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Andreas Brandhorst, Helmut Hildebrandt et al. (Hrsg.): Kooperation und Integration (Gesundheitswesen)

Rezensiert von Dr. phil. Andreas Meusch, 07.06.2017

Cover Andreas Brandhorst, Helmut Hildebrandt et al. (Hrsg.): Kooperation und Integration (Gesundheitswesen) ISBN 978-3-658-13782-3

Andreas Brandhorst, Helmut Hildebrandt, Ernst-Wilhelm Luthe (Hrsg.): Kooperation und Integration - das unvollendete Projekt des Gesundheitswesens. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2017. 185 Seiten. ISBN 978-3-658-13782-3. D: 59,99 EUR, A: 61,68 EUR, CH: 63,50 sFr.

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Thema

Gesundheitspolitik muss als interdisziplinäre Aufgabe begriffen werden, damit auch zukünftig eine an den Bedürfnissen der Patienten orientierte und bezahlbare Versorgung möglich ist. Das setzt voraus, dass sich das deutsche Gesundheitswesen grundlegend wandelt.

Herausgeber

Andreas Brandhorst und Helmut Hildebrandt waren Co-Vorsitzende der Gesundheitspolitischen Fachkommission der Heinrich-Böll-Stiftung, die 2013 ein Konzept „Wege zu mehr Effizienz, Qualität und Humanität in einem solidarischen Gesundheitswesen“ vorgelegt hat. Andreas Brandhorst ist Referatsleiter im Bundesgesundheitsministerium und war Büroleiter der damaligen Gesundheitsministerin Andreas Fischer. Dr. h.c. Helmut Hildebrandt ist Vorstandsvorsitzender Der Optimedis AG, die sich als Partner für die Integrierte Versorgung versteht und insbesondere durch das Projekt „Gesundes Kinzigtal“ bekannt ist. Der Verwaltungsjurist Dr. Ernst-Wilhelm Luthe war im Dienst des Landes Hessen und des Bundesministers der Finanzen tätig und ist seit 1992 Professor für Öffentliches Recht und Sozialrecht an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, wo er auch das Institut für angewandte Rechts- und Sozialforschung (IRS) leitet. Er hat bereits 2013 ein Buch zu den „Kommunalen Gesundheitslandschaften“ herausgegeben [1].

Entstehungshintergrund

Ausgangspunkt ist die Analyse, dass der Prozess der Überwindung der Sektorengrenzen im Gesundheitswesen in den letzten Jahren ins Stocken geraten ist. Integrierte Behandlungsnetzwerke statt fragmentierter Behandlungsbereiche ist das Ziel einer neuen Gesundheitspolitik, der sich die Herausgeber verschreiben. Das Buch kann eingeordnet werden in eine Fachdiskussion, die auf stärker dezentrale Ansätze zur Steuerung der Gesundheitspolitik setzt und dies als neues Paradigma einer patientenorientierten Versorgung betrachtet. Sollten die Grünen nach der Bundestagswahl der Regierung angehören, darf damit gerechnet werden, dass sie versuchen werden, dieses Konzept zur Grundlage künftigen Regierungshandelns zu machen.

„Das unvollendete Projekt der Moderne“ – an dieses Buch von Jürgen Habermas knüpft der Band nicht nur mit dem Titel an. Sie hängen auch der „durch die moderne Wissenschaft inspirierten Vorstellung (an) vom unendlichen Fortschritt der Erkenntnis und eines Fortschreitens zum gesellschaftlich und moralisch Besseren„ [2].

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in sechs Teile unterteilt:

Im ersten Teil “Einführung“ gibt Ernst-Wilhelm Luthe eine Vorschau auf das Buch und Andreas Brandhorst analysiert die gesundheitspolitischen Reformmaßnahmen seit 1989.

