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Karim Fereidooni (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.06.2017

Cover Karim Fereidooni (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen ISBN 978-3-658-14720-4

Karim Fereidooni (Hrsg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 943 Seiten. ISBN 978-3-658-14720-4.

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Thema

Der Verlust an zivilisiertem Verhalten hat Barbarei zur Folge. Diese von Günter Grass in seinem Beitrag „Asyl und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland“ ( Christoph Burgner, Hg., Rassismus in der Diskussion, Elefanten Press, Berlin 1999, S. 69 ) formulierte Erkenntnis hat an Aussagekraft bis heute nichts eingebüßt. Die lokalen und globalen Kakophonien, die sich in Nationalismen, Fundamentalismen, Ego-Firstismen, Rassismen und Populismen ausdrücken und mit Fake-News und alternativen Faktenauslegungen anscheinend bei den Menschen Aufmerksamkeit finden, erfordern intellektuelle und humane Antworten und Widerstände. Mit der Suche nach einer „transkulturellen Logik“ (Hans Lenk / Gregor Paul, Transkulturelle Logik. Universalität in der Vielfalt, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/22702.php) wird der „Dämonisierung des Anderen“ (Maria do Mar Castro Varela / Paul Mecheril, Hg., Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritk in der Gegenwart, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21724.php) entgegen zu wirken versucht.

Entstehungshintergrund

Zum Stichwort „Rassismus“ werden bei socialnet zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen vorgestellt, die sich mit den menschengemachten, historisch entstandenen und individuell und kollektiv praktizierten Phänomenen auseinandersetzen, dass im menschlichen Mit- und Gegeneinander Zuschreibungen und Klassifizierungen vorgenommen werden, wonach „bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener, biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensgemäß andersgeartete und minderwertige ‚Rassen‘ … angesehen werden“. Es sind primäre Rassismuserfahrungen, die im alltäglichen Umgang entstehen, und es sind sekundäre Einwirkungen, die als Ideologien verbreitet und individuell und gesellschaftlich aufgenommen werden. Die Geschichte des Rassismus lehrt uns, dass Rassismuserlebnisse immer dann wirksam werden können, wenn das Individuum und/oder die Gemeinschaft, der das Individuum angehört, nicht über ethische und moralische Grundlagen verfügt, wie sie z.B. als „globale Ethik“ in der von den Vereinten Nationen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zuoberst zum Ausdruck kommt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“.

Herausgeberteam

Der Politik-Didaktiker von der Ruhr-Universität Bochum, Karim Fereidooni und die Berliner Kultur- und Sozialwissenschaftlerin Meral El geben einen Sammelband heraus, in dem 64 Autorinnen und Autoren in 53 wissenschaftlichen, fachbezogenen und interdisziplinären Beiträgen zum nationalen und internationalen Diskurs zu Fragen der Rassismuskritik Stellung beziehen. Es sind Analysen und Berichte, wie sie in Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Kanada, Niederlande, Österreich und der Türkei thematisiert werden. Mit ihrer Diktion und Komparabilität ermöglichen sie auch Vergleiche zu Situationen und Entwicklungen in anderen Ländern und Regionen.

Aufbau und Inhalt

Der umfangreiche Sammelband wird in sieben Kapitel gegliedert:

  1. Alltagsrassismus
  2. Rassistische Gesellschaftsdiskurse
  3. Rassismus in Institutionen
  4. Rechtsradikalismus
  5. Widerstand und Empowerment
  6. Kritik der Rassismuskritik
  7. Kritisches Weißsein.

Im ersten Kapitel setzt sich die Literaturwissenschaftlerin und „Weißseins-Rassismusforscherin“ von der Universität Bayreuth, Susan Arndt, mit dem Beitrag „Rassismus. Eine viel zu lange Geschichte“ damit auseinander, wie sich rassistische Einstellungen, Haltungen und Aktivitäten zeigen und als „kollektives Erbe“ wirksam sind: „Wer Rassismus in die Schranken weisen… möchte, muss zunächst lernen, was der Rassismus mit uns allen, mit der ganzen Welt und mit jedem Einzelnen angerichtet hat“.

Der Politikwissenschaftler von der Fachhochschule Münster, Aladin El-Mafaalani, der Migrationsforscher vom Frankfurter Leibniz-Institut Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Julian Waleciak, und der Sozialwissenschaftler von der Fachhochschule Dortmund, Gerrit Weitzel, arbeiten mit ihrem Beitrag „Rassistische Diskriminierung aus der Erlebnisperspektive: Theoretische Überlegungen zur Integration von sozialer Ungleichheits- und Diskriminierungsforschung“ einen Erklärungsansatz heraus, „dass die am stärksten Benachteiligten sich am seltensten diskriminiert fühlen“, mit anderen Worten: „Je höher das Bildungsniveau, das Einkommen und die Teilhabechancen, desto häufiger wird von Diskriminierungserfahren berichtet“.

Der niederländische Soziologe Halleh Ghorashi diskutiert mit seinem Beitrag „Rassismus und der ‚undankbare Andere‘ in den Niederlanden“ die öffentlichen Meinungsbildungen, die sich in dem (auch andernorts bekannten) Kampfruf „Die Niederlande den Niederländern“ artikuliert. Er sucht nach den Ursachen und Gründen, die den „absolut Anderen“ in seiner individuellen und kulturellen Andersartigkeit festlegt und kategorisiert.

