, in dem körperliche und geistige Eigenschaften, Fähigkeiten, Affekte, Sinne ebenso wie Bedürfnisse, und Wünsche real oder potenziell vorhanden sind und miteinander und in der Interaktion mit dem Äußeren in Erscheinung treten oder treten können, d.h. „im Binnenverhältnis des inneren Gemeinwesens, wie auch im äußeren Beziehungsverhältnis zu gesellschaftlichen Objekten und Mitmenschen“ (S. 104).
Im Kapitel 4 („Die Verwirklichung von Fähigkeiten und Vermögen als integrale Bestandteile menschlichen Gemeinwesens“) behandelt May unter Berufung auf den Philosophen Ernst Bloch in „4.1 Intentionsakte als Basis der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens“ (S. 101). Es folgen „4.2 Selbstregulierung als Grundlage von Aneignung und menschlicher Verwirklichung“ und „4.3 Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens und die Subjektivität gegenständlicher Wirkungskräfte sowie organisierter Erfahrungen“. Insbesondere im Abschnitt „4.4 Entfremdung durch Auftrennung von Arbeitsvermögen und Möglichkeiten ihrer momenthaften Überwindung“ zieht May Linien zwischen der Philosophie von Ernst Bloch, der Körperarbeit und Psychologie u.a. von Moshe Feldenkrais (*1904) und Wilhelm Reich (*1897) und der Entwicklungspsychologie von Jean Piaget (*1896) und überschreitet damit den kognitiven Bereich Die nachfolgenden Abschnitte sind
- „4.5 Beziehungs- und Anerkennungsverhältnisse als Enteignung oder Basis menschlichen Gemeinwesens“,
- „4.6 Die Konsequenzen unterschiedlichen affect attunements auf die (Aus-) Bildung menschlicher Fähigkeiten und Vermögen“,
- „4.7 Gegen Akkumulation resistente Eigenschaften als Produktivkräfte der Verwirklichung und zugleich schon Ausdruck der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens“ und
- „4.8 Aus dem unterschiedlichen sozialisatorischen Schicksal kumulativer Vermögen erwachsende Potentiale für eine Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens.“
Im letzten Abschnitt geht es mit Verweis u.a. auf Lefebvre, Bloch, Hegel, Negt und Kluge, Michael Winkler (*1953) und Klaus Holzkamp (*1927) um „4.9 Konsequenzen für eine Mäieutik Sozialer Arbeit zur Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“.
Das Kapitel 5 („(Radikale) Bedürfnisse und Wünsche als Motor einer Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“) setzt sich zunächst in „5.1 Zur Unterscheidung von Bedürfnissen und Wünschen“ mit dem Begriff der Grundbedürfnisse auseinander. „Nun spielen wie auch immer postulierte Grundbedürfnisse – aber auch die Orientierung an den Wünschen der Bevölkerung – eine bedeutende Rolle in der Begründung Sozialer Arbeit als Gemeinwesenarbeit“ (S. 137).
Vor allem im „5.2 Exkurs zur Kritik von Ansätzen der Gemeinwesenarbeit, die sich auf naive Begriffe von Bedürfnissen und Wünschen stützen“ distanziert sich May nachdrücklich von Wolfgang Hintes „geradezu wie in einem Mantra wiederholten Maxime“, die Gemeinwesenarbeit „habe von den artikulierten Bedürfnissen bzw. Wünschen sowie dem Willen der Bevölkerung auszugehen“ (S. 142). May versteht Hinte so, dass „in manchen Quartieren, Hinte – wenn er seiner Maxime, sich am Willen der Bevölkerung zu orientieren, treu bleiben will – an der Durchsetzung einer ‚national befreiten Zone‘ mitzuarbeiten hätte, während er in der anderen Scharia Geltung verschaffe müsste. Davon kann im Ernst wohl nicht ausgegangen werden, was nur darauf verweist, dass Hinte die Aporien seines stets hochgehaltenen antipädagogischen Impetus nicht genügend durchdacht hat“. (S.142)
Die Abgrenzung gegenüber der Vorstellung von Bedürfnissen in der „Zürcher Schule“ von Werner Obrecht (*1942) und Sylvia Staub-Bernasconi (*1936) begründet May in Anlehnung an Fraser damit, dass „dialogische, partizipative Prozesse der Bedürfnisinterpretation durch monologische… Prozesse der Bedürfnisdefinition …ersetzt und damit Menschen sowohl in der Verwirklichung ihrer Subjektivität als auch in ihrer Selbstvergewisserung, sowie der kollektiven, demokratischen Vergewisserung darüber, ‚was genau die verschiedenen Gruppen wirklich benötigen‘ beraubt“ (S. 141) würden. „Da ein Ansatz professioneller Sozialer Arbeit als Unterstützung und Initiierung von Ansätzen zur Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens im Sinne Marx´ sich nicht auf solche paternalistischen Ansätze stützen kann wie sie von Alrlt, Wendt und der Zürcher-Schule entwickelt wurden, ohne sich in Selbstwidersprüche zu verwickeln – ganz zu schweigen von deren willkürlicher und in skizzierter Weise hoch problematischen Unterstellung universeller Grundbedürfnisse – muss ein solcher Ansatz notwendiger Weise die Dialektik von Bedürfnis und Wunsch selbst zum Gegenstand einer Arbeit an der Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens erheben“ (S. 142).