In den fünf Beiträgen des zweiten Teil geht es um “wissenschaftliche Perspektiven von Integration und Kooperation“, die sich nach Luthes Fazit in seinem Kapitelbeitrag „nahezu zwangsläufig mit dem Dezentralisierungsgedanken“ verbinden (S. 65). Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie, beschäftigt sich dann mit dem Management im Krankenhaus und plädiert dafür, dass die Aus- und Weiterbildung dort „ein gerüttelt Maß an Organisationslehre enthalten“ sollte (S. 117). Die Integrierte Versorgung ist die einzige Versorgungsvariante, die eine Versorgung gewährleisten kann, die dem Gesundheitsmodell der WHO gerecht werde, das ist der Kernbefund im Beitrag von drei Mitarbeitern der Abteilung Versorgungsforschung an der Universität Bremen. Professor Dr. Martin Dietrich und Matti Znotka von der Universität des Saarlandes schließen diesen Teil mit einer ökonomischen Perspektive ab und kommen zum Ergebnis dass „längere Betrachtungszeiträume“ der Krankenkassen notwendig seien, um der Integrierten Versorgung zum Durchbruch zu verhelfen (S. 161).

200 Seiten umfasst der dritte Teil, in dem die „relevanten Akteure“ zu Wort kommen. Den Start macht Alf Trojan mit der Perspektive der Selbsthilfegruppen. Bernhard Gigis von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und Christina Tophoven von der Bundespsychotherapeutenkammer beschäftigen sich in einem gemeinsamen Beitrag mit dem Reformbedarf in der ambulanten Versorgung. Professor Dr. Reinhard Busse behandelt mit zwei Mitarbeitern die Rolle der Krankenhäuser, die nach Ansicht der Autoren die Herausforderungen nur durch mehr Kooperation lösen können. Dr. Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelanwendungsforschung in Bremen, sieht in den Machtstrukturen im Gesundheitswesen die entscheidende Ursache für die Probleme in unserem fragmentierten Gesundheitssystem. Alexander Würfel knüpft für den Verband der forschenden Arzneimittelhersteller daran an und betont, wie wichtig es für alle Akteure ist zu lernen, in Netzwerklösungen zu denken. Der Juraprofessor Thomas Klie beschäftigt sich mit der Integration von Rehabilitation und Pflege und plädiert dafür, die Steuerungsverantwortung in die Hand eines einzigen Kostenträgers zu legen. Aus Sicht der gesetzlichen Krankenkassen sehen Franz Knieps vom BKK-Dachverband und Dr. Jens Baas von der Techniker in getrennten Beiträgen trotz des schwierigen Umfelds Chancen für mehr Kooperation und Integration im Gesundheitswesen. Ein klares Bekenntnis zur integrierten Versorgung legen auch die anschließenden Beiträge aus der Sicht der Rentenversicherung und gesetzlichen Unfallversicherung ab. Die Vertreter des öffentlichen Gesundheitsdienstes sehen ihre Organisation als prädestiniert an für eine Koordinierungsfunktion im kommunalen Gesundheitsmanagement.

Rund 150 Seiten umfasst der vierte Teil, der „Ansatzpunkte für Kooperation und Integration“ ausleuchtet. Zunächst skizzieren die Professoren Greß und Stegmüller von der Fachhochschule Fulda Rahmenbedingungen für eine effektive Versorgungssteuerung auf kommunaler Ebene, und der ehemalige Referatsleiter in Gesundheitsministerien in NRW und Brandenburg, Hartmut Reiners, ergänzt in seinem Beitrag Reformperspektiven aus der Ländersicht. Die beiden folgenden Beiträge widmen sich der Qualitätsdimension. Stefan Etgeton von der Bertelsmann-Stiftung zeigt auf, wie Rahmenbedingungen verändert werden müssten, um mehr Qualitätstransparenz zu erreichen und Hans-Dieter Nolting vom IGES Institut ergänzt dies um den Vorschlag, regional differenzierte „Gesundheitsergebnisse“ zu entwickeln, die jährlich morbiditätsspezifisch für Teilpopulationen berechnet werden könnten (S. 430). Zwei Mitarbeiter des AOK-Bundesverbandes behandeln anschließend die Ausgestaltung von Vergütungssystemen und plädieren für Mischformen. Daniel Lüdecke vom Institut für medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) setzt bei der Patientenorientierung unter DRG-Bedingungen und kommt zum Ergebnis, dass Netzwerkstrukturen als Steuerungsinstrument die Patientenversorgung auch auf Dauer verbessern können (S. 462). Für mehr Kooperation und Integration jenseits einer Arztzentriertheit“ (S. 485) plädiert der anschließende Beitrag zur Arbeitsteilung der Gesundheitsberufe und der Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein fordert in seinem Text den Aufbau einer Telematik-Infrastruktur. Im vorletzten Beitrag in diesem Abschnitt stellen die Medizinsoziologen Christopher Kofahl und Alf Trojan das Thema Health Literacy und Selbstmanagement in den Kontext von Kooperation und Integration. Der abschließende Beitrag zum Thema e-Health wertet Erfahrungen aus europäischen Pilotprojekten aus und kommt zum Ergebnis, dass durch e-Health Verbesserungen in der Versorgung möglich sind, die Finanzierung aber nicht immer gesichert ist (S. 530).