Jin Haritaworn von der York University in Toronto analysiert mit seinem Beitrag „What´s love got to do with it? Queer lovers, hateful Others and decolonial love“ in englischer Sprache die Rolle und Zuschreibungen von geschlechtlich und sexuell minorisierten Menschen in antirassistischen und antikolonialen Projekten. Er fragt: „How can we fail to be cuddlyfor white supremacy?“.

Die Pädagogin MarianthiAnastasiadou und der Psychologe Athanasios Marvakis, beide an der Aristoteles-Universität in Thessaloniki tätig, setzen sich mit „Rassismus als Einübung in die neoliberale Transformation der griechischen Gesellschaft“ auseinander. Sie kritisieren, dass die alltäglichen Diskriminierungen und Benachteiligungen von Migranten durch staatliche Institutionen unterstützt werden – und damit auch individuelle und gesellschaftliche, rassistische Aktivitäten fördern; andererseits aber auch die Widerstände und die Solidarität wachsen.

Die Erziehungswissenschaftlerin von der Pädagogischen Hochschule Freiburg/Br., Wiebke Scharathow, setzt sich mit ihrem Beitrag „Jugendliche und Rassismuserfahrungen“ mit den Kontexten, Handlungsherausforderungen und Umgangsweisen auseinander, die junge MigrantInnen und Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund tatsächlich und/oder gefühlt erleben. Sie diskutiert die möglichen Strategien, wie z.B.: Ignorieren, Verschweigen oder aggressive Reaktionen, und sie plädiert dafür, „Aufmerksamkeit für die Normalität des Rassismus zu schaffen sowie Diskurskulturen und Umgangsweisen mit Rassismus-(erfahrungen) zu etablieren, die der Komplexität rassistischer Verhältnisse und der Eingebundenheit der Subjekte darin gerecht werden“.

Der Migrationsforscher und Professor für moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen, Haci-Halil Uslucan, thematisiert „Diskriminierungserfahrungen türkeistämmiger Zuwander_innen“. Seine empirischen Studien weisen auf die vielfältigen Auswirkungen von Diskriminierungen hin und entfalten „enorme ethische, gesundheitliche und integrationspolitische abträgliche Wirkungen“, die zudem – an die Adresse der Rassisten, Gesellschaftspolitiker und Alltagsmenschen gerichtet – enormen gesellschaftlichen und ökonomischen Schaden anrichten.

Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Amma Yeboah diskutiert mit ihrem Beitrag „Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland“ die Schwierigkeiten und Lücken in der Gesundheitsversorgung psychisch erkrankter Menschen und plädiert für einen Perspektivenwechsel und Fokussierung vom „Weißsein“ bei der professionellen Versorgung der Bevölkerung, sowie im Alltag. Neben ihrer Tätigkeit als Fachärztin engagiert sie sich auch als Trainerin bei Phoenix e.V. und führt Empowerment-Trainings nach dem sogenannten Phoenix-Ansatz durch. Dieser basiert auf der Erkenntnis, dass „Rassismus sowohl auf der individuellen Ebene ein wesentliches Hindernis bei zwischenmenschlichen Begegnungen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene eine ernstzunehmende Gefahr für den Frieden darstellt“ (Zitat aus einem Interview, Empowerment-Dossier der Heinrich-Böll-Stiftung, 2013).

Das zweite Kapitel „Rassistische Gesellschaftsdiskurse“ beginnt Nurcan Akbulut, Masterstudentin im Bereich Migrationspädagogik an der Universität Bielefeld. Sie informiert über ihre Forschungen zu „diskursive(n) Verfestigungen muslimischer Alterität“, indem sie eine postkoloniale Perspektive auf die dominanten Islamdebatten einnimmt. Den deutlichen, sichtbaren und wirksamen Bemühungen unter MuslimInnen, den ablehnenden autochthonen Positionen positive Gegenbilder entgegen zu setzen, mangelt es nicht selten an wahrnehmbaren und überzeugenden Beispielen. Sie zu erkunden und zu erleben, stellt eine interkulturelle und transreligiöse Herausforderung dar.

Die Orientalistin von der Berliner Alice Salomon Hochschule, Iman Attila, informiert mit ihrem Beitrag „Diskursverschränkungen des antimuslimischen Rassismus“ Forschungsergebnisse bei Rasse-, Geschlechter-, Sexualitäts- und Klassediskursen mit MuslimInnen und zeigt auf, mit welchen bewusstseinsbildenden Mitteln es gelingen kann, „Muslim_in zu sein, auch wenn dies dem Diskurs nicht entspricht, als auch Nicht-Muslim_in zu sein, ohne Muslim_innen zu diskreditieren“.

