Frank Eckardt (Hrsg.): Schlüsselwerke der Stadtforschung
Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 13.06.2017
Frank Eckardt (Hrsg.): Schlüsselwerke der Stadtforschung. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 468 Seiten. ISBN 978-3-658-10437-5. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.
Thema
Nicht nur, dass mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in den Städten wohnt. Wie auch immer man in diesen Städten wohnt und wie auch immer sie gestaltet sind – in vielen Kulturkreisen ist die städtische Lebensweise zu einer mehr oder weniger selbstverständlichen gesellschaftlichen Lebensform geworden.
Und die Stadt ist in den Fokus der Wissenschaften geraten, die sich mit den Formen eines gesellschaftlichen Zusammenlebens beschäftigen. Die Verschiedenheit der Städte und die Unterschiede des Lebens in ihnen fragt nach dem Selbstverständnis, mit dem wir von der Stadt als Daseinsform sprechen. Nicht nur die Dichte des Zusammenlebens, die Größe der Stadt und die Heterogenität der in der Stadt lebenden Menschen gerät in das Zentrum des Forschungsinteresses. Es sind auch Fragen der Strukturprobleme heutiger Städte, die Frage nach ihrer Urbanität und der mit ihr verbundenen Widersprüchlichkeit und Ungewissheit städtischen Lebens, Fragen ihrer sozialräumlichen Segregation, ihrer Schrumpfung und deren Folgen, die auf der Agenda einer Stadtforschung stehen.
Herausgeber
Dr. Frank Eckardt ist Professor für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung am Institut für Europäische Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar.
Autorinnen und Autoren
Die Autorinnen kommen aus den Bereichen der Stadtsoziologie, der Stadtanthropologie und -ethnologie, der Kultur- und Geschichtswissenschaften, der Politikwissenschaften und der Philosophie sowie der Human- und Stadtgeographie.
Aufbau
Nach einer Einleitung durch den Herausgeber gliedert sich das Buch in fünf größere Kapitel mit jeweils mehreren Beiträgen:
- Die spätmoderne Stadt
- Transformierte Materialität
- Grenzen der Urbanität
- Marginalisierte Stadt-Perspektiven
- Stadt als Polis
Am Schluss befindet sich ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. Jeder Beitrag schließt mit einer ausführlichen Literaturliste.
Zur Einleitung
In seiner Einleitung beklagt der Herausgeber, dass trotz der Bedeutung, die die Stadt als Lebensraum und Daseinsform erfahren hat, trotz der durchaus richtig zur Kenntnis genommenen Probleme und Strukturfragen und trotz der damit verbundenen Herausforderungen an Stadtentwicklung und Stadtpolitik von einer institutionalisierten und integrativen Stadtforschung nicht die Rede sein kann. Gesellschaftliche und globale ökologische Veränderungen wie der Klimawandel werden zwar im Zusammenhang mit der Stadt diskutiert, aber nicht auf die historische Realität der Stadtentwicklung bezogen.
Dagegen versucht dieser Band eine grundlagenorientierte Stadtforschung zu ermöglichen. Dabei wird von einem interdisziplinären Ansatz ausgegangen, der deutlich machen soll, dass die hier vertretenen Schlüsseltexte mit unterschiedlicher Sprache und Begrifflichkeit ähnliches unter der Stadt verstehen.
Der Autor beschreibt dann den stadtsoziologischen Zugang zur Stadt, der den Architekten und Stadtplanern besser gelingt als der Soziologie selbst. Der Autor beklagt diesen Umstand und auch, dass viele Strukturentwicklungen der Stadt wie das der Gentrifizierung nach langer „Sendepause“ erst jetzt wieder von einigen jüngeren Wissenschaftlern aufgenommen werden.
Die hier versammelten Schlüsselwerke sind nicht unbedingt der Referenzrahmen der Stadtforschung. Sie haben in anderen Disziplinen einen anderen Stellenwert. Umso wichtiger erscheint es Eckhardt, diese Texte zusammenzuführen.
Im weiteren Verlauf der Einleitung wird auf die einzelnen Beiträge eingegangen und die Überschriften der einzelnen Kapitel begründet.
Zu 1. Die spätmoderne Stadt
Zu: Benjamin R. Barber: If Mayors Ruled the Word (Janne A. Kieselbach)
Zu Beginn seines Beitrags stellt der Autor B. R. Barber vor und stellt fest, dass die Beschäftigung Barbers mit Partizipationspotentialen und -strukturen im Verhältnis zu lokalen Strukturen und Kulturen in seiner Biographie begründet ist. Auch damit, dass sich Barber weniger mit der akademischen Welt auseinandersetzt und seine Thesen eher publikumswirksam in die Welt setzt, setzt sich der Autor auseinander. Und sie sind publikumswirksam; denn Barber argumentiert, dass Bürger durch wirksame Beteiligungsmöglichkeiten aus ihrer gefühlten und tatsächlichen Machtlosigkeit herausgeführt werden müssten. Denn Bürger brauchten das Gefühl der Zugehörigkeit, des Vertrauens und der Solidarität in lokalen Lebenszusammenhängen.
„Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Städte“ zitiert der Autor Barber, der wiederum einen ehemaligen Bürgermeister von Denver zitiert. Daher der Titel des Beitrags, der zugleich der Titel eines Buches ist. Der Nationalstaat verliert sein Integrationspotential, was nunmehr die Städte entwickeln. Dieser Argumentation geht der Autor auf den Grund und erläutert sie ausführlich. Die physische Nähe des Zusammenhalts, die Teilhabe an einer gemeinsamen urbanen Öffentlichkeit, soziale Verortung in unmittelbare lokale Lebenszusammenhänge sind Grundlagen einer demokratischen Kultur, die nach Beteiligung aller an allen Entscheidungen ruft. Auch dies wird entfaltet. Weiter sind Städte networks societies, sie haben einen kooperativen Charakter. Und Städte werden durch Persönlichkeiten vertreten, die kulturell und urban verwurzelt sind und zugleich global vernetzt sind: die Bürgermeister. Die begründet der Autor ausführlich bevor er zu einer Einordnung in Barbers Gesamtwerk kommt. Der Autor ordnet sein demokratisches Modell des Bürgerengagements in eine von Barber entwickelte normative Theorie einer partizipativen Demokratie ein. Seine These der lokalen Verankerung demokratischer Politik trägt Züge des Kommunitarismus, der sich als Kritik an einem auf einen erstarkenden Liberalismus in den USA verstand. Auch dies wird ausführlich diskutiert.
Zuletzt geht der Autor auf die Wirkung und Kritik ein, mit der er Barber in die auch heute stattfindende Diskussion einbettet.
Zu: Saskia Sassen: The Global City (Boris Michel)
In der Auseinandersetzung mit lokalen Prozessen der Urbanisierung stellt der Beitrag von Saskia Sassen fest, dass diese Prozesse in einen globalen Kontext eines sich entwickelnden Kapitalismus gestellt werden müssen – so der Autor. Städte sind demnach Ausdruck und funktionaler Bestandteil eines kapitalistischen Systems, das weltweit agiert. Gleichzeitig sind Städte in ein hierarchisches globales Städtesystem eingeordnet, das auch die ungleiche Entwicklung des globalen Kapitalismus widerspiegelt.
Diese zentrale These Sassens wird vom Autor aufgegriffen und erläutert. Seinen Beitrag versteht der Autor als Einführung in das Buch „The Global City“.
Anschließend diskutiert der Autor den Kontext politökonomischer Stadtforschung und einer neuen Stadtsoziologie seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der Hintergrund von Global City ist die Entwicklung von Weltstädten im Zuge des globalen Kapitalismus und die damit veränderten sozialen und ökonomischen Strukturen. Als Zentren für die Organisation der globalen Ökonomie und Schlüsselorte der Finanzindustrie und der unternehmensbezogenen Dienstleistungen sowie als Orte der Produktion von Innovationen und als Märkte für die Produkte nehmen die Weltstädte eine zentrale Rolle ein, die über die Funktion als Orte des internationalen Handelns hinausgehen.
Sassens Buch befasst sich in seinem zweiten Teil mit drei empirisch untersuchten Städten und ihrer ökonomischen Ordnung. Sassen stellt dabei fest, dass diese Städte eine spezifische Infrastruktur aufweisen, die notwendig ist, wenn diese Städte eine strategische Bedeutung für das Finanzkapital haben sollen.
Eine bedeutsame Frage ist dabei auch die nach der sozialen Ordnung der Global Cities, nach der sozialen Verteilung der Erträge und Lasten. Dies deutet auf Veränderungen der Sozialstruktur hin und auf soziale Ungleichheit.
Deshalb begründet Sassen in ihrem dritten Teil die zunehmende soziale Spaltung der Städte in eine formelle Struktur hoch dotierter Positionen und einem wachsenden informellen Sektor prekärer Arbeits- und Lebensverhältnisse.
Nach der ausführlichen Rezension des Buches geht der Autor ausführlich auf die Wirkungsgeschichte ein und schließt mit einer eigenen Einschätzung, die noch einmal mit den Protagonisten der Kritik unterlegt wird.
Zu: Edward W. Soja: Thirdspase (Alexander Krahmer)
Der Autor beschreibt den Geographen Soja als einen Vertreter der Los Angeles School, der sich mit den veränderten geopolitischen Ökonomien im globalen Maßstab wie in deren Folgen für die räumlichen Restrukturierungsprozesse beschäftigt hat. Die Stadt besteht demnach nicht als eine geschlossene Einheit, die vom Zentrum her zu denken ist. Eher geht es um Multizentralität und Fragmentierung einer spätmodernen Stadt. Soja stellt ein gewachsenes Raumbewusstsein fest, hinter dem er makro-ökonomische und (geo)politische Strukturveränderungen vermutet. Dies wird vom Autor erläutert, ehe er dann zu Annäherungen an „Thirdspace“ kommt. Diese Arbeit wird vom Autor ausführlich rezensiert.
In einem Exkurs geht der Autor auf Lefebvres espace vécu ein. Soja diskutiert die drei Raumbegriffe Lefebvres, die er für bedeutsam hält, die er aber teilweise uminterpretiert. Weiter diskutiert der Autor, wie Soja mit Theorien der Critical Cultural Studies umgeht. Weiter referiert der Autor Sojas Suche nach konkreten Beispielen zu seiner Theorie, einer Theorie, die eine „City without Cityness“ (eine Stadt ohne Urbanität?) begründet.
Weiter diskutiert der Autor Thirdspace und das damit verbundene Raumverständnis ausführlich und unterlegt diese Diskussion mit entsprechender Literatur.
Zu: Richard Florida: The Rise of Creative Class (Janet Merkel)
Was macht Städte zu Orten der Innovation und der Kreativität und gibt es einen Zusammenhang zwischen kreativen Prozessen und dem städtischen Raum? Diese Frage verbindet die Autorin mit dem Wirtschaftsgeographen R. Florida. Die Autorin referiert zunächst, warum das 2002 erschienene Buch „The Rise of Creative Class“ so erfolgreich war, so dass Florida eine völlig überarbeitete Fassung (The Rise of Creative Class, Revisted) 2012 publizierte.
Floridas Stadtentwicklungstheorie verbindet soziologische und regionalökonomische Debatten, in die er engagiert involviert war und diese Theorie knüpft an einige der Protagonisten des gesellschaftlichen Wandels und der Stadtentwicklung und -planung an (Bell, Inglehardt, J. Jacobs). Aus diesen Ansätzen entstand eine städtische Wachstumstheorie, die auf der Annahme beruht, dass Kreativität zu der entscheidenden Produktivkraft geworden ist, die auch Ressource in der Konkurrenz ist.
