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Fabian Brückner: Kinderschutz achtsam und zuverlässig organisieren

Rezensiert von Martina Huxoll-von Ahn, 28.02.2018

Cover Fabian Brückner: Kinderschutz achtsam und zuverlässig organisieren ISBN 978-3-7799-3521-6

Fabian Brückner: Kinderschutz achtsam und zuverlässig organisieren. Kartenset mit 116 Fragekarten. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 132 Seiten. ISBN 978-3-7799-3521-6. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Thema

Die Verbesserung der Qualität im Kinderschutz ist seit mehreren Jahren Thema, nicht nur in der Kinder- und Jugendhilfe. Um angemessenes Handeln sicherzustellen, wurden insbesondere mit dem Bundeskinderschutzgesetz rechtliche Grundlagen für Vorgehensweisen bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung geschaffen. In der Praxis hat dies mancherorts vor allem zu Veränderungen hinsichtlich der formalen Gegebenheiten in der Organisation geführt. Es wurden und werden Verfahren festgelegt, Dienstanweisungen erlassen, Regelwerke eingeführt und Standards für die Arbeit im Kinderschutz präziser formuliert. So wird auch immer wieder die Forderung nach verbesserten Diagnoseinstrumenten gestellt.

Diese Maßnahmen sind unbestritten sehr wichtig. Aber in der Arbeit mit Menschen stoßen technische Möglichkeiten an ihre Grenzen, denn eine 100prozenige Kontrolle ist nicht möglich. Insofern ist es wichtig, den Blick auf die handelnden Personen zu richten. Die Fachkräfte müssen stetig aufmerksam sein für Risiken und für Unvorhergesehenes bei den Mädchen und Jungen sowie bei den Familien, die sie betreuen. Da Achtsamkeit kein Zustand ist, der einmal erreicht wird und dann immer währt, stellt sich die Frage, mit welchen Methoden und Möglichkeiten im Alltag diese Zuverlässigkeit ständig neu hergestellt werden kann. Sie ist nicht nur eine individuelle Leistung, sondern im Kontext des Kinderschutzes eine gemeinschaftliche Aufgabe und somit eine Haltung. Lehrreich sind in diesem Kontext „High Reliablitiy Organizations“, also Organisationen, die hoch zuverlässig in sehr komplexen und risikoanfälligen Bereichen ihre Arbeit außergewöhnlich gut machen. Ein Beispiel hierfür sind „Notfall-OP-Teams“. Die soziale Arbeit hat sich mit diesen Ansätzen zunehmend im Bereich des Kinderschutzes beschäftigt. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Funktionieren dieser Organisationen ist das vorliegende Kartenset entstanden.

Entstehungshintergrund

Der Autor, Fabian Brückner, erarbeitete im Rahmen eines Projektes zur Achtsamkeit und Zuverlässigkeit im Kinderschutz gemeinsam mit Michael Böwer das „MindSet Achtsames Organisieren“. Dieser Methodenkoffer wurde im Jahr 2016 mit dem Praxispreis der Systemischen Gesellschaft e.V. ausgezeichnet und inspirierte ihn zur Entwicklung des Kartensets.

Aufbau und Inhalt

Die 116 Fragekarten sind fünf Themenfeldern zuzuordnen.

