Peter Hofer: Krisenbewältigung und Ressourcenentwicklung
Rezensiert von Prof. Felix Wettstein, 23.11.2017
Peter Hofer: Krisenbewältigung und Ressourcenentwicklung. Kritische Lebenserfahrungen und ihr Beitrag zur Entwicklung von Persönlichkeit. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 2. Auflage. 536 Seiten. ISBN 978-3-658-15483-7. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 51,50 sFr.
Thema
Das Buch „Krisenbewältigung und Ressourcenentwicklung“ erschliesst Erkenntnisse zur Entwicklung der Persönlichkeit. Diese werden ausgehend von fünf Einzelfallanalysen – fünf erwachsene Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, aber je mit starken Krisenerfahrungen in ihrer Biografie – erschlossen und fallübergreifend gedeutet. Die Erkenntnisse werden sodann mit Theorien aus unterschiedlichen Disziplinen in Bezug gebracht: Von sozialisations- und kulturtheoretischen Ansätzen über Neurobiologie und psychoanalytischen Strukturmodellen bis hin zur Resilienzforschung.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um die bearbeitete Fassung der Dissertation, die der Autor 2014 unter dem Titel «Wenn die Krise zur Ressource wird» an der Sigmund Freud Universität in Wien eingereicht hatte.
Aufbau und Inhalt
Das Buch folgt dem klassischen Aufbau einer Forschungsarbeit.
Einleitend wird das Erkenntnisinteresse illustriert, die Forschungslücke identifiziert sowie der zu erwartende Nutzen insbesondere für die Disziplin der Psychotherapie dargelegt. Das zentrale Forschungsinteresse gilt der individuellen Wahrnehmung und Deutung dessen, was die soziokulturellen Kontexte und die biografischen Erfahrungen zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit beitragen. Es geht dem Autor um positive Ich-Entwicklung, um gelingende Lebensbewältigung nach einschneidenden Krisenerfahrungen. In diesem ganzheitlichen Verstehen von Sinnzusammenhängen, verknüpft mit Kontextfaktoren und individuellen Lösungsstrategien ortet er den Bedarf an neuen Erkenntnissen. Die bisherige Resilienzforschung fragt in der Regel nach generalisierbaren Variablen, die zum Aufbau von psychischen Widerstandsressourcen beitragen. Biografische Fallstudien sind bisher viel seltener zur Theoriebildung genutzt worden.
Es folgt eine grosse Auswahl an theoretischen Bezügen, die dazu dienen, den nachfolgenden biografischen Zugang zu untermauern. In knapp gehaltenen Übersichten werden vier Sozialisationstheorien eingeführt, darunter der symbolische Interaktionismus in der Tradition von George H. Mead und Herbert Blumer. Unter den psychoanalytischen Ansätzen sind insbesondere jene von Interesse, die einen starken lebensweltlichen Bezug suchen, etwa das Stufenmodell der Lebenszyklen von Erik H. Erikson. Weiter spielen neurobiologische Erkenntnisse eine wichtige Rolle, darunter jene zum Erinnern und zum Abspeichern von Erfahrungen. Einen für die Fragestellung zentralen theoretischen Rahmen bildet das Resilienzkonzept. Aus der Kompetenzforschung interessieren insbesondere die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum Selbstbezug sowie der Zugang zu Spiritualität.
Der nächste Schritt entspricht einer ersten theoriegestützten Verdichtung. Ergebnis sind drei Grundhypothesen, die der Autor später mittels Fallstudien überprüfen wird. Die erste Grundhypothese besagt, dass soziokulturelle Kontexte sowie die ganz persönlichen biografischen Entwicklungserfahrungen einen ausgeprägten Einfluss auf das Selbst- und Weltbild eines Menschen haben, auch auf seine Selbstreflexionsfähigkeit, auf sein subjektives Erleben der Krisen und auf die Entwicklung seiner Art der Bewältigung. Die zweite Grundhypothese postuliert, dass eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstreflexion und zum Selbstbezug die gesunde Persönlichkeitsentwicklung sowie die Ich-Stärkung voranbringen würden. Menschen mit diesen Fähigkeiten entwickeln ihre eigenen Lebensgestaltungs-Konzepte und handeln danach. Die dritte Grundhypothese besagt, dass es einschneidende biografische Krisen sind, die eine offene und bewusste Auseinandersetzung mit sich selbst und der Umwelt in besonderem Masse fördern: Mit den hellen und dunklen Seiten der eigenen Persönlichkeit, mit Gefühlen, der eigenen Körperlichkeit, mit vorhandenen Potenzialen und Fähigkeiten.
Gerhard – Irene – Maria – Josef – Vera: Fünf Personen und ihre Geschichten, ihr bisheriges Leben, bilden den umfassenden Mittelteil des Buches. Der Autor hat mit ihnen „biografische Leitfadeninterviews“ durchgeführt, die je 2-3 Stunden dauerten. Methodisch wählte er eine Kombination aus narrativem und problemzentriertem Interview. Der Auswertungsprozess erfolgt in mehreren Schritten und wird differenziert erläutert. Jede interviewte Person wird umfassend vorgestellt (Namen und Ortsangaben sind verändert): die Daten zu ihrem Leben, ihre Lebensgeschichte, die Höhen und Tiefen in der Biografie. Analysiert werden ihre typischen Denkweisen und Verhaltensmuster, ihre persönlichen Deutungen der Umweltfaktoren (positive oder negative Zuschreibungen), weiter die individuell feststellbaren Ressourcen und Resilienzfaktoren sowie die Herausforderungen für eine gesunde Ich-Entwicklung.