So entsteht eine neue soziale Klasse, die sich aus zwei Gruppen zusammensetzt: aus dem superkreativen Kern, der Neues hervorbringt und den kreativen Professionellen, die als Anwälte, Ärzte oder Manager Probleme finden und lösen.
Floridas Schlussfolgerung ist dann, dass die Arbeitsplätze den Menschen folgen, die man braucht, um Wachstum zu generieren und davon profitieren die Städte als Lebensräume dieser neuen Klasse. Denn diese kreative Klasse sucht Erfahrungsräume einer kulturellen Diversität und einer kulturell und sozial attraktiven Urbanität. Und sie sucht die soziale Verortung in lokalen Lebenszusammenhängen des Quartiers, das gleichsam strukturell auf die Gesamtstadt bezogen ist und in einen gesamten städtischen Raum eingebettet ist.
Diese Thesen werden ausführlich diskutiert und mit Zitaten unterlegt, bevor die Autorin zu der Bedeutung und Rezension Floridas in der Stadtforschung kommt. Diese Kritik bezieht sich sowohl auf die empirisch-analytische Ebene, als auch auf die konzeptionell-theoretische und die akademisch-professionelle Ebene. Diese Ebenen werden ausführlich erörtert und diskutiert. Weiter diskutiert die Autorin kritisch Aspekte einer kreativen Stadtpolitik und fragt zum Schluss, ob es eine post-kreative Stadt gibt.
Zu 2. Transformierte Materialität
Zu: Simon Parker: Urbanism as Material Discourse (Anna-Lisa Müller)
Die Autorin stellt zunächst den britischen Forscher S. Parker vor, dessen Forschungsinteressen in diesem Artikel Urbanism as Material Discource am ehesten zusammengefasst sind. Sie referiert dabei zwei zentrale Prämissen Parkers:
- Die Stadt ist immer ein Doppel aus gelebtem und physischem Raum und dem kollektiven Gedächtnis, das aus dem Wissen, den Erinnerungen und Repräsentationen lebt (Materialität).
- Daraus erwächst eine urbane Kultur, die entscheidend als Erzählungen und Interpretationen von der Stadtbevölkerung als alltägliche Praxis hervorgebracht wird (Diskurs).
Diese Annahmen werden von der Autorin in Rekurs auf Ricoeurs Arbeiten und der Lektüre der Marx´schen Texte ausführlich beschrieben und diskutiert. Sie fragt dann welchen Bezug dieser Text zum Gesamtwerk Parkers hat. Auch hier werden wieder zwei Annahmen referiert, die sich durch das Gesamtwerk ziehen:
- Sprache und Diskurs haben eine entscheidende Bedeutung bei der Konstitution dessen, was unter einer Stadt verstanden wird.
- Diejenigen, die die Stadt erforschen, stehen selbst im Fokus der Betrachtung. Als „urban tourists“ sind sie auch Kritiker des Städtischen und haben die Aufgabe, die Stadt als „multi-authored work“ zu konzipieren.
Auch dies wird ausführlich erörtert.
Im Folgenden geht es um die Wirkungsgeschichte und Kritik, wobei auf die Rezeption der Arbeiten Parkers in der Stadtforschung eingegangen wird. Dabei sind zwei Aspekte der Rezeption von Bedeutung: die Beschreibung der Theorien allgemeiner und zeitgenössischer Stadtentwicklung (1) und die Arbeiten zur Recht-auf-Stadt-Bewegung (2). Dies wird mit Verweis auf die entsprechenden Autorinnen und Autoren belegt.
Zu: Rem Koolhaas: Delirious New York (Heike Oevermann)
Die Autorin erläutert zunächst den Hintergrund von Rem Koolhaas Ansatz und bettet ihn biographisch ein.
Koolhaas beschäftigt sich mit der Metropole New York und die Autorin referiert die Diskussion um dessen Ansatz. Demnach hat der Architekt Koolhaas drei Neuerungen der Stadtforschung eingeführt. Einmal verbindet er in seinem Buch „Delirious New York“ Stadtbaugeschichte und Architektur mit einer fiktiven, imaginären und bildhaften Beschreibung der Metropole. Zum zweiten nimmt Koolhaas Stadtrandphänomene und kapitalistische und globale Prozesse in den Blick, was Einfluss auf den Metropolenbegriff hat und drittens versteht er Dichte nicht nur als dichtes Zusammenleben, sondern sieht sie von der Struktur her, die durch die unterschiedlichen Aktivitäten und Raumnutzungsstrategien notwendiger Weise gestaltet werden muss. Dies entfaltet die Autorin dann im weiteren Verlauf ihrer Darstellung und kommt dann zu zwei zentralen Konzepten, die Koolhaas in anderen Arbeiten entwickelte, nämlich Manhattenism und Culture of congestion. Manhattenism bedeutet vertikale Verdichtung in Verbindung mit dem Großstädtischen; culture of congestion steht für die großräumige horizontale Verdichtung wie sie Ballungsräume kennen. Auch dies wird ausführlich erörtert und in Zusammenhang mit dem innovativen Charakter der Ansätze diskutiert.
Zum Schluss geht die Autorin noch auf andere Werke ein und diskutiert den Zusammenhang mit dem zitierten Buch.
Zu: Thomas Sieverts: Zwischenstadt (Vera Vicenzotti)
Einleitend stellt die Autorin Thomas Sievert und sein Konzept der Zwischenstadt vor.