Diesem Thema widmet er sich im Abschnitt „5.3 Die Dialektik von Bedürfnis und Wunsch als Gegenstand einer Arbeit an der Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“
Das Kapitel wird abgeschlossen mit „5.4 Konsequenzen für eine professionelle Soziale Arbeit als Arbeit an der Dialektik von Bedürfnissen und Wünschen im Hinblick auf eine Perspektivenentwicklung zur Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“. Hier führt May zum einen die Pädagogik von Anton Makarenko (*1888) ein: „Makarenko zufolge bedeutet Pädagogik nicht anderes als ‚Perspektiven herausbilden‘. Die Methodik dieser Arbeit besteht darin, ‚dass neue Perspektiven geschaffen, bereits vorhandene ausgenutzt und allmählich durch wertvollere ersetzt werden‘… ‚Wertvollere Perspektiven‘ wären im Kontext dieser Arbeit solche, die auf eine Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens zielen“ (S. 146). Dabei orientiert sich May an der Unterteilung Makarenkos von nahen, mittleren und weiten Perspektiven.
„Darüber hinaus“, so May, „scheint im Anschluss an die Kategorie der Wunschproduktion des Unbewussten als ‚einer den Herrschaftsrahmen jeder Gesellschaft sprengenden Produktionskraft‘ (Theweleit…), die dessen ‚andere[] Seite, der Dämmerung nach vorwärts‘ (Bloch…) betrifft, welche ‚den eigentlichen Rahmen der Bereitschaft zum Neuen und der Produktion des Neuen darstellt‘ (ebd.), noch eine andere Art und Weise der Vergewisserung, was Menschen ‚wirklich wirklich wollen‘ (vgl. Bergmann…) notwendig.“ (S. 147)
Hier biete sich ein Anknüpfen an gestalttherapeutische Konzepte der Konzentration, des Gewahrseins, von Fokusing, körperlichem Empfinden und Achtsamkeit an. May verweist vor allem auf Ansätze aus dem Umfeld des Esalen-Instituts und den Psycholog*innen und Körperpsychotherapeut*innen Fritz Perls (*1893), Laura Perls (*1905), Claudio Naranjo (*1932), Agnes Wild-Missong (1931) und Eugene Gendlin (*1926).
Unter Verweis auf Wild-Missong führt May dazu aus: „Bei all diesen Ansätzen geht es um ‚einen ganz speziellen Einstieg ins Erleben, indem man mit einer besonderen Art körperlicher Empfindung Kontakt aufnimmt‘…, die ‚nicht nur physisch eine Muskelempfindung, nicht nur psychisch und nicht nur kognitiv [ist], sondern ein ganzheitliches leibliches Spüren, aus dem sich Denken und Fühlen erst abspalten‘“(S. 147 f.).
In dem relativ knappen, 14 Seiten umfassenden, Kapitel 6. („Ansatzpunkte professioneller Sozialer Arbeit zur Förderung einer Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“) bezieht sich May explizit auf die professionelle Soziale Arbeit.
In „6.1 Position und Rolle der Professionellen in einem Soziale Arbeit übergreifenden Projekt zur Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens“ richtet er seinen Blick auf „Menschen die nicht direkter, sondern ‚struktureller Gewalt‘ (vgl. Galtung) ausgesetzt sind oder denen die Verwirklichungsbedingungen für bestimmte Fähigkeiten und Vermögen – bzw. capabilities für bestimmte funktionings – herrschaftlich vorenthalten werden“ (S. 153). Zu ihnen erklärt May: „Möglicherweises wird Letzteres nicht einmal von den Betroffenen als ein Mangel empfunden. Dennoch werden sie damit an der Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens gehindert“. Mit Verweis auf Michael Winklers Begriff des Subjekts begründet er, dass auch diese in das Programm der Verwirklichung des menschlichen Gemeinwesens einbezogen werden. Der Begriff des Subjekts enthalte „als ‚systematisches Implikat der Erziehung‘ … nicht nur die Aufforderung, man müsse, wo man erziehen will, die Subjektivität des anderen beachten‘, (…) sondern birgt zugleich die Maxime ‚für die Verwirklichung von Subjektivität zu sorgen, wo diese behindert‘ wird“ (S. 153).
Daran schließt sich Mays Abgrenzung vom menschenrechtlich begründeten Auftrag für die Soziale Arbeit an, wie er von Staub-Bernasconi vertreten wird: „Dies eröffnet eine ganz andere Begründungsbasis für ein professionelles Tripelmandat Sozialer Arbeit als Staub-Bernasconis ‚menschenrechtliche‘, die sich auf das Postulat entsprechender Grundbedürfnisse stützt. Eine solche quasi naturrechtliche Begründung kann schon allein deshalb nicht einen Standpunkt der Allgemeinheit beanspruchen, wie er stets mit dem Begriff von Gemeinwesen verbunden ist, weil ein darauf gestütztes Konzept …zwangsläufig in Paternalismus mündet“(S. 153).