Die Berliner Juristin und Politikwissenschaftlerin Sabine Berghahn nimmt mit ihrem Beitrag „Die Kopftuchdebatte inDeutschland“ den vielberufenen, konfliktträchtigen und kontroversen Diskurs um das Hijab oder Veil (nicht der Burka oder Niquab) auf. Sie fragt: „Wo bleibt die ‚offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten‘?“. Sie kritisiert die bei Rechtsprechungen, Verfassungsurteilen und Verwaltungsvorschriften gefällten Entscheidungen beim Tragen eines Kopftuchs, etwa einer Lehrerin. Sie mahnt die Kompetenz und die Ehrlichkeit zur Selbstkorrektur an, und zwar „nicht nur innerhalb der Fachjustiz der Arbeits- und Verwaltungsgerichte, sondern auch in den Schulbehörden sowie in den Landesparlamenten und Landesregierungen“.

Der Dortmunder Sozialwissenschaftler Kemal Bozay setzt sich mit „Ethnisch-nationale(n) Homogenitätsvorstellungen, Ethnozentrismus und Migrationsdiskurse(n) im internationalen Raum“ auseinander. An positiven und negativen Theorie- und Praxisdiskursen verdeutlicht er, „dass gegenwärtig im transnationalen Raum mit der Zuspitzung sozialer und ökonomischer Krisen auch eine ethnisch-nationale Homogenisierung von sozialen Konflikten ausgeht“. Er plädiert für ein neues, individuelles und kollektives Verständnis, bei dem „Gleichheit im Unterschied“ verwirklicht werden kann.

Der Politikwissenschaftler von der Universität Duisburg-Essen, Burak Copur, verweist mit seinem Beitrag „1915 – 2015: Hundert Jahre ungelöste Armenierfrage in der Türkei“ auf die Problembereiche, wie sie durch nichtbewältigte, geschichtsverklitternde, -vergessene und -verdrängte ideologische und nationalistische türkische Politik zustande kommen. Es sind die Herausforderungen, wie sie sich innerstaatlich und gesellschaftlich, wie auch inter- und transnational darstellen. Er verweist darauf, dass gerade Deutschland, das mit der Shoa die historische Schuld zu tragen hat und sich zur Verantwortung bekennt, für die Türkei ein Beispiel sein könnte, das Mets Yeghern, den Völkermord an den Armeniern, in die Erinnerungskultur aufzunehmen.

Der Berliner Jugend- und Erwachsenenbildner Jens Mätschke fordert mit seinem Beitrag „Rassismus in Kinderbüchern“ auf: „Lerne, welchen Wert deine soziale Position hat!“. Er lädt zur Entdeckungsreise ein, indem er zehn ausgewählte, neuere Kinderbücher vorstellt, in denen Differenzlinien, Hierarchisierungen und rassistische Exotisierungen deutlich und Prozesse von Sozialisierung deutlich werden.

Die Politikwissenschaftlerin von der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M., Meltem Kulacatan, informiert mit ihrem Beitrag „Der NSU-Prozess aus Sicht der türkischsprachigen Teilöffentlichkeit“ über ihre Forschungsarbeiten. Sie diskutiert die unterschiedlichen, rationalen und emotionalen Beweggründe des Diskurses und verweist auf die meinungsbildenden Zusammenhänge zum gesellschaftlichen institutionellen Rassismus und zum antiislamischen Ethnozentrismus in Deutschland.

Die britische, in Berlin lebende Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo, deren Eltern aus Ghana stammen, engagiert sich u.a. bei der „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“. Bei den 40. Tagen der deutschsprachigen Literatur 2016 in Klagenfurt erhielt sie für ihre Erzählung „Herr Göttrup setzt sich hin“ den Ingeborg-Bachmann-Preis. In ihrem englischsprachigen Text „The Speaker is using the N-Word: A Transnational Comparison (German – Great Britain) of Resistance to Racism in Everyday Language“ spießt sie die Funktionen und Wirkungsweisen von rassistischen Begriffen und Schlagwörtern in vorwiegend „weißen“ Gesellschaften auf.

Der Soziologe von der Pädagogischen Hochschule in Freiburg/Br., Albert Scherr, nimmt sich „Anti-Roma-Rassismus“ vor. Er analysiert die Geschichte und Gegenwart des Antiziganismus und plädiert dafür, „die auch für den gegenwärtigen Anti-Roma-Rassismus charakteristische Wechselwirkung von gesellschaftlicher Benachteiligung und sozialer Ausgrenzung von Roma einerseits mit ihrer Wahrnehmung und Darstellung als sozial unangepasstes ethnisches Kollektiv andererseits in den Blick zu nehmen“.

Der bei der Deutschen Angestellten-Akademie (DAA) tätige Politikwissenschaftler Christopher David Stoop nimmt mit seinem Beitrag „Moscheedebatten in Deutschland zwischen Religionsfreiheit und antimuslimischer Propaganda“ die kontroversen Diskussionen auf, die einerseits von den rechtsradikale, nationalistischen und populistischen, andererseits von fundamentalistischen Kräften bestimmt werden.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Arbeitsbereich Interkulturelle Bildungsforschung an der Universität Köln, Michalina M. Trompeta, formuliert mit ihrem Beitrag „Antiziganismus im neuen Netz“ eine kritische Diskursanalyse zu Diskussionsforen in deutschen Online-Zeitungen. Die Möglichkeiten und Wirkungsweisen von „Online-Kommentaren bieten einen medialen Übergang zwischen privater Meinungsäußerung und öffentlicher Diskussion“ und tragen so in erheblichem Maße zur öffentlichen Meinungs- und Vorurteilsbildung bei. Sie bedürfen der Forschungsaufmerksamkeit.