Dieser Begriff der Zwischenstadt ist mittlerweile zu einem Topos in den vor allem deutschen städtebaulichen und stadtplanerischen Diskursen geworden. Quasi zwischen dem Ideal der europäischen Stadt und dem eher ländlich geprägten und landschaftlich eingebetteten Formen des Zusammenlebens wohnt ein Großteil unserer Bevölkerung in Siedlungsformen, die weder das eine noch das andere sind. Dies wird im Zusammenhang mit dem Werdegang von Sievert als Stadtplaner und Architekt beschrieben. Zwischen Stadt und Landschaft wird die Zwischenstadt als Identitätsträger verstanden, die gleichsam dem Mythos der alten Stadt entgegensteht. Das verbindet Sievert auch mit einem Plädoyer für einen neuen Typ der Regionalplanung, der das Verhältnis von Ästhetik und Unordnung und dem Maß an Ordnung und Harmonie auszutarieren vermag.
Ausführlich wird die Rezeption dieses Konzepts von der Autorin diskutiert, die von einer harschen Kritik an dem Versuch einer urbanistischen Modellbildung mit esoterisch-holistischem Ganzheitsanspruch und mit einer geringen historischen und intellektuellen Belastbarkeit (so Mönniger) bis zum den Verfechtern reicht, die in der Zwischenstadt in der Tat einen neuen Stadttypus sehen, aber nicht jenseits der europäischen Stadt.
Zu: Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff (Nina Gribat)
Nina Gribat führt zunächst in die Gedankenwelt des Schweizer Soziologen L. Burckhardt als Querdenker ein, der auch in Deutschland einen Namen hat. Er hatte als Professor in Kassel maßgeblichen Einfluss auf die Neuausrichtung der Architektur- und Stadtplanungslehre. Ausgehend von Erfahrungen im Erdbebengebiet Sizilien plädiert er für den „kleinstmöglichen Eingriff“. Das bedeutet gleichsam einen Abschied von einer umfassenden und großmaßstabmäßigen Gesamtplanung. Die wird von der Autorin erläutert; sie geht dabei auch auf die von Burckhardt geäußerten Kritik am Bauwesen ein und erläutert dann das Prinzip des kleinstmöglichen Eingriff im Kontext einer Gesamtkonzeption. Sie diskutiert dann Burckhardts Vorstellung von Landschafts- und Ortsbildern und dessen Plädoyer für eine systemische Sichtweise auf Prozesse des Bauens, der Planung und der Landschaft. Weiter wird das Verhältnis dieses Konzepts des kleinstmöglichen Eingriffs zum Gesamtwerk gesehen und die Wirkungsgeschichte erörtert.
Zu: Ivan Chtcheglov: Formular für ein neuen Urbanismus (Jörn Etzold)
Der Autor beschreibt in einer Kurzbiographie Chtcheglovs zugleich den Kontext, in dem sein Denken angesiedelt ist. Es ist die „Internationale Situationniste“, ein Zusammenschluss europäischer Avantgarde-Künstler, die sich in Paris formierte und als ein Zusammenschluss von radikal marxistischen Gesellschaftskritikern erheblichen Einfluss auf die Ereignisse in Paris 1968 hatte. Es geht um Chtcheglovs situationistischen Stadttheorie, die sich gegen eine durchrationalisierte moderne Stadt wandte. Vor dem Hintergrund der Debatte um die Stadt der Zukunft, die maßgeblich von dem Konzept Le Corbusiers getragen war, entwickelte Chtcheglov die Idee einer Remythologisierung der Stadt als einem abenteuerlichen, lebendigen und beweglichen Lebensraum (164 f.). Dies wird ausführlich erörtert, um dann auf die Wirkungsgeschichte ausführlich einzugehen, die mit entsprechender Literatur gründlich untermauert wird.
Zu: Michel de Certeau: Kunst des Handelns (Jörg Bernardy, Hanna Klimpe)
Das Multitalent Michel de Certeau wird einleitend vorgestellt und seine Bedeutung für die Stadtforschung hervorgehoben. Als Mitbegründer des spatial und des performative space vertritt de Certeau einen performativen Urbanismus, der den Menschen und seinen Bezug zum Raum als unauflösliches dialektisches Verhältnis begreift. Nachdem seine Biographie dargestellt wird, geht es um die Beziehung des Jesuiten Certeaus zur Religion, die als Lebensform den Raum öffnet, der eine Geste oder ein Ort ist. Die Entdeckung der Stadt durch (spazieren)gehen. Es geht Certeau um den Raum als relationale Kategorie. Der Raum steht dem Menschen nicht gegenüber, sondern der Mensch ist Teil des Raums, den er sich durch die alltägliche Praxis aneignet. Im Raum werden Orte identifiziert, der Raum ist dualistisch auf den Ort bezogen. Die Stadt kennt kein Zentrum, auf das sich alles bezieht. Vielmehr ist die Stadt der Raum, der von den Menschen konstruiert wird und von dem aus gedacht wird. Dies wird ausführlich und gründlich diskutiert.
Zu 3. Grenzen der Urbanität
Zu: Mike Davis: City of Quartz (Frank Eckardt)
Mike Davis Buch City of Quartz ist einer der Facetten der literarischen und künstlerischen Beschäftigung mit der Stadt Los Angeles und der gegen Ende des vorigen Jahrhunderts problematischen Entwicklung einer gefährlichen Stadt. Der Autor geht einleitend auf diese Geschichte und auf die Biographie auch des eher unbekannten M. Davis ein. Davis hat sich demnach vor dem Hintergrund der Geschichte seiner Herkunft aus der weißen Arbeiterklasse und deren Niedergang in seinem Werk „City of Quartz“ mit der Stadt beschäftigt, ohne einen systematischen theoretischen Entwurf oder Ansatz entwickelt zu haben. Dies wird ausführlich erläutert, bevor Davis dann auf Los Angeles kommt, in der alles zusammen kommt. In der Tat entwickelt sich die Stadt zu einer Global City, allerdings anders als New York und Chicago, die bereits diesen Status hatten. Neue Formen des Städtischen entwickelten sich, die dem amerikanischen Way of Life am ehesten gerecht wurden. Dazu gehören dann auch die Tendenzen der Privatisierung des öffentlichen Raums, die video-überwachten Gated Communities, die Privatopolis, die all dem entgegenstehen, was z.B. das europäische Verständnis der Stadt ausmacht. Dies wird ausführlich und kenntnisreich beschrieben und erörtert.