  1. Fragen zur Kultur der Achtsamkeit (31 Karten): Sie laden dazu ein, die gegenwärtigen Arbeitsweisen und Formen der Zusammenarbeit in einem Team im Hinblick auf eine achtsame Organisationskultur zu reflektieren. Dabei sollen Verhaltensmuster, die zur Entwicklung kritischer Situationen beitragen, in den Blick geraten und ein kompetenteren Umgang mit Risiken gefördert werden. Beispiele: Welchen Stellenwert haben Befindlichkeiten, Sorgen und „komische Bauchgefühle“ in unseren Teambesprechungen? Was würde mir helfen, um besser mit Kritik von anderen umzugehen? Was könnten erste Anzeichen (schwache Signale) für eine Kindeswohlgefährdung sein?
  2. Achtsame Fallarbeit (29): Diese Karten haben das Ziel, bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen kompetenteren Umgang mit Risiken in der Fallarbeit zu fördern, und zwar bevor sich Krisen in Familien zuspitzen, also bevor das Kindeswohl akut gefährdet ist. Es geht um das rechtzeitige Wahrnehmen auch schwacher Signale und ein angemessenes frühzeitiges Reagieren. Beispiele: Wurden Aufgaben übertragen (an Kollegen, Ärztinnen, Jugendamt, Eltern etc.) und der Fallverlauf seither nicht weiter berücksichtigt? Welcher Fall ist mir bei der Bearbeitung unangenehm und warum? Bei welchem Fall kenne ich nur die Akte, aber nicht das Kind?
  3. Rollenperspektiven (16 Karten): Mit Hilfe dieser Karten sollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermuntert werden, verschiedene Perspektiven auf einen Fall einzunehmen. Dies wirkt Vereinfachungen und eigenen Wahrnehmungstendenzen entgegen. Beispiele hierfür sind: Was würde die Mutter denken? Sagen? Tun? Sich wünschen? Oder der Kritiker/die Kritikerin: Was würde er/sie kritisch sehen? Was bezweifeln? Was ist wenig fundiert? 4 der Karten sind blanco und können – je nach Fall – mit weiteren Perspektiven, also Beteiligten (abwaschbar) beschriftet werden.
  4. Lernen aus Erfahrungen (20 Karten): Das Ziel dieser Fragen ist es, Erfahrungen aus zurückliegenden Fällen für die aktuelle Fallbearbeitung nutzbar zu machen. Dabei geht es nicht nur um die individuellen Lernprozesse, sondern das gemeinsame Erfahrungslernen fördert den Aufbau persönlicher und kollektiver Kompetenzen. Beispiele: Was sollte ich in diesem Fall ursprünglich erreichen, was ist tatsächlich passiert und warum? Warum hat mir von dieser Entwicklung niemand erzählt und warum habe ich nicht nachgefragt? Wer sollte noch von dieser Erfahrung wissen und wie kann dies inhaltlich gut erfolgen?
  5. Warum-Fragen (20 Karten): Mit den Warum-Fragen sind kleine Botschaften verknüpft, die die Auseinandersetzung mit neu erworbenen Einsichten, Wissen und Prinzipien anregen und so zu einer achtsamer gestalteten Praxis führen sollen. Beispiele: Warum sehen wir mehr, wenn wir weniger vereinfachen? Warum sind Erwartungen tückisch und erzeugen blinde Flecke? Warum neigen wir mit der Zeit zu einer „Normalisierung“ von Anomalien?

Ergänzt wird das Kartenset durch ein kleines Heftchen, in dem die Anwendung beschrieben und die Hintergründe dargelegt werden.

Diskussion

Es ist mehr als sinnvoll, darüber nachzudenken, mit welchen auch neuen Methoden die Aufmerksamkeit von Fachkräften und Teams auf Dauer erhalten werden kann, wenn sie im komplexen Feld des Kinderschutzes tätig sind. Und die Analyse anderer Organisationen, die im Hochrisikobereich zuverlässig arbeiten müssen, lohnt, um daraus Schlussfolgerungen auch für die soziale Arbeit zu ziehen. In vielen Bereichen in der Kinder- und Jugendhilfe sind aufgrund der tragischen Kinderschutzfälle in der Vergangenheit Regelwerke und Dienstanweisungen für einen verbesserten Kinderschutz ergangen, Verfahren entwickelt und Standards weiter konkretisiert worden. Oftmals macht es den Eindruck, als wollten sich die Organisationen vor möglichen Fehlern absichern. Zwar sind auch die Fachkräfte im Blick. Aber die Frage, was sie genau in ihrem Alltag brauchen, um bei komplexen Kinderschutzfällen nach Möglichkeit das Richtige zu tun, wird oftmals nicht hinreichend beantwortet. Schließlich arbeiten sie mit Familien, in denen immer wieder Unvorhergesehenes passiert, eine nicht erwartete Dynamik einsetzt oder ungeplante Veränderungen eintreten.