Er grenzt sich dabei zugleich ab von dem Tripelmandat, wie es Staub-Bernasconi entwickelt hat. Letztlich erfordere ein „verallgemeinertes Interesse an der Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens“ die Mandatierung der Professionellen „von Seiten der Nutzenden ihrer Arbeit“. Da sich das aber in der Praxis als ein „schwer auflösbares Dilemma“ darstellt, gelte es, „das Tripelmandat letztlich zu einem einzigen Mandat zur Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens aufzulösen“ (S. 155).
Organisatorisch erwägt er eine „sozialgenossenschaftliche Organisation professioneller Sozialer Arbeit. Dabei wären die Genossenschaftsanteile von staatlichen Geldgebern zu finanzieren, über die die Genossenschaften aber selbständig verfügen können“ (156). Sie erscheine als geeigneter als ein „noch so wissenschaftlich fundiertes juristisch-administrativ-therapeutisches Management der Bedürfnisbefriedigung“ wie er das System Sozialer Arbeit mehrfach unter Berufung auf Nancy Fraser (*1947) nennt. Allerdings sieht er erhebliche Einschränkungen der Umsetzung: „Dabei wird es Professionellen in eher wenig reglementierten Arbeitsfeldern – wie etwa der aufsuchenden Arbeit, den sogenannten ‚Offenen Bereichen‘ von Kinder- und Jugendeinrichtungen oder Quartierszentren, der außerschulischen Bildungsarbeit und auch der klassischen Gemeinwesenarbeit – sehr viel einfacher als bei rechtlich und administrativ streng geregelten Interventionsformen fallen, Ressourcen und Funktionsweisen der Institutionen in denen sie beschäftigt sind, ‚umzuleiten‘ in entsprechend andere, quer zu deren herrschender Organisation liegende Sozialformen, in denen an der Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens gearbeitet wird“ (S. 157 f.).
In „6.2 Methodische Ansatzunkte für ein dialogisches, professionelles Arbeitsbündnis zur Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens“ verweist May zunächst auf Lefebvres „Konzept der strategischen Hypothese“ (S. 159) „Diese nimmt ihren Ausgang bei diesem ‚entferntesten Möglichen, kehrt vom fernen Möglichen zurück zum nahen Wirklichen und versucht, Kraftlinien und Tendenzen des Wirklichen bis zu jenem äußersten Möglichen zu verlängern“. Dieses ähnele einer Forschungshypothese mit dem Unterschied, dass „‚der wahre Beweis …auf der Ebene der praktischen Verifizierung‘“ liege. (S. 159)
Als konkrete Möglichkeit wird auf das von Robert Jungk (*1913) entwickelte Konzept einer Zukunftswerkstatt hingewiesen.
Im Abschnitt „6.3 Das Prinzip Kodierung/Dekodierung als dialogische Hervorbringung einer thematischen Orientierung“ wird der Ansatz von Paolo Freire (*1921) beschrieben und anhand eines Fotoprojekts mit Jugendlichen konkretisiert. May führt ein Beispiel an: „Eine Gruppe von Jungen aus der Jugendhilfe begeistert sich sehr für das Spiel am Tischkicker. Um diese für sie erfüllende Situation zu kodieren, wird die Spielsituation aus unterschiedlichen Perspektiven abgelichtet. Aufgrund eines Bildes mit langer Belichtungszeit wird in der Dekodierung der Rausch der Geschwindigkeit zum Thema. Nahaufnahmen konzentrierter Blicke evozieren Reflexionen über Technikkontrolle. Und schließlich wird aufgrund einer Aufnahme von unten zwischen den gespreizten Beinen der Jungen hindurch männliche Potenz thematisch, was sich anbietet, mit Kodierungen entsprechender, auf ‚gesellschaftliche Repräsentation‘ verweisender Posen von Fußballern oder Rockstars zu konfrontieren“ (S. 105f).
In „6.4 Intersektionalitätsensible, kategoriale Gemeinwesenarbeit“ spricht May erstmals in einer Überschrift von „Gemeinwesenarbeit“. Klassisch ziele kategoriale Gemeinwesenarbeit als „strategische Ergänzung (Boulet, Krauss, Oelschlägel …) der Ansätze von territorialer und funktionaler Gemeinwesenarbeit darauf, verschiedene Bevölkerungsgruppen hinsichtlich ihrer spezifischen Problem- und Interessenlagen zu organisieren“ (S. 167).
May orientiert sich an der Formel von Negt „nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren“.(S. 170) Dabei müssten klassenspezische Unterdrückungszusammenhänge, rein sexistische oder rassistische Unterdrückungszusammenhänge sowie Intersektionalitäten voneinander unterschieden werden.