Was das moderne Erbe ist, fragt dann Eckardt. Dabei geht er auch auf die Rezeption von Davis ein, die vor allem mit der Arbeit „Neue Urbanität“ von Häußermann und Siebel in Deutschland einen Namen hat. Damit und mit anderen Autorinnen und Autoren setzt sich Eckardt auseinander und plädiert für eine differenziertere und eine bessere zeitkritische Betrachtung des Werks von Mike Davis.
Zu: William Julius Wilson: The Truly Disadvantaged (Moritz Merton)
Merton beschreibt zunächst die Biographie und den wissenschaftlichen Werdegang des einflussreichsten afroamerikanischen Soziologen in den USA.
Danach geht er auf das Buch „The Truly Disadvantaged“ vor dem Hintergrund der Entstehung einer städtischen Unterklasse ein. Die Frage war virulent, warum ein Teil der afroamerikanischen Bevölkerung nicht von den Reformen und der guten Wirtschaftslage profitiert hat. Wilson wandte sich damals gegen eine Indienstnahme seiner Argumentation von konservativer Seite und er kritisierte das von Oscar Lewis entwickelte Konzept der Culture of Poverty, der darin eine Vererbung einer „selbstverschuldeten Armut“ sah. Die im Rahmen des Great-Society-Programms durchgeführten Sozialreformen der 60er Jahre hätten nur einem Teil der schwarzen Bevölkerung zum Aufstieg verholfen und die Liberalen hätten sich aus der Armutsforschung und die Ursachen der Entstehung einer underclass zurückgezogen. Außerdem hätten die Sozialreformen den Prozess der ethnischen Segregation verstärkt, weil die schwarze Mittelklasse aus den schwarzen Vierteln auszog und nur noch die schwarzen Armen zurückblieben. Das hat nach Wilson auch die Ghettoisierung dieser Viertel vorangetrieben. Dies wird ausführlich entfaltet. Der Autor geht dann auch auf die „hidden agenda“ Wilsons ein, auf die politischen Forderungen Wilsons, die er aus seiner Analyse ableitete.
Der Autor würdigt dann das Werk Wilsons in Blick auf die Analyse der strukturellen und kulturellen Ursachen innerstädtischer Armut und verweist auf die Bedeutung, die dessen Analyse für die Betrachtung sozialräumlicher Segregationsprozesse für die Stadtforschung hat. Vor allem die benachteiligende Wirkung benachteiligter Quartiere und die Konzentration der Armen durch soziale Entmischung und Homogenität sind aktuelle Themen, deren Bedeutung Wilson bereits damals gesehen hat.
Zu: David Harvey: Social Justice and the City (Felix Wiegand)
Einleitend gibt der Autor einen Überblick über das Leben und das Werk des Geographen und Impulsgebers einer kritischen transdisziplinären Stadtforschung. Kapitalistische Stadtentwicklung und die damit verbundenen urbanen Konflikte sind einige der zentralen Argumentationslinien Harveys, die er mit einer Reihe von Protagonisten der kritischen Stadtforschung teilt. Es geht um ein aktivistisches Verständnis kritischer Wissenschaft, die Partei ergreift, um einen positiven analytischen Bezug zu Marx und dessen Gesellschaftstheorie und Methode und um eine Konzeption von Räumlichkeit, die von der Idee der sozialen Produktion des Raums als ein notwendiger Bestandteil einer historisch-kritischen materialistischen Analyse.
Das Buch „Social Justice and the City“ sieht der Autor als ein revolutionäres Übergangswerk, in der die politische und theoretische Neuorientierung Harveys deutlich wird. Dies verdeutlicht der Autor, in dem er ausführlich auf Harveys Weg von liberalen Formulierungen zu einer „revolutionären Theorie“ eingeht und erste Umrisse einer marxistischen Analyseperspektive erläutert.
Nach der Veröffentlichung des Buches schlägt Harvey den Weg einer urbanen politischen Ökonomie ein, die sich mit der Rolle der Stadt und ihrer Entwicklung für die Entstehung und Entwicklung des kapitalistischen Systems auseinandersetzt und begründet, warum der Kapitalismus auf die Stadt angewiesen ist. Das gilt sowohl für die Stadt als bebaute Umwelt, als auch für die Funktionen der Stadt als Zentrum des Kapitals, der Arbeit und des Bodens. Urbanisierung wird nach Harvey als Krisenbearbeitungsstrategie bestimmt und die Krisen und Konflikte mit dem Klassencharakter städtischer Konflikte identifiziert.
Der Autor geht dann noch auf die Kontoversen und Anknüpfungspunkte einer kritischen Stadtforschung ein und referiert entsprechende Literatur und Studien.