Der fünfte Teil umfasst nur zwei Beiträge, die sich mit Lösungsperspektiven auseinandersetzen. Zunächst wird aufgezeigt, dass von Accountable Care Organisationen, wie sie sich in den USA entwickeln, „wichtige Impulse auch für das deutsche Gesundheitssystem“ ausgehen können (S. 548). Mit einem Ländervergleich schließt Ellen Nolte von der London School of Economics and Politics diesen Teil ab.

Es ist den beiden Herausgebern Brandhorst und Hildebrandt vorbehalten, im sechsten Teil „Befund“ nicht nur ein Resümee zu ziehen und Empfehlungen für eine Verwirklichung von mehr Integration und Kooperation im deutschen Gesundheitswesen zu geben.

Diskussion

Bei relevanten Vordenkern im deutschen Gesundheitssystem ist ein Paradigmenwechsel feststellbar. Eine zunehmende Skepsis gegenüber wettbewerblichen Lösungen verbindet sich mit dem Wunsch nach Stärkung der regionalen Ebene, insbesondere der Bundesländer. Die Herausgeber dieses Sammelbandes setzen sich an die Spitze dieser Bewegung, indem sie den Sicherstellungsauftrag für die ambulante wie stationäre Versorgung auf der Landesebene ansiedeln und die Krankenkassen auf der regionalen Ebene zu gemeinsamen und einheitlichen Handeln verpflichten wollen (s. S. 586ff). Sie gehen damit tendenziell in die gleiche Richtung, aber deutlich über das hinaus, was auch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung unter Beteiligung der Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks fordert [3].

Die Überlegungen haben zunächst den Vorteil, dass sie die Verfassung auf ihrer Seite haben, die die Daseinsvorsorge eben nicht dem Bundesstaat, sondern den Ländern und Kommunen zuweist. Das gravierendste Gegenargument liefert allerdings die Realität: Ob die bestehenden Probleme im deutschen Gesundheitswesen dadurch gelöst werden, dass man die Ebenen zu entscheidenden Playern im System macht, die mit ihren bisherigen Aufgaben schon strukturell überfordert sind, daran sind Zweifel nicht nur angebracht, sondern geboten. Das Verfassungsgebot der Schaffung gleichartiger Lebensverhältnisse lässt sich in dem angestrebten System auch nur realisieren, wenn der Bundesstaat enorme Geldmittel zum Strukturausgleich bereitstellt.

Fazit

Die Herausgeber fordern einen Paradigmenwechsel in der deutschen Gesundheitspolitik. Regionalisierung und Kommunalisierung der Steuerung im Gesundheitssystem sind für sie die Schlüssel, um die Sektorengrenzen zu überwinden und mehr Integration und Kooperation zu erreichen.


[1] Luthe, Ernst-Wilhelm (Hrsg.): Kommunale Gesundheitslandschaften, Springer VS (Wiesbaden) 2013;?ISBN 978-3-658-02431-4

[2] Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Die Zeit vom 19. September 1980; http://www.zeit.de/1980/39/die-moderne-ein-unvollendetes-projekt

[3] Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) Positionspapier Patient first. Für eine patientengerechte sektorenübergreifende Versorgung im deutschen Gesundheitswesen., Bonn 2017 ISBN 978-3-95861-780-3; http://library.fes.de/pdf-files/wiso/13280.pdf; S. Abschnitt „Sicherstellung“, S. 16

Rezension von
Dr. phil. Andreas Meusch
Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenshaften (HAW), Hamburg,
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Es gibt 25 Rezensionen von Andreas Meusch.

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ISSN 2190-9245