Im dritten Kapitel wird „(institutioneller) Rassismus in Institutionen“ thematisiert. Der Psychologe und Geschäftsführer des Antidiskriminierungsverbandes Deutschland (advd), dem Dachverband von unabhängigen Anti-Diskriminierungseinrichtungen, Daniel Bartel, die als Rechtswissenschaftlerin beim unabhängigen Antidiskriminierungsbüro Sachsen tätige, Doris Liebscher und die Juristin und Mitarbeiterin der Humboldt Law Clinic Grund und Menschenrechte am Lehrstuhl Öffentliches Recht und Geschlechterstudien der HU in Berlin, Juana Remus, berichten über „Rassismus vor Gericht: weiße Norm und Schwarzes Wissen im deutschen Recht“. Sie zeigen auf „was passiert, wenn People of Color rassistische Diskriminierung und Rassismus vor deutschen Gerichten thematisieren“. Ihre Aussagen – „Justizia ist farbenblind“ und „Justitia ist weiß“ – belegen sie mit zahlreichen Fallbeispielen und fordern zu einem Perspektivenwechsel in der Rechtsprechung auf. „Antidiskriminierungsrecht wird oft immer noch als Gesinnungs- und Befindlichkeitsrecht abgewehrt“.

Der Gießener Sozialwissenschaftler Wolf-Dietrich Bukow und die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg, Karin Cudak, richten mit ihrem Beitrag „Zur Entwicklung von institutionellem Rassismus: Rassistische Routinen in der kommunalen Praxis“ die Aufmerksamkeit auf das Phänomen, dass rassistisches Denken und Handeln oft „in der Mitte der Gesellschaft zu suchen (ist) …, dort, wo die bürgerlichen Leitideen entwickelt, tradiert und umverteilt werden“. An Fallbeispielen zeigen sie sie die scheinbaren selbstverständlichen und „logischen“ Begründungen auf und erklären, „wie sich der institutionelle Rassismus … als ein dialektisch-operierendes Mehrebenen-Unterfangen etabliert“.

Der Jurist und wissenschaftliche Mitarbeiter beim Berliner Deutschen Institut für Menschenrechte tätige Hendrik Cremer thematisiert „Racial Profiling“ als eine menschenrechtswidrige Praxis am Beispiel von anlasslosen Personenkontrollen. Er zeigt auf, wie Sicherheits- und Identitätskontrollen im Rahmen von Fahndungen und Überwachungen zu Menschenrechtsverletzungen führen können, und er plädiert für einen rechtlichen und humanen „Schutz vor Ungleichbehandlung nach unveränderlichen äußeren Merkmalen … (und) vor faktischen Diskriminierungen“.

Hendrik Cremer kritisiert im weiteren Beitrag „Rassismus? – Die Entscheidung des UN-Ausschusses gegen rassistische Diskriminierung (CERD) im ‚Fall Sarrazin‘“ die deutsche Ermittlungs- und Rechtsprechungspraxis. Der UN-Ausschuss hat in seiner Entscheidung vom 4. 4. 2013 zum erfolgten Freispruch festgestellt, „dass Deutschland durch unzureichende strafrechtliche Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft gegen Thilo Sarrazin das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form rassistischer Diskriminierung (ICERD) verletzt hat“. Die Bundesregierung hat bisher auf die Entscheidung von CERD nicht reagiert; eine Revision der bisherigen Praxis gegen rassistische Äußerungen juristisch eher verhalten und zurückhaltend zu reagieren, steht an.

Der Sozialwissenschaftler Pascal Dengler und die Integrationsforscherin Naika Foroutan von der Berliner Humboldt-Universität fragen mit ihrem Beitrag „Die Aufarbeitung des NSU als deutscher Stephen-Lawrence-Moment?“ nach den Ursachen und Gründen der schleppenden und verschleppten offiziellen staatlichen Verfolgungen zum verbrecherischen NSU-Komplex. Sie ziehen dazu Vergleiche zum rassistisch motivierten Mord an dem schwarzen Jugendlichen Stephen Lawrence in London im Jahr 1993 heran und erkennen gemeinsame Züge von institutionellem Rassismus.

Die Pädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Inci Dirim von der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität in Wien, und der Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril von der Carl von Ossietzky-Universität in Oldenburg setzen sich auseinander: „Warum nicht jede Sprache in aller Munde sein darf? Formelle und informelle Sprachregelungen als Bewahrung von Zugehörigkeitsordnungen“. Die Unterschiede in den sprachlichen Dispositionen und Gebräuchen – Elternhaus / Schule / Beruf / Freizeit – bewirken, dass sich Zugehörigkeiten und Ausgrenzungen bilden, Lebens-, Berufschancen und Hindernisse entwickeln, Macht und Ohnmacht zustande kommen, und somit Integration oder Desintegration in der Gesellschaft bewirken. An Beispielen der offiziellen Vorgaben und der inoffiziellen Benutzung der deutschen Sprache in deutschen und österreichischen Bildungseinrichtungen wird aufgezeigt, dass „Schule … gesellschaftliche Ungleichheiten reproduzieren oder. sie problematisieren und einen Beitrag zu ihrer Transformation zu leisten“ vermag.