In „6.5 Sozialraumentwicklung und Sozialraumorganisation als Instrumente einer professionellen Förderung der Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“ referiert May ein mit Alisch entwickeltes Konzept von Sozialraumentwicklung. „Solche Sozialräume konstituieren sich demnach in enger Verknüpfung mit bestimmten raumstrukturelle Qualitäten ganz unterschiedlich umgrenzter Orte über die Unmittelbarkeit des Sozialen kollektiver Praxiszusammenhänge in Form entsprechender kognitiver, affektiver und sozialer Vertrautheiten“ (S. 174).
Sozialraumentwicklung soll Gelegenheiten eröffnen, räumlich wie sozial einen „Rahmen zu einer Politik der Bedürfnisinterpretation zu schaffen“ (S. 177) Er schließt das Buch mit dem Satz „Erst wenn es jedoch darüber hinaus gelingt, in den in ein solch übergreifendes Projekt Eingebundenen Prozessen von Sozialraumentwicklung jeweils einen Rahmen zu kreieren, der es den darin Eingebundenen erlaubt, ihre blockierten, entfremdeten und enteigneten Anteile menschlicher Fähigkeiten und Vermögen in lebendiger Arbeit der Selbstregulierung auch in ihrer Kooperationsfähigkeit zur Verwirklichung zu bringen, kann Sozialraumorganisation den Anspruch erheben, Medium der Realisierung eines gleichermaßen demokratischen, wie sozialen, keine gesellschaftlichen Gruppen und ihre Erfahrungen sowie Vermögen ausgrenzenden menschlichen Gemeinwesens zu sein“ (S. 177).
Diskussion
1. Gemeinwesen zwischen Realität und U-Topie
Michael May weist wie zuvor Jaak Boulet (*1943), Jürgen Krauss (*1943) und Dieter Oelschlägel (*1939) auf die philosophische Tradition des Begriffs Gemeinwesen hin und geht ihr vertieft nach. In der Tradition der beruflich ausgeübten Gemeinwesenarbeit selbst spielt der Begriff Gemeinwesen allerdings eine untergeordnete Rolle, er ist in den 1960er Jahren im deutschsprachigen Raum als Verlegenheitsübersetzung von community entstanden (vgl. auch May 1997, S. 18), u.a. zur Vermeidung der Begriffe „Gemeinschaft“ oder „Gemeinde“. Dies zeigt sich gerade bei Ross, 1971, der von May für sein Verständnis von Gemeinwesen in Anspruch genommen wird, im Original (Ross, 1955) aber von Community spricht.
Beide Begriffe meinen soziale Zusammenhänge, die über Kernfamilien hinaus gehen. Community wird häufig und in unterschiedlicher Bedeutung in der Alltagssprache benutzt, wie z.B. Nachbarschaften oder soziale Beziehungen, die von Interessen, Religionen, Freundschaften oder sonstigen Merkmalen bestimmt sind. Der Begriff Gemeinwesen dagegen fand sich früher eher in philosophischen Abhandlungen und wird gegenwärtig z.B. in feierlichen Reden benutzt. Das Wortprofil von Gemeinwesen umfasst Begriffe wie Fundament, Funktionieren, Gedeihen, Grundwerte, Identifikation, Verfasstheit, Wohl, Zugehörigkeit und Zusammenhalt (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, 2017). „Gemeinwesen“ wird eher affirmativ verwendet: Mit dem Belobigten wird zugleich das Gemeinwesen selbst bestätigt.
Auch May assoziiert mit Gemeinwesen vor allem etwas Positives. Seine Begriffe sind menschliches Gemeinwesen, gelingendes Gemeinwesen und im Schlusssatz des Buches spricht er von der angestrebten „Realisierung eines gleichermaßen demokratischen, wie sozialen, keine gesellschaftlichen Gruppen und ihre Erfahrungen sowie Vermögen ausgrenzenden, menschlichen Gemeinwesens“.
Dieses menschliche Gemeinwesen aber ist für ihn eine „U-Topie“ und es erscheint ihm als „geradezu zynisch“, wenn „Wendt im Hinblick auf das ‚Geschehen des Zusammenlebens am Ort‘ von einem ‚lebendigen Gemeinwesen‘ spricht“ (S. 11). Ein menschliches Gemeinwesen ist für May damit kein Begriff, mit dem man das gegenwärtige Geschehen z.B. an einem Ort analysieren könnte, sondern jedenfalls „solange sich Marx´ Vision eines ‚Vereins freier Menschen, die sich wechselseitig erziehen‘ noch nicht realisiert“ (S. 154), ein Hoffnungsbegriff.
Insofern kann man sich allenfalls dem Gemeinwesen annähern, es aber nie verwirklichen. Gemeinwesen erscheint eher ein eschatologisches Projekt. Das bedeutet aber zugleich, dass das, was Menschen an Veränderung in ihrem Umfeld erarbeiten und erreichen, kaum wertgeschätzt wird.