Zu: Norbert Elias und John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter (René Lenz)
Der Autor geht zunächst auf die Biographie eines der bekanntesten deutschsprachigen Soziologen ein und erläutert auch kurz die Biographie eines seiner ersten Studenten J. L. Scotson, der an der dem Buch zugrundliegenden Studie mitgewirkt hatte. Lenz stellt dann diese am Ende der 50er Jahre in einem Vorort von Leicester durchgeführte Studie „Etablierte und Außenseiter“ vor. Dieser Vorort ließ sich in drei Zonen einteilen. In der kleinsten Zone wohnte die örtliche Elite, die seit 40 Jahren den Ort prägte und der gehobenen Mittelschicht angehörte. Im alten Ortsteil, dem ehemaligen Dorf, wohnten seit 80 Jahren die Arbeiterfamilien und im jüngsten Ortsteil – der Siedlung – wohnten die zugewanderten Industriearbeiterfamilien, die während des zweiten Weltkriegs und danach aus den proletarischen Vierteln Londons zugewandert sind. Die sozialräumliche Trennung der Siedlung vom alten Ortskern macht bereits auf den Charakter einer segregierten Außenseiterposition der dort Wohnenden aufmerksam. Der Autor beschreibt dann auch den bei Elias und Scotson deutlich werdenden sozialräumlichen Bezug als Begründung für Ausgrenzungsprozesse und ordnet sie theoretisch ein. Weiter deutet Lenz auf einige methodische Fragen hin, die Elias und Scotson diskutierten. Die Beobachtung und die Auswertung statistischer Daten wurden durch zahlreiche Interviews angereichert.
Sehr ausführlich geht dann der Autor auf die Rezeption des Werks ein, wobei sich Lenz auf die jüngeren Beiträge der Stadtforschung konzentriert, die sich mit Elias´ Figurationssoziologie auseinandersetzen. Im Fazit würdigt der Autor die Studie zurecht als Meilenstein einer raumbezogenen soziologischen Studie.
Zu: Loic Wacquant: Urban Outcasts (Frank Müller)
Nach einem kurzen Hinweis auf die Aktualität der Studien Wacquants angesichts gewalttätiger Prozesse in den urbanen Zentren und Metropolen Paris (banlieues), London (riots) und Baltimore (Proteste gegen ausufernde Polizeigewalt) beschäftigt sich Müller mit der Biographie und dem wissenschaftlichen Werdegangs Wacquants. Dessen Begegnungen mit Bourdieu, später mit dem US-Soziologen Wilson haben die wissenschaftliche Ausrichtung von Wacquants Arbeiten entscheidend geprägt. Dies wird ausführlich erörtert, bevor der Autor dann auf „Urban Outcast“ eingeht. Es sind die Räume der Verbannung, die spaces of relegation, die Banlieues in Frankreich, die Ghettos in Amerika, die Favelas in Brasilien, die slums und townships in Südafrika, die Wacquant interessieren. Theoretische Grundlagen dazu boten bereits die frühen Studien der Chicago School, die auf den Zusammenhang von sozialräumlicher Segregation und Marginalisierung bzw. sozialer Exklusion aufmerksam machten.
Der Autor geht dann auf zwei Prämissen Wacquants ein, auf eine externe und eine interne Prämisse, die in der Einleitung zu Urban Outcasts erläutert werden.
Die externe Prämisse deutet darauf hin, dass die strukturellen Determinanten territorialer Ausschließung und Stigmatisierung historisch verortet sind. Die schwarzen Ghettos in Amerika sind das Ergebnis einer postfordistischen Entwicklung, die Favelas waren ein Katalysator einer die Migration und De-proletarisierung auslösenden Industrialisierung und Frankreichs Banlieues sind das Ergebnis einer Verflochtenheit mit den ehemaligen Kolonien.
Die interne Prämisse richtet sich auf das Verhältnis von sozioökonomischer Ungleichheit und lokaler Sicherheitspolitik im urbanen Raum. Null-Toleranz-Strategien der Metropolen in den USA treffen z.B. vor allem verarmte Stadtteile und deren Bewohnerschaft.
Dies wird von Müller äußerst differenziert dargestellt und analysiert, bevor er dann zur Wirkungsgeschichte und Kritik von Wacquants Werk kommt. Dabei steht vor allem der Vergleich der französischen und der amerikanischen Verhältnisse im Fokus der Diskussion.
Zu 4. Marginalisierte Stadt-Perspektiven
Zu: Ananya Roy: Slumdogs Cities: Rethinking Subaltern Urbanism (Monika Grubbauer)
Einleitend beschreibt die Autorin den Weg einer der einflussreichsten gegenwärtigen Planungstheoretikerinnen, die nicht so recht disziplinär einzuordnen ist. Vielmehr besitzt sie die Fähigkeit, virulente Themen aufzugreifen und Impulse für die Weiterentwicklung der theoretischen Debatten zu geben.
„Slumdog Cities“ ist ein Artikel, der sich kritisch mit den Bildern und Vorurteilen von Slums auseinandersetzt, die wir im Kopf haben, wenn wir vor allem die Megacities des Südens betrachten und Roy fordert einen Perspektivwechsel in der Betrachtung. Sie plädiert dafür, den Slum und das Leben darin nicht zu romantisieren und auf die „Culture of Poverty“ und die lokale Ökonomie zu setzen, wenn es darum geht, den strukturellen Bedingungen der Armut entkommen zu wollen. Weiter sieht sie in der kritischen Reflexion des subaltern urbanism die Schwierigkeit, die politische Handlungsmacht der Subalternen an dem Agieren bestimmter Gruppen festzumachen und sie mit einer kohärenten Identität zu verbinden und sie warnt vor der Unmöglichkeit der Eliten, die blinden Flecken der Geschichtsschreibung aus einer Position der Dominanz heraus zu überwinden. Insgesamt verwahrt sich Roy gegen diese Art eines subaltern urbanism. Dies wird ausführlich erörtert und begründet.
Weiter diskutiert die Autorin ausführlich die Arbeit Slumdog Cities im Kontext des Gesamtwerks und befasst sich mit der Rezeption an der Schnittstelle von Planungs-, Stadt- und Entwicklungstheorie.