Die Menschenrechtlerin und Leiterin des Berliner Büros zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG), Vera Egenberger, informiert mit ihrem Beitrag „Stärkung des Diskriminierungsschutzes in Deutschland am Beispiel des AGG“ über die Zielsetzungen und Aufgaben des seit 2006 in Deutschland geltenden „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes“. Sie zeigt auf, dass bei den gesetzlichen Regelungen erhebliche Lücken und Defizite im Vergleich zu den europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien zu verzeichnen sind. Sie bringt konkrete Reformvorschläge ein.

Karim Fereidooni und Meral El diskutieren „Rassismus im Lehrer_innenzimmer“. Sie stellen die Ergebnisse von Forschungsstudien vor, die in den Jahren 2014 und 2015 bei und mit „Lehrer_innen of Color“ durchgeführt wurden. Sie widerlegen damit die (allzu selbstverständlich und wenig kritisch hinterfragte) Auffassung, dass in der Pädagogenzunft Übereinstimmung vorherrsche, dass Rassismus im Selbstverständnis eines demokratischen Rechtsstaates keinen Platz habe; vielmehr zeigen sie auf, dass (auch) in der Lehrerschaft „von der Gleichzeitigkeit egalitätsbetonter Normen und rassismusrelevanter Praktiken ausgegangen werden“ muss.

Die britische Journalistin und Medienwissenschaftlerin Deborah Gabriel informiert mit ihrem englischsprachigen Beitrag „Race, Racism and Resistance in British Academia“ über Forschungsergebnisse und -methoden bei der Ermittlung: „How White Academics Can Address White Racism in the Academy“, und sie berichtet über neue, kulturelle, demokratische Formen und Prozesse für „Race Equality“.

Die Bremer Professorin für Interkulturelle Bildung, Yasemin Karakasglu, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Anna Aleksandra Wojciechowicz setzen sich mit dem Beitrag „Muslim_innen als Bedrohungsfigur für die Schule“ mit der Bedeutung des antimuslimischen Rassismus im pädagogischen Setting der Lehramtsausbildung auseinander. Sie reflektieren die Ergebnisse der „Bremer Grundlagenstudie zur Studiensituation von Lehramtsstudierenden im Migrationskontext“ von 2013 und formulieren Vorschläge, wie in der Lehrerausbildung „Inhalte zur migrationsbedingten religiösen Pluralität und Einstellungen zu muslimischer Religionsausübung … stärker als bisher zum Gegenstand der Weiterbildung von Lehrpersonen wie auch der universitären Lehramtsausbildung (gemacht werden können)“.

Der Direktor des Centre Marc Bloch (CNRS) in Berlin, Fabien Jobard, und der Polizeisoziologe René Lévy vom französischen Justizministerium, referieren über „Polizei, Justiz und rassistische Diskriminierungen in Frankreich“. Sie stellen Ergebnisse von Untersuchungen und Analysen vor und zeigen auf, dass trotz der registrierten und öffentlich diskutierten rassistischen Übergriffe durch Polizisten (in Frankreich, wie auch in Deutschland und einigen anderen Ländern), eine engagierte und wirksame Forschungsdiskussion eingesetzt hat und zu Verbesserungen Anlass gibt.

Die Soziologin Aleksandra Lewicki von der Universität Bristol /Großbritannien stellt mit ihrem Beitrag „Institutionelle Diskriminierung: Rechtliche Möglichkeiten in Deutschland und Großbritannien“ einen Vergleich der unterschiedlichen Rechtsgeschichte der beiden Länder her: „Während in Deutschland vor allem die Kompetenzen und die Vernetzung der Sicherheitsdienste gestärkt wurden, hat die britische Regierung sich sehr viel deutlicher und selbstkritischer zu einer aktiven Vorgehensweise gegen strukturelle Diskriminierung bekannt“.

Die aus Lettlandstammende Autorin, an der Universität in Hamburg lehrende Rechtswissenschaftlerin Elina Marmer konfrontiert Schüler_innen afrikanischer Herkunft mit Rassismus in ihren Schulbüchern: „Man denkt, man kann sich alles erlauben, weil sie Schwarz sind“. Sie zeigt auf, wie Stereotypen über Afrika und die Afrikaner bis heute in den Lehrbüchern und Lernmaterialien vorhanden sind und das „Afrikabild“ von Schülerinnen und Schülern prägen. Die Reaktionen der SchülerInnen, die von der Autorin in Hamburg und München interviewt wurden, rufen nach einer didaktischen, curricularen und methodischen Revision.

Mona Massumi, abgeordnete Lehrerin beim Zentrum für LehrerInnenausbildung der Universität in Köln, fragt: „Internationale Mobilität ohne reflexive Mobilität?“. Ihr Beitrag stellt eine rassismuskritische Auseinandersetzung mit studienbezogenen Auslandsaufenthalten in der Lehrer_innenausbildung dar. Sie bezieht sich dabei auf die von der deutschen Hochschulkonferenz 2008 beschlossenen Initiativen zur „Internationalisierung der Hochschulen“ und auf die 2012 von den 47 Wissenschaftsinister_innen der Bologna-Staaten proklamierte „Mobilitätsstrategie“. Wie zu erwarten, findet die Autorin einige Haare im Eintopf, der „guter Wille“ bezeichnet wird aber wenig Substanz enthält.