2. Professionelle Soziale Arbeit und Gemeinwesenarbeit
Der Übergang von der Bestimmung der Gemeinwesen in der ersten Hälfte des Buches zur Forderung, professionelle Soziale Arbeit müsse die notwendige „Arbeit am Gemeinwesen“ leisten, ist eher überraschend. Zum einen wird nicht begründet, warum überhaupt professionelle Arbeit gefordert ist und nicht vor allem politische und soziale Bewegungen. Zum anderen stellt sich die Frage: Warum ist die Arbeit am Gemeinwesen ausgerechnet Aufgabe der Profession Soziale Arbeit, wo doch May Soziale Arbeit überwiegend als „juristisch administrativ-therapeutisches Management der Bedürfnisbefriedigung“ abqualifiziert. Zudem spielt Soziale Arbeit in den Kapiteln 1-5 sowohl in der Theorie als auch den praktischen Konzepten gegenüber Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Körpertherapie, Theater usw. keine Rolle. Autor*innen wie Hinte, Staub-Bernasconi und Wendt, die sich der Profession Soziale Arbeit zurechnen, werden allenfalls abgrenzend und teilweise karikierend zitiert.
3. Der „totale Mensch“: Arbeit am äußeren und inneren Gemeinwesen
May versteht das „wahre Gemeinwesen“ unter Berufung auf Marx als inneres und zugleich äußeres Gemeinwesen. Es umfasst also die Menschen in ihrer Totalität oder auch die „totalen Menschen“. Das menschliche Gemeinwesen ist danach in der gegenwärtigen Situation nicht in seiner Potenzialität voll verwirklicht, unabhängig davon ob die Menschen unter diesem Mangel leiden oder nicht. Arbeit am Gemeinwesen bedeutet die Perspektivenentwicklung zur Verwirklichung des menschlichen Gemeinwesens.
Er nimmt dabei Vorstellungen aus dem spirituellen Feld, den sozialen Utopien, Ansätzen von Hegel, Marx und Bloch auf ebenso wie die nahezu die ganze Welt umspannenden Sehnsüchte von 1968 ff. nach einer sozialen Revolution, die den einzelnen und die Formen des Zusammenlebens wie auch die ganze Gesellschaft umwälzt.
Vor zwanzig Jahren hatte Michael May gefragt, ob „es in einer politischen Situation, in der ein Scheitern quasi vorprogrammiert ist, überhaupt noch verantwortbar ist, sich zusammen mit den AdressatInnen auf einen Kampf um selbstbestimmte Lebens-, Arbeits- und Wohnformen einzulassen“) und hinzugefügt: „Darf diese Frage aber, den Marxschen Begriff von Gemeinwesen vor Augen, überhaupt mit einem ‚nein‘ beantwortet werden?“ (May 1997, S. 30). Heute stellt er diese Frage nicht mehr, sondern fokussiert sich auf das innere Gemeinwesen. Als praktische Ansatzpunkte nennt er z.B. Zukunftswerkstätten, Forumtheater, Körper, Leib und Seele umfassende Verfahren des Gewahrseins, Moderation und Mediation. In welche anderen Erfahrenswelten dieses hinein führt, wird z.B. bei Wild-Missong, auf die sich May bezieht, in deren Buch „Focusing und Schamanismus“ (Wild-Missong, 2010) erkennbar.
Die Erweiterung oder auch Verschiebung des Gesichtsfeldes ist ein spannender Vorgang, der Begriff des „totalen Menschen“ aber für mich dann ein beängstigender Begriff, wenn daraus eine Professionelle Arbeit am totalen Menschen abgeleitet wird.
4. Das Mandat zur Arbeit am Gemeinwesen
Eine Vorstellung von einem „totalen Menschen“ darf nicht dazu führen, dass der Staat, eine Institution, eine Profession oder ein professioneller Akteur totalen Zugriff auf den Menschen hat. Das ist eine Erkenntnis für die Soziale Arbeit aus den bitteren Erfahrungen mit totalen Institutionen oder totalitär übergreifender Praxis, sei es der Behindertenhilfe, der Psychiatrie, der Altenheime, der west- und ostdeutschen Heimerziehung, aber auch aus den jüngeren Auseinandersetzungen um die Reformpädagogik.
Deshalb ist es von elementarer Bedeutung, das Mandat für professionelle Arbeit zu bestimmen, was auch ein zentrales Thema bei May ist.
4.1 Das Tripelmandat
Die Rede vom doppeltem Mandat von Hilfe für die AdressatInnen und dem Kontrollauftrag der gesellschaftlichen Instanzen ist aus der Kritik an der vorherrschenden Sozialen Arbeit in den 1960er Jahren entstanden, bei der einseitig der „gesellschaftliche Auftrag“ hervorgehoben wurde. Das Tripelmandat, das Sylvia Staub-Bernasconi als Begriff geprägt hat, heißt: „Neben der Verpflichtung gegenüber den AdressatInnen Sozialer Arbeit und dem Träger als Repräsentant der Gesellschaft besteht für eine Profession auch eine Verpflichtung gegenüber der Profession als solche.“ (Staub-Bernasconi, 2008: S. 22). Hierbei verweist sie auf globale Standards der Ausbildung der Sozialen Arbeit, in denen es heißt „Dabei sind die Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit von fundamentaler Bedeutung“ (Staub-Bernasconi, 2008, S. 11).