Zu: Asef Bayat: Leben als Politik (Stephan Lanz)
Es geht um die Alltagswelt der Marginalisierten im Nahen Osten, die Asef Bayat aus eigener Anschauung kennt und die der Autor als Beginn seines Werdegangs schildert. Als jemand, der im Iran des Schahs groß geworden ist, beginnt er später – und das seit dreieinhalb Jahrzehnten – die Verhältnisse im Nahen Osten kritisch zu analysieren. Ein Jahr vor dem Arabischen Frühling erschien sein Buch „Life as Politics“, in der er sich gegen die Vorstellung verwahrte, dass sich in den Städten die Entrechteten passiv unterwürfen und er bringt eine Reihe von Gegenbeispielen, die bezeugen, das ganz normale Leute die Städte im Nahen Osten verändern. Es sind sicher keine kollektiven Akteure, die diese Veränderungen bewirkten; vielmehr sind es individuelle Akteure, die eine Sache kollektiv zu ihrer machen. Deshalb prägt Bayat auch den Begriff der sozialen Nicht-Bewegungen kollektiver Handlungen. Diese Nicht-Bewegungen folgen einer „Logik der Praxis“ (Bayat). Sie agieren im Stillen, um Repressionen zu entgehen. Der zentrale Ort dieses Kampfes ist die Straße, der öffentliche Raum; hier entstehen neue soziale Konfigurationen. Der Kampf entzündet sich am ungleichen Zugang zu öffentlichen Ressourcen, und weil die Entrechteten und Armen keinen Zugang zu den Institutionen haben, bleibt der öffentliche Raum der einzige Raum der Artikulation von Interessen.
Dies wird vom Autor zunächst auch ausführlich diskutiert, bevor er die Bedeutung Bayats für die Stadtforschung an der Frage festmacht, wo das Politische im urbanen Alltag zu finden ist. Sie liegt vielleicht in den der Stadtforschung weniger zugänglichen Städten wie Teheran oder Kairo. Die westlichen Urbanitätstheorien haben eher das Gesamte der Stadt im Blick und nicht einzelne Phänomene und Prozesse. Und möglicherweise ist die modere Stadt in der Stadtforschung eine säkularisierte Stadt, wobei die spannende Frage ist, welche Bedeutung die Religion in diesem Kontext spielt. Auch dies erörtert der Autor vor dem Hintergrund der westlichen Urbanitätsvorstellungen, vielleicht auch in Bezug auf die Europäische Stadt.
Zu: Philippe Bourgois: In Search of Respect. Selling Crack in El Barrio (Beate Binder, Alexa Färber)
Die Autorinnen schildern eingangs einen Stadtanthropologen, der sich seit Jahrzehnten für eine gerechte Stadtgesellschaft engagiert und sich für sozial marginalisierte Menschen in der Stadt einsetzt. Der kritische Anthropologe Philippe Bourgois erkennt im Drogenmilieu und in der damit verbundenen Straßenkultur eine Verbindung einer spezifischen Ausgrenzungserfahrung mit einem in einer tradierten Arbeiterkultur gewachsenen Männlichkeitskonzept, das mit Selbstrespekt und Würde und männlicher Unabhängigkeit verbunden ist. „In Search of Respect“ ist eine Studie über Apartheid und eine der klassischen Ghetto-Ethnographien, in denen das Leben der urban poor beschrieben wird. All dies entfalten die Autorinnen, beschreiben den Inhalt des Buches und verorten es in einer ethnographischen Analyse der Stadtgesellschaft.
Sie gehen dann auf das (Erklärungs-)potential von Stadtethnographien ein, und gehen der Frage von Bourgois nach, wie Menschen Armut, Abwertung und Ausgrenzung alltäglich bewältigen. Weiter gehen sie ausführlich auf die Rezeption von Bourgois´ Werk ein.
Zu: Jane M. Jacobs: Edge of Empire. Postcolonialism and the City (Johanna Hoernig)
Es geht um die „andere“ Jane Jacobs! Und dieses „andere“ ist so wirkungsmächtig, dass es erstmal geklärt werden muss. Die australisch-britische Kultur- und Stadtgeographin Jane Margaret Jacobs beschäftigt sich mit der Frage, welche Verbindungen zwischen kulturellen Identitätspolitiken und deren räumliche Manifestationen besteht. Der Planungskonflikt um ein aufgewertetes Quartier im Zentrum Londons und die damit verbundene Bedeutung der Stadt als Träger einer britisch-imperialen Identität; die Auseinandersetzung um ein gentrifiziertes und durch Zentrumserweiterung aufgewertetes Quartier des Londoner Ostens und ähnlich gelagerte Problemkontexte sind gleichsam der Rahmen, innerhalb dessen Jacobs postkoloniale und imperiale Muster vermutet.
Mit dem Lokalen, das Jacobs einführt, werden aber diese Muster brüchig. Sie zeigt – so die Autorin – die Verbindung auf, die zwischen lokalen Analysen der Stadtentwicklung, deren Verwobenheit mit globalen politischen und ökonomischen Tendenzen und imperialistischen Ideologien besteht. Dadurch werden Entwicklungsprozesse wie den der Gentrifizierung von „rassistischen“ und nationalistischen Identitätskonstruktionen durchzogen.
Dies wird ausführlich referiert und begründet, bevor die Autorin Bezug auf das Gesamtwerk Jacobs nimmt und die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte beschreibt.
Zu 5. Stadt als Polis
Zu: Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt (Daniel Mullis)
Unbezahlbarer Wohnraum in den Städten, sozialräumliche Segregationsprozesse, die mit sozialer Exklusion verbunden sind, die Privatisierung öffentlicher Räume, mit der Gentrifizierung verbundene Verdrängungsprozesse und die Vertreibung unerwünschter Gruppen durch Gefahrenabwehrverordnungen lassen die Frage virulent werden, wem die Stadt eigentlich gehört. Der Ruf nach einem „Recht auf Stadt“ wird allenthalben lauter und Lefebvres Postulat eines Rechts auf Stadt ist inzwischen eine Parole geworden. Lefebvre verband damit das Recht auf ein urbanes Leben, auf die Vorteile einer städtischen Lebensweise, die mit einer städtischen Infrastruktur verbundenen ist und die ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Dies wird eingangs vom Autor erläutert.