Der Sozialwissenschaftler von der Hochschule Esslingen, Claus Melter, widerlegt mit seinem Beitrag „Koloniale, nationalistische und aktuelle rassistische Kontinuitäten in Gesetzgebung und der Polizei am Beispiel von Schwarzen Deutschen, Roma und Sinti“ die politische und gesellschaftliche Einschätzung, dass in der Bundesrepublik Deutschland „rassistische Denk- und Handlungspraxen seitens Politik, Gesetzgebung, Gerichten, Strafverfolgungsbehörden und Polizei insbesondere gegenüber ethnisch, religiös oder rassistisch definierten Gruppen nicht mehr praktiziert werden“. Er weist in mehreren Fallbeispielen nach, dass es zur Erreichung dieses Ziels noch erheblicher ethischer und rechtlicher Anstrengungen bedarf.

Die Juristin und Politikwissenschaftlerin Emilia Roig zeigt in ihrem englischsprachigen Beitrag „Uttering ‚rasce‘ in colorblind France and post-racial Germany“ die Bemühungen in Frankreich und Deutschland auf, den Begriff „Rasse“ aus dem offiziellen, formellen und informellen, politischen und gesetzgeberischen Sprachgebrauch zu entfernen: „The reluctance towards race implies a perplexing orientation of anti-racist and non-discrimination policy, which combat so to say, a racism without races“.

Der Berliner Rechtsanwalt und Mitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Eberhard Schultz, nimmt mit seinem Beitrag „Der Fall Sarrazin im Kontext des anti-muslimischen und institutionellen Rassismus“ ebenso, wie bereits vorher Hendrik Cremer, den kontroversen Diskurs auf, dass das UN-Antidiskriminierungsgremium gegen die Entscheidung der Berliner Richter, Sarrazin vom Vorwurf der Volksverhetzung und rassistischen Diskriminierung freizusprechen, Einspruch erhoben hat. Schultz zeigt auf, „dass in Deutschland der institutionelle Rassismus schlicht ignoriert wird, und dem strukturellen Rassismus in der Gesellschaft kräftig zuarbeitet“.

Die Pädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Technischen Universität in Dortmund, Saphira Suhre, liefert mit ihrer Frage: „Was fokussieren (schul-)pädagogische ‚Inklusionsperspektiven‘ (eher nicht)?“ einen rassimuskritischen Kommentar zur inklusiven Innovation. Sie vermisst in diesem kontroversen Prozess des Anspruchs „Bildung für alle“ von der pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Theorie und Praxis „Aufmerksamkeit und Empfindlichkeit gegenüber den Erfahrungen von Menschen“.

Im vierten Kapitel „Rechtsextremismus“ beginnt der Dortmunder Politikwissenschaftler Dierk Borstel mit Überlegungen zu „Rechtsextremismus und Demokratieentwicklung“. Er stellt dazu einen „offensive(n) Ansatz der Auseinandersetzungen auf kommunaler Ebene“ vor, und zwar, dass formelle und informelle, demokratische und freiheitliche Aktivitäten nicht auf Provokationen und Angriffe von Rechtsextremisten und Demokratiefeinden reagieren, sondern aktiv und strategisch agieren. Das Konzept „Strategiekompass“ bietet die Chance, mit einem „explizit menschenrechtlich fundierten Ansatz und eine(r) politische(n) Kultur vor Ort“ den Angriffen gegen die Demokratie als Lebensform wirksam zu begegnen.

Der Studiendirektor am Berliner Hans-Carossa-Gymnasium, Karim Hassan, analysiert mit seinem Beitrag „Hate Speech im Rechts-Rap“ das rassistische Phänomen der emotional-musikalisch-medialen Beeinflussung. Er zeigt didaktische und methodische Möglichkeiten auf, wie auf rassistischen Hass in der Schule und Jugendbildung geantwortet werden kann.

Die Politikwissenschaftlerin von der Hochschule Fulda, Gudrun Hentges, fragt in ihrem Beitrag „Pegida – Deus ex machina?“. Sie zeigt auf, dass die Parolen, die in der Ideologie der rassistischen und faschistischen Gruppierung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ zu finden sind – Patriotismus, Populismus, Xenophobie und Rassismus – nicht zufällig gesellschaftliche Aufmerksamkeit in Deutschland (und Teilen Europas…) finden, sondern aus der Mitte und nicht von den Rändern der Gesellschaft(en) kommen; was einiges darüber aussagt, wie aufgeklärt die Menschen sind und sein wollen.

Die an der Université de Versailles Saint-Quentin en Yvelines und an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder engagierte Politikwissenschaftlerin Bénédicte Laumond informiert mit ihrem Beitrag „Staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der radikalen Rechten in Frankreich“ darüber, welche offiziellen Aktivitäten im Kampf gegen rechtsradikale Bewegungen ergriffen werden und wirksam oder unwirksam sind.