Die Bindung an die Menschenrechte und Sozialen Rechte begründet Staub-Bernasconi nicht, wie May es darstellt, vorwiegend naturrechtlich, sondern sie weist auf die besondere Bedeutung der kodifizierten Vereinbarungen insbesondere der UN zu den Menschenrechten und auch Vereinbarungen zu Sozialen Rechten hin, denen sie Bindung unabhängig von sehr unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen zuspricht.
4.2 Bindung der Arbeit am Gemeinwesen an Menschenrechte und Soziale Rechte
Die Orientierung an den Menschenrechten ist sicherlich keine hinreichende, aber wohl eine notwendige Bedingung für eine Soziale Arbeit, wenn diese nicht beliebig den Zielsetzungen der jeweils über Ressourcen bestimmenden Politik und Wirtschaft ausgesetzt sein soll. Zugleich ist sie auch eine Bindung und Begrenzung der Macht der Professionellen Sozialen Arbeit. Je umfassender Gemeinwesenarbeit auf Menschen einwirkt, desto wichtiger ist ihre Bindung an klar erkennbare Regeln.
May setzt dem Tripelmandat von Silvia Staub-Bernasconi ein menschliches Gemeinwesen der Subjektivität (inneres und äußeres) entgegen als einziges Mandat der sozialen Arbeit. Insbesondere lehnt er die Berufung auf Menschenrechte für die Begründung soziale Arbeit ab, weil diese auf das Naturrecht verweisen würden. „In diesem Prozess gilt es dann auch das Tripelmandat letztlich zu einem einzigen Mandat zur Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens aufzulösen.“ (S. 155).
Letztlich führt die Aufhebung des Tripelmandats aber zur Selbstmandatierung der Professionellen. Zusammen mit der „Totalität“ des Prozessen mit seiner Verbindung von innerem und äußerem Gemeinwesen führt das dazu, dass die Menschen, die sich darauf einlassen, sich dem Professionellen total anvertrauen.
In einer Arbeit einer freiwilligen Gruppe mag das auf Zeit akzeptabel sein, in einer Heimsituation wir bei Makarenko ist das aber keine eigene Entscheidung mehr.
4.3 Arbeit am Gemeinwesen als Erziehung
Bei den Zielen orientiert sich May sehr stark an Makarenkos Erziehungsmethodik, die dieser bei der Arbeit im Heimen für straffällige und verwahrloste Jugendliche in den 1930er entwickelt hat und ordnet damit zugleich Arbeit am Gemeinwesen der Pädagogik zu. Dies ist sicherlich ein Gegenmodell zu Hintes „antipädagogischem“ Ansatz, der m.E. sehr wohl kritisiert werden kann, weil Gemeinwesenarbeit immer mit intendierten oder auch nicht-intendierten Lernprozessen verbunden ist.
May orientiert sich dabei an Makarenkos Postulat des „Perspektiven herausbilden“. „Wertvollere Perspektiven wären im Kontext dieser Arbeit solche, die auf eine Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens“ zielen (S. 146).
Bei Makarenko ist der Auftraggeber die Gesellschaft: „Die Projektierung der Persönlichkeit als ein Erziehungsprodukt muß auf Grund eines Auftrags der Gesellschaft vorgenommen werden. (Makarenko, S. 78)“. „Es genügt … nicht mehr, lediglich die Berufsausbildung der jungen Generation im Auge zu haben, es geht vielmehr darum, den Verhaltenstyp, die Charaktere und Persönlichkeiten heranzuziehen, die der Sowjetstaat gerade während der Diktatur des Proletariats, beim Übergang zur klassenlosen Gesellschaft benötigt. (Makarenko, S. 77)“.
May verweist unter Bezug auf Lefebvre und im Zusammenhang mit Makarenko darauf, dass der Beweis einer strategischen Hypothese „auf der Ebene der praktischen Verifizierung“ (S. 159) stattfinden müsse. Eine solche praktische Verifizierung des Ansatzes von Makarenko hat es in der DDR durchaus gegeben: „Der sozialpädagogische Denkansatz in der DDR war aus dem Gedankengebäude Makarenkos hergeleitet“ schreibt Eberhard Mannschatz (*1927), der für die Heimerziehung der DDR unmittelbare Verantwortung hatte (Mannschatz, S. 213).
Man kann Makarenko und seine Rezeption in der DDR sehr unterschiedlich einschätzen, sicher aber ist: Die Ziele sind von außen auf Funktionsfähigkeit in einer nicht demokratischen Gesellschaft festgelegt, aber nicht von den Kindern und Jugendlichen selbst mitentwickelt. Funktionsfähigkeit als Arbeitskraft ist auch im Neoliberalismus dominierende Vorstellung für Erziehung.