Nach diesen fünf Einzelfallstudien folgt eine fallübergreifende Analyse des Interviewmaterials. Es wird nach relevanten Erkenntnissen gefragt, die generalisierbar sind und die sich mit den referenzierten Theorien verbinden lassen. Dabei dienen die oben erwähnten drei Grundhypothesen als Gliederung. Ausgewählte wörtliche Interview-Zitate illustrieren die Zusammenhänge, beispielsweise zur Wirkung von soziokulturellen Kontexten auf die je persönliche Ich-Entwicklung oder auf das Entstehen von individuellen Weltbildern und Glaubenssätzen. Zu jeder Grundhypothese folgen eine Zusammenfassung sowie eine Aufzählung von Erkenntnissen, welche für Fachpersonen „in begleitenden Berufen“ abgeleitet werden können. Die drei Grundhypothesen werden bestätigt, aber auch weiter ausdifferenziert. Beispielsweise wird deutlich, dass nicht von einem Gesamtmass an Resilienz die Rede sein kann, sondern „nur“ von einzelnen Resilienzfaktoren, dass solche auch flüchtig sein können oder sogar zu Belastungsfaktoren werden können. Oder es wird verdeutlicht, dass sich der Kontext in einer Beratungs- oder Therapiesituation von den Alltagskontexten oft deutlich unterscheidet, sodass es nicht erstaunt, wenn Umdeutungsversuche in der Therapie oder Beratung ohne Einbezug der Alltagskontexte fehlschlagen. Ein drittes Beispiel aus den Erkenntnissen: Die zwischenmenschliche Wahrnehmungssensibilität – auch Empathiefähigkeit genannt – ist eine entwicklungsmässige Vorstufe zur Selbstwahrnehmungs- und Selbstbezugsfähigkeit (und nicht etwa umgekehrt).
Diskussion
Erkenntnistheoretisch ist der Autor einem konstruktivistischen Ansatz verpflichtet, was er bereits einleitend deutlich macht: Er verweist in einem Vorspann auf typische Wahrnehmungs-Filter und Wahrnehmungs-Verstärker, auf die Grenzen des bewussten Denkens sowie auf die Allgegenwart von kulturell geprägten Werten und Normen. Diese prägen unter anderem auch unser Verständnis von Krisen und Krankheit. Es ist sehr hilfreich, mit dieser Einleitung die weiteren Ausführungen zu verfolgen. Auf glaubwürdige Weise gelingt es dem Autor zu untermauern, dass Krisenbewältigung auch bei „objektiv“ gleichen oder ähnlichen Umständen sehr individuell ist.
Die textlichen Ausführungen sind oft spiralförmig aufgebaut. In einem frühen Kapitel wird ein thematischer Fächer erstmals aufgespannt, später wird er konkretisiert und neu zusammengesetzt, gegen Schluss wiederum dient er der Einordnung von Interpretationen. Das hat Vor- und Nachteile. Die Vorteile liegen darin, dass der Erkenntnisweg sehr transparent verfolgt werden kann und dass verblüffend viele theoretische Bezüge aus sehr unterschiedlichen Disziplinen aktiviert werden. Es bedeutet aber auch, dass die Lektüre viel Ausdauer und Aufmerksamkeit verlangt. Ein Nachteil könnte darin liegen, dass angesichts der fast zu zahlreichen Modelle, Konzepte und Ansätze einiges zu knapp abgehandelt wird. Beispielsweise werden das Modell der Salutogenese und der Resilienz-Ansatz nahezu in einem Atemzug genannt, ohne ausreichende Klärung der Unterschiede. Auch wird zwischen „persönlichen Ressourcen“ und „Resilienzfaktoren“ nicht klar unterschieden, obwohl die fallübergreifenden Analysen zeigen, dass das Aktivieren von Resilienz eine Krisenerfahrung voraussetzt (was für Ressourcenaktivierung nicht gelten würde).
Schliesslich ist auf die Gefahr von Tautologien hinzuweisen. Die drei Grundhypothesen sind gegenseitig verflochten: Was am einen Ort abhängige Variable ist, wird am anderen Ort zum Ausgangspunkt. Sind nun die Persönlichkeitsmerkmale, welche von einem gestärkten Ich zeugen, Ergebnis der erfolgreichen Bewältigung nach der Krisenerfahrung, oder waren sie bereits Voraussetzung, damit die Bewältigung gelingen konnte? Die Antwort fällt nicht leicht.
Fazit
Das Buch dokumentiert mit hoher Präzision und grossem Detailreichtum den Weg eines qualitativen Forschungsprojekts nach der Methode des biografischen Leitfadeninterviews. Es verbindet das Wissen um die Entstehung von Selbstreflexions- und Selbstbezugsfähigkeiten mit den Einflüssen von Biografie und soziokulturellen Kontexten. Es ergänzt die Literatur zu Resilienz um einen ausgeprägt biografischen Zugang.
Rezension von
Prof. Felix Wettstein
Pädagoge, Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit der FH Nordwestschweiz in Olten, Leiter des Master of Advanced Studies (MAS) Gesundheitsförderung und Prävention, Mitglied der Koordinationsgruppe des Netzwerks Gesundheitsförderung D|A|CH.
Zusätzliche Homepage www.dach-gf.net
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Zitiervorschlag
Felix Wettstein. Rezension vom 23.11.2017 zu:
Peter Hofer: Krisenbewältigung und Ressourcenentwicklung. Kritische Lebenserfahrungen und ihr Beitrag zur Entwicklung von Persönlichkeit. Springer VS
(Wiesbaden) 2017. 2. Auflage.
ISBN 978-3-658-15483-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22585.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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