Die am Centrum für angewandte Politikforschung an der Universität in München tätige Britta Schellenberg zieht mit ihrem Beitrag „Strategien gegen Rassismus und Rechtsradikalismus“ Bilanz: „Drei Jahre nach Entdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)“. Sie erkennt Defizite und fordert „als Konsequenz der bereits bekannten Probleme und Schwächen eine inhaltliche und normative Neuaufstellung der mit dem Thema befassten staatlichen Akteur_innen“, und natürlich eine Intensivierung einer „Bildung für Demokratie und Menschenrechte“ auf allen gesellschaftlichen Ebenen.

Der Berliner Soziologe Savas Tas informiert mit seinem Beitrag „Die türkischen Ulkücüs im transnationalen Raum“ über die Entstehungsgeschichte, Entwicklungen, Organisationen, Zielsetzungen, Ideologien und Symbolverwendungen der türkisch-nationalistischen, rechtsextremen Ülkücü-Bewegung („Bewegung der Idealisten“) und ihre internationalen Vernetzungen, auch in Deutschland. Die Anhänger und Sympathisanten organisieren sich in der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP), die in der Türkei mit rund 11 % der Stimmen dafür eintritt, die türkische Nation politisch, territorial, kulturell und religiös als Führungsmacht zu etablieren. Durch die neuen Kommunikationstechnologien und Medien erringen die Ülkücüs in der türkischen Community in Deutschland insbesondere bei hier geborenen und aufgewachsenen türkischstämmigen Jugendlichen Einfluss.

Das fünfte Kapitel „Widerstand und Empowerment“ eröffnet die am Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz studierende Emine Aslan. Als Vorstandsmitglied von „#SchauHin“, einer Initiative gegen Rassismus und Mehrfachdiskriminierung und engagiert bei den studentischen Aktivitäten „People of Color“ wirft sie die Frage auf: „Wem gehört der Campus?“. Sie thematisiert die Situation: „Weiße Unilandschaften und Widerstandsformen von Student_innen of Color in Deutschland“. Sie zeigt an Beispielen die Möglichkeiten auf, wie das „weiße Curriculum“ beim Studium interfragt, kritisiert und revidiert werden kann und Instrumente geschaffen werden können, um ethnizistische und rassistische Strukturen zu erkennen, bewusst zu machen und zu verändern.

Die an der Universität in Bremen tätige Lektorin Aysun Dogmus berichtet in ihrem Beitrag „Empowerment im Lehramtsstudium“ über Erwartungshaltungen, Forderungen und Erfahrungen von Lehramtsstudierenden mit Diskriminierungs- und Rassismuserinnerungen. Sie nimmt die Forschungsergebnisse auf, wie sie in der Grundlagenstudie „Zur Bedeutung des Migrationshintergrunds im Lehramtsstudium“ (2013) deutlich wurden und zeigt Initiativen zur Schaffung von Empowerment-Räumen für die Zielgruppen und ihr Umfeld auf.

Meral El und die Berliner Rechtsanwältin Mayram Haschemi Yekani informieren über „Beschwerdestellen gegen Diskriminierungen in Bildungseinrichtungen“. Diskriminierungsfreie Bildung wird zwar in den Schulgesetzen, im Antidiskriminierungsgesetz und im Grundgesetz garantiert; jedoch in den weisungsgebenden und hierarchischen Ordnungen der Schulverwaltung und -aufsicht sind Beschwerden gegen Diskriminierung nur schwer durchzusetzen. Die Autorin schlägt deshalb die Einrichtung von unabhängigen Beschwerdestellen vor.

Die Journalistin und Moderatorin mit nigerianischen Wurzeln, Nkechi Madubuko, fordert: „Empowerment als Erziehungsaufgabe“. Sie formuliert „Verarbeitungsstrategien gegen Rassismuserfahrungen von binationalen Kindern und Jugendlichen“. Sie appelliert an die Eltern, Erziehungsberechtigten und an das Umfeld der Betroffenen, für Selbstbewusstsein einzutreten, das „nicht auf dem Gefühl des Ausgeliefertseins von Vorurteilen fußt, sondern die eigene Herkunft mit Wissen und Stolz (zu) besetz(en)“.

Im sechsten Kapitel „Kritik der Rassimuskritik“ diskutiert die Diplom-Theologin und Leiterin des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen, Anne Broden, „Rassismuskritische Bildungsarbeit. Herausforderungen – Dilemmata – Paradoxien“. Sie verweist auf eine Reihe von Zu-Mutungen bei der Konstruktion und Auseinandersetzung mit den Anderen als die Anderen. Die Wege hin zu dem Bewusstsein, dass der Andere ich selbst bin, sind in der Wirklichkeit des individuellen, kulturellen und interkulturellen Umgangs mit anderen (fremden) Menschen schwergängig, nicht selten irrwegig. Sie bedürfen einer selbstbewussten, kritischen, aufgeklärten und menschenwürdigen Identität.