Deshalb halte ich es für gefährlich, Arbeit am Gemeinwesen als Erziehungsprojekt zu konzipieren.
5. Sprache, Quellen und Zitierweise
May spricht von „hohen Anforderungen“, die sein Ansatz an die Lesenden stellt (siehe Vorwort). Ich muss als Rezensent gestehen, dass ich diesen Anforderungen häufig nicht gewachsen bin. Viele Sätze habe ich gar nicht oder nur mühsam verstanden mit Hilfe der Lektüre älterer Texte von Michael May, aus denen May eine Vielzahl von Passagen wörtlich übernommen hat, oder der von ihm zitierten Autor*innen. Oft ist mir in verschlungenen Sätzen mit vielen Zitat-Schleifen unterschiedlicher Autoren der rote Faden der Argumentation verloren gegangen.
May arbeitet sehr selbständig und selbstbewusst auf einem sehr breiten, fachlich und zeitlich vielfältigen Quellenfundament von Schriften von der Philosophie, den klassischen Staatswissenschaften und der Politiktheorie, über Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Psychotherapie bis hin zu eher spirituellen Heilungslehren. Die sich auf existierende Gemeinwesenarbeit beziehende Literaturbasis ist eher schmal und auf die Zeit des ausgehenden 20. Jahrhunderts begrenzt. Beispielsweise das 450 Seiten umfassende Handbuch Gemeinwesenarbeit von 2013 wird zwar erwähnt, aber nur in Bezug auf den dreiseitigen Artikel, in dem Sabine Stövesand Mays „Arbeit am Gemeinwesen“ zu einem Meilenstein der Gemeinwesenarbeit ernannt hat.
In der Regel verzichtet May darauf, den historischen und inhaltlichen Kontext darzustellen oder gar die Lesenden einzuführen, Darstellung, Kritik und Umformulierung der oft aus ihrem historischen und inhaltlichen Kontext heraus gelösten und miteinander kombinierten Zitate in eine von May bevorzugte Sprechweise gehen ineinander über. Zitatfreie Sätze, in denen May seine Position klar darstellt, sind eher selten.
May sieht, wie er im Vorwort deutlich macht, seine Zitierweise als Teil des umfassenden Projekts einer Verwirklichung der Subjektivität menschlichen Gemeinwesens, in das er die Leser einbeziehen will.
Auf mich aber wirkt sein Verfahren wie eine Talkshow zwischen den Wolken, unabhängig von örtlichen, zeitlichen, sprachlichen, wissenschaftlichen und professionellen Grenzen, in der Sokrates, Wilhelm Reich, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Karl Marx, Fritz Perls, Hannah Arendt, Anita Wild-Missong, Paolo Freire und viele andere versammelt sind. Michael May moderiert eine Diskussion zwischen ihnen. Ein paar Kurzstatements werden von Vertretern der klassischen Gemeinwesenarbeit wie Wolfgang Hinte oder Silvia Staub Bernasconi eingespielt, die nicht zur Talkshow eingeladen sind. Der Moderator hält ein Schlusswort, in dem er etwas kompliziert die überraschend entstandenen Beziehungen und Verknüpfungen zusammen zu fassen versucht. Das Publikum staunt mit oftmals offenem Mund, klatscht zögernd und entfernt sich beeindruckt und verwirrt.
6. Synthese von „Arbeit im Gemeinwesen“ und „Arbeit am Gemeinwesen“ möglich?
Mays Buch beginnt mit der heftigen Auseinandersetzung mit Hinte über die Frage, ob es die von May geforderte „Arbeit am Gemeinwesen“ gäbe oder man mit Hinte nur von „Arbeit im Gemeinwesen“ sprechen könne.
Im amerikanischen Community Organizing wird ein Spannungsfeld beschrieben mit dem Begriffspaar: „World-As-It-Is“ versus „World-As-It-Should-Be“: „To understand ‚the world as it is‘ means that you are practical, you understand the true motivation of people, the power dynamics involved around an issue, and therefore you can creatively problem solve issues as you move toward ‚the world as it should be‘“. (CCESL, 2014, S. 23)
Der Ausgangspunkt wären dann existierende Gemeinwesen, die geprägt sind von Ungleichheiten und Widersprüchen in Bezug u.a. auf Einkommen, Klassen, Milieus, Familienstruktur, Wohnverhältnisse, Religion, Migrationsstatus und politische Einstellungen, in denen aber Menschen sich und ihre Umwelt auch verändern und entwickeln, ähnlich wie May von „Sozialraumentwicklung“ spricht.
Geht man von diesem Gedanken aus, wäre es möglich, Mays synthetisierenden Anspruch durchaus folgend, nicht „Arbeit im Gemeinwesen“ (Hinte) und „Arbeit am Gemeinwesen“ (May) als bloße Alternativen gegenüber zu stellen, sondern von Gemeinwesenarbeit als einer „Arbeit im Gemeinwesen am Gemeinwesen“ zu sprechen.