Die Aufarbeitung von Fallverläufen im Kinderschutz zeigt immer wieder, dass es oft nicht massive Krisen sind, die eine ungünstige Entwicklung auslösen, sondern kleinere, nicht so gravierend eingeschätzte Ereignisse, die in Wechselwirkung zu dramatischen Entwicklungen führen. Also eine Verkettung unglücklicher Umstände. So lassen sich oft Wechselwirkungen feststellen, wenn im Zeitverlauf sowohl Entwicklungen im Familiensystem als auch im Helfersystem analysiert werden. In der Rückbetrachtung wird dann deutlich, welche große Wirkung augenscheinliche Diffusitäten haben können. Da aber aktuelle Fälle im Hier und Jetzt bearbeitet werden müssen, stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, die Aufmerksamkeit auch auf die Belange zu lenken, die zunächst als nicht so bedeutsam eingestuft werden. Eine einseitige Orientierung und Festlegung auf Diagnosen und andere Instrumente sowie das starre Festhalten an Verfahrensanweisungen und -schritten laufen Gefahr, den Blick für diese „schwachen Signale“ zu verlieren.

Daher ist die Idee des Kartensets sehr zu begrüßen. Karten lösen Assoziationen an Spielerisches aus ohne ihre Ernsthaftigkeit zu verlieren. Die Karten sind flexibel einsetzbar: Sie dienen der individuellen Reflexion und Fallbetrachtung sowie der gemeinsamen von Teams. Es gibt keine Vorgaben, wie viele Karten bearbeitet werden müssen. Als sehr sinnvoll erweist es sich auch, dass die Karten Fragen enthalten, ohne dass es fertige Antworten für diese gibt. Vielmehr laden die Fragen zu Reflexionen und Diskussionen ein. Gerade in überlasteten Situationen fallen kritische Fragen in Teams schwer, vor allem wenn Teamsitzungen, Fallberatungen und Supervisionen wenig Raum haben und kaum ausreichend institutionalisiert sind. Da ist es auch entlastend, wenn eine Frage neutral aus dem Kartenset vorgetragen wird.

Gleichzeitig bewirken die Fragen eine Anregung des Denkens und fordern die Formulierung eigener Antworten heraus. Nach dem Autor, Fabian Brückner, müssen die aktuellen Fälle in der Gegenwart, also in Echtzeit bearbeitet werden. Die Fragen des Kartensets leiten damit bereits einen Prozess für die Fallbearbeitung ein. Zeigt sich bei der Beantwortung, dass in einem Fall etwas schief gehen könnte, besteht die Chance, sofort gemeinsam zu reagieren. Das wiederholte Arbeiten mit den Karten hat auch den Vorteil, dass es einen Übungs- und Wiederholungseffekt hat, der notwendig ist für eine Kultur der Achtsamkeit. Die verschiedenen Kategorien der Karten bzw. Fragen dienen gleichzeitig dazu, unterschiedliche Perspektiven zu entwickeln: Es geht sowohl um die Kultur der Achtsamkeit in der Organisation wie in der Fallarbeit. Es geht um Lernen aus Erfahrungen, es geht um unterschiedliche Rollenperspektiven und insbesondere die „Warum-Fragen“ fordern in besonderer Weise das Denken.

Fazit

Das Kartenset sei Fachkräften, die insbesondere im komplexen Feld des Kinderschutzes tätig sind, sehr empfohlen. Alltagsroutinen gerade auch durch neue Methoden für die Eigenreflexion und Teamreflexion zu durchbrechen und damit weitere Prozesse anzustoßen, ist zu begrüßen. Die Fragen und Kategorien eignen sich gut für die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Kultur der Aufmerksamkeit in Organisationen.

Rezension von
Martina Huxoll-von Ahn
Der Kinderschutzbund Bundesverband e.V.
stellv. Geschäftsführerin und fachliche Leitung
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Es gibt 27 Rezensionen von Martina Huxoll-von Ahn.

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ISSN 2190-9245