Die Waliser Bildungs- und Migrationsforscherin Heike Diefenbach formuliert mit ihrem Beitrag „Rassismus und Rassismuskritik“ kritische Anmerkungen zum neuen Rassismusdiskurs in der deutschsprachigen Öffentlichkeit und in den Sozialwissenschaften. Sie bemängelt, dass „der inflationäre Gebrauch des Begriffs ‚Rassismus‘ und verwandter Begriffe … den Eindruck erweckt, der Rassismusvorwurf sei nicht substanzierbar, sondern bloß ein theoretisches Mittel zur Diskreditierung anderer Personen und Auffassungen“. Sie bringt in den Diskurs alternative Denk-, Begriffs- und Handlungsperspektiven ein, um Verharmlosungen oder Kategorisierungen zu entgehen: „Es sollte nicht versucht werden festzustellen, ‚um wen es geht‘, sondern danach gefragt werden, um was es geht“, z.B. um Stereotypisierung, Stigmatisierung, Fremden(Menschen-)hass oder institutionelle Diskriminierung.

Die Erziehungswissenschaftlerin und Erwachsenenbildnerin von der Universität Darmstadt, Astrid Messerschmidt, ordnet mit ihrem Beitrag „Rassismusthematisierungen in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus und seiner Aufarbeitung“ den gegenwärtigen, deutschen Rassismusdiskurs „als postnationalsozialistische Konstellation“ ein. Damit, so stellt sie fest, hat sich im Bildungs- und Erinnerungsbeusstsein vor allem von autochthonen Jugendlichen der Eindruck festgesetzt, dass der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Rassismen und Taten Genüge getan sei, wie bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund, dass die historische deutsche Geschichte sie nichts anginge. Damit aber wird die Herausforderung blockiert, danach zu fragen, wie Ideologien zustande kommen und wirken, „die aus Anderen Fremde machen“.

Im siebten, letzten Kapitel des Sammelbandes geht es um „Kritisches Weißsein“. Der Sozialwissenschaftler von der kanadischen Universität in Québec, Paul R. Carr, thematisiert mit seinem englischsprachigen Beitrag „Whiteness and White Privilege: Problematizing Race and Racism in a ‚Color-blind‘ World and in Education“, das interkulturelle Konzept von „Critical Whiteness“ (vgl. dazu auch: Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt, Hg., Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Unrast-Verlag, Münster 2005, 540 S.). Carr zeigt an Beispielen aus Kanada auf, wie Critical Whiteness Studies dazu beitragen können, ethnozentrierte Macht und Privilegien durch Bildungs- und Aufklärungsprozesse aufzuheben.

Die Kindheitswissenschaftlerinnen Annika Stark von der Berliner Humboldt-Universität und Anika Noak aus Reykjavik/Island reflektieren in ihrem Beitrag „Die Vermittlung von herrschaftskritischem Wissen: Kindheitswissenschaftlich relevante Interventionen in rassistischen und sexistischen Gesellschaftsverhältnissen“. Die Sozialisationsbedingungen bei vorherrschenden sozialen Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsstrukturen bewirken Ungleichheit. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen braucht es Selbstbestimmung und die Erkenntnis der Selbst- und Weltverhältnisse. Die Autorinnen zeigen Möglichkeiten auf, wie ein emanzipatorisches Bewusstsein bei Kindern und Jugendlichen gefördert werden kann; sie bringen dazu den „Akteur_innenstatus“ ein (vgl. dazu auch: Bruno Latour, Akteur-Netzwerk-Theorie).

Der an der Universität in Köln tätige interkulturelle Bildungsforscher Tim Wolfgarten bringt mit dem Schlussbeitrag „Seeing through race: Der Fokus auf die eigene Rezeptionsgewohnheit als Ansatzpunkt rassismuskritischer Bildungsarbeit mit dem Medium Bild“ visuelle Aspekte ein und belegt sie mit dem Praxisbeispiel „Migration im kulturellen Gedächtnis“. Die Handhabung mit der Phantasie, den eigenen Wahrnehmungen und den visuellen und haptischen Bildern kann Empathie und Distanz bewirken, vorhandene Informationen reflektieren und relativieren und Erfahrungsorientierung möglich machen.

Fazit

Mit dem umfangreichen, interdisziplinären Sammelband „Rassismuskritik und Widerstandsformen“ liegt ein Werk vor, dass das Herausgeberteam und die Autor_innen „allen Menschen widmen, die Rassismus erleben und sich dagegen engagieren“. Es ist eine Bestandsaufnahme zum historisch gewachsenen, menschengemachten und gesamtgesellschaftlichen Phänomen, den Anderen, den Fremden, den Unbekannten in seiner Individualität, kulturellen und weltanschaulichen Identität herabzuwürdigen, als minderwertig zu betrachten und zu klassifizieren. Gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit kann und muss etwas unternommen werden: Individuell und kollektiv, lokal und global. Die Lehre kann deshalb nur lauten: Wenn, in Anlehnung an das Argument in der Präambel der Verfassung der UNESCO vom 16. November 1945, rassistisches Denken und Handeln in den Köpfen der Menschen entsteht, müssen auch die Bollwerke der Aufklärung und Bildung im Geist der Menschen errichtet werden!

Der Sammelband richtet sich an Dozierende und Studierende der Soziologie und der Politikwissenschaft, sowie an Praktiker_innen in diesen Bereichen. Das Buch sollte aber auch in den öffentlichen Bibliotheken und in den Schul- und Erwachsenenbildungseinrichtungen bereit stehen. Die für die gegenwärtige und zukünftige, humane Menschheitsentwicklung wichtige und existentielle Herausforderung wird auch im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de/rezensionen/ differenziert und ausführlich vorgestellt.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1706 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245