Fazit
Michael May versucht, eine ganzheitliche Utopie von Gemeinwesen zu formulieren. Auf der Basis einer Philosophiegeschichte des Begriffs Gemeinwesen verknüpft er Texte vom Altertum bis zum 20. Jahrhundert, von der Philosophie und Politik, über Pädagogik, Biologie, Entwicklungspsychologie, bis hin zur psychotherapeutisch orientierten Körpertherapie. May will eine Konzeption Sozialer Arbeit am Gemeinwesen, d.h. der Verwirklichung des menschlichen Gemeinwesens entfalten. Mit Gemeinwesen, das er als Übersetzung von res publica versteht, ist in Anlehnung an Frühschriften von Karl Marx ein politisches und subjektives, oder auch äußeres und inneres Gemeinwesen gemeint. Dieses ist bei May eine „U-Topie“, d.h. möglich aber nicht in der Realität verortet.
Das Buch ist keine Einführung in die Theorie und Praxis der Gemeinwesenarbeit, wie der Titel missverstanden werden könnte. Es umschreibt eher eine Vorstellung dessen, was Arbeit am Gemeinwesen sein könnte.
Das Buch fordert die Lesenden heraus: Sprachlich ist es komplex, aber auch kompliziert geschrieben, eine Vielzahl von Autoren vom Altertum bis zum 20. Jahrhundert wird zitiert, zumeist mit einzelnen Sätzen oder Satzteilen. Gewinn haben davon vor allem Lesende, denen u.a. Hegel, Marx, Habermas, Arendt, Negt, Freire, Piaget, Lefebvre, sowie Vorstellungen der Psychotherapie geläufig sind oder die sich anlässlich dieses Buches in diese einarbeiten.
Das Buch fordert zur Auseinandersetzung heraus zur Frage, ob die von May präferierte Pädagogik nach den Vorstellungen des sowjetischen Pädagogen Makarenko (1888-1939) hilfreich sein kann auf dem von May vorgeschlagenen Weg zu einer „Realisierung eines gleichermaßen demokratischen, wie sozialen, keine gesellschaftlichen Gruppen ausgrenzenden menschlichen Gemeinwesens“.
Literatur
- CCESL 2014: Universität of Denver, Community Organizing Handbook, 3rd edition www.du.edu/ (download 15.9.2017)
- Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, „Gemeinwesen“, www.dwds.de/wb/Gemeinwesen (download 15.9.2017)
- Hinte, Wolfgang (2015): Sozialraumorientierung. was ist das eigentlich?, www.diakoniewerk.at
- Makarenko, Anton S. (1939): Methodik des Erziehungsprozesses (1932-1936), in Ausgewählte pädagogische Schriften, S. 77-96, 2. Aufl. Paderborn: Schöningh
- Mannschatz, Eberhard (1997) Rückblick auf die Soziale Arbeit in der DDR, in Kunstreich, Timm: Grundkurs Soziale Arbeit, Band II, 185-220
- May, Michael (1997): Gemeinwesenarbeit als Organisierung nicht nur von Gegenmacht, sondern auch von Erfahrung und Interessen“ in Widersprüche 65: Zur Politischen Produktivität von Gemeinwesenarbeit, S. 13-31:
- May, Michael (2016): Sozialraum: Der passende Begriff für alle möglichen Problemstellungen – Zum Streit zwischen den Begriffen von Container- und relationalem Raum, http://sozialraum.de (download 15.9.2017)
- May, Michael (2011): Jugendliche in der Provinz. Ihre Sozialräume, Probleme und Interessen als Herausforderung an die soziale Arbeit. Verlag Barbara Budrich 2011.
- Ross, Murray, (1955): Community Organization, New York: Harper and Brother Publishers
- Staub-Bernasconi, Silvia (2008): Menschenrechte in ihrer Relevanz für die Soziale Arbeit A Theorie und Praxis, Widersprüche Heft 107 „Soziale Arbeit und Menschenrechte“. S- 9-32
- Stövesand, Sabine,/ Stoik, Christoph/ Troxler, Ueli (2013): Handbuch Gemeinwesenarbeit, Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich
- Wild-Missong, (2010): Focusing und Schamanismus – Der Körper als Schlüssel zur inneren Welt, Darmstadt: Schirner-Verlag, https://harmonie-webshop.de/schi/leseproben/944.pdf (download 15.9.2017)
Rezension von
Prof. Michael Rothschuh
Professor an der HAWK-Hochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen, Lehrgebiete Sozialpolitik, Gemeinwesenarbeit. Pensioniert.
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Es gibt 10 Rezensionen von Michael Rothschuh.
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Zitiervorschlag
Michael Rothschuh. Rezension vom 28.09.2017 zu:
Michael May: Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen. Ein theoretischer Begründungsrahmen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2017.
ISBN 978-3-8474-2017-0.
Beiträge zur Sozialraumforschung, Band 14.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22526.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.
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