Dann beschäftigt er sich mit Lefebvres wissenschaftlichem Werdegang und kommt dann zu dem Essay „Le droit à la ville“, der im Zentrum des Beitrags steht. Dazu wird zunächst auch sein Raumverständnis geklärt, wonach der Raum immer ein Produkt gesellschaftlicher Praxis ist, in dem abstrakte soziale Strukturen und Prozesse konkret werden und der Raum immer auch ein umkämpfter Raum ist. Dies wird zunächst entfaltet. Der Autor erläutert dann auch Lefebvres Verständnis des Urbanen, die dieser ja auch mit der Industrialisierung in Verbindung bringt und die Stadt in der Industrialisierung die zentrale Voraussetzung für die Industrialisierung ist.
Dabei geht der Autor auf den Marx´schen Begriff der Produktion ein, den Lefebvre kritisch sieht, weil Produktion jede Herstellung gesellschaftlicher Äußerungen ist und nicht nur auf die Produktion durch Lohnarbeit meint.
Abschließend formuliert der Autor einige Perspektiven, die mit dem Werk Lefebvres verbunden sind.
Zu: Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities (Monika Litscher)
Nach einer kurzen Beischreibung der Biographie von J. Jacobs und des Hintergrunds ihres Hauptwerks beschäftigt sich M. Litscher mit New York und den stadträumlichen Transformationsprozessen als Folge der Depression. J. Jacobs wohnte seinerzeit bereits in New York und konnte diese Prozesse vor Ort in Augenschein nehmen. Es kam zu sozialräumlichen Segregations- und Suburbanisierungsprozessen und es zog viele Migranten nach New York, die sich in Downtown niederließen, die sich zu einem Slum entwickelte und diese Zuschreibung von außen auch erhielt. Vor dem Hintergrund ist verständlich, dass sich J. Jacobs in die Stadtplanung und Sozialpolitik einmischte, was von der Autorin ausführlich beschrieben wird. J. Jacobs bekämpfte die modernistischen Stadterneuerungsprogramme und forderte die Teilhabe der Bevölkerung an Entwicklungsprojekten. Es ging ihr um eine Planung, die in der Lage ist, die Interessen und Bedürfnisse oder Probleme der Bevölkerung in Planungsziele zu transformieren, was die sozialreformerischen Planungsprozesse ausmachen würde. Insofern richtete sich ihre Kritik auch an die orthodoxe Planungspraxis und -politik und an die idealistisch-normativen Vorstellungen von Großstadt. Sie plädiert für die Beschaffenheit eines städtischen Raums mit Gehsteigen und Nachbarschaften; sie will einen durchmischten und belebten Straßenraum, der Kommunikation und unterschiedliche Funktionen verbindet. Diversität und Differenz sind unabdingbare Referenzgrößen der Großstadt. Stadtteile sollten viele gemischte Nutzungen ermöglichen. Die Bauweise muss kurz sein, so dass Straßen und öffentlicher Raum dazwischen möglich sind. Stadtteile und Straßenräume sollen eine Mischung von Bauten unterschiedlichen Alters aufweisen. Damit Kommunikation und Nachbarschaften sich entwickeln können, bedarf es einer bestimmten Dichte des Wohnens, was nicht mit der Dichte ihrer Präsenz verwechselt werden darf. Darauf und auf vieles mehr nimmt die bisherige Planung keine Rücksicht und das kritisiert J. Jacobs. Auch dies erläutert die Autorin ausführlich, bevor sie dann zur Wirkungsgeschichte und Kritik kommt. Diese Wirkung sieht die Autorin in der Formulierung neuer Ansprüche an Planungsprozesse, in dem veränderten Verständnis von Diversität als Ressource und Potential und in einem erweiterten Planungsverständnis.
Zu: Patsy Healey: Collaborative Planning (Carola Fricke)
Zu Beginn stellt die Autorin Patsy Healey als Gegenstück zu den reflexiven Praktikern vor, weil sie das Theoretisieren aus praktischer Sicht reflektiert. Die Autorin beschreibt die Biographie von Healey und ihren wissenschaftlichen Werdegang und erläutert, was man unter einer kollaborativen Planung versteht. Demnach zielt eine solche Planung einmal auf die praktische Umsetzung ab und zum anderen will sie Anregungen für die Gestaltung von Planungsprozessen geben. Daraus erwächst ein Planungsverständnis, das sich eher als Management von städtischen Raumen, ihrer städtebaulichen Gestaltung und ihrer natürlichen Umwelt versteht. Die Autorin geht darauf ausführlich ein, erläutert die theoretischen Grundlagen einer kommunikativen Planung, die Healey in der Situationstheorie von Giddens und in der Theorie kommunikativen Handelns von Habermas sieht. Weiter stellt die Autorin Healeys institutionalistischen Entwurf eines neuen Planungsmodells vor, das sich vor allem für die strategische Planung eignet.
In der Beschreibung der Wirkungsgeschichte Healey geht die Autorin auf die Grenzen einer kollaborativen Planung und auf ihren Abstraktionsgrad ein. Die relationale und integrierte Perspektive auf räumliche Planung sieht die Autorin in der Verbindung unterschiedlicher Disziplinen, in ihrer Chance eines sozialen Lernprozesses und bei ihrer Einbettung in lokale Planungskontexte im Ansatz einer ortsbezogenen lokalen Planung.
Zu: Michel Foucault: Raum als relationales Mittel zum Verständnis und zur Produktion von Macht (René Kreichauf)
Einleitend stellt der Autor Foucaults Bedeutung für die Stadtforschung heraus, insbesondere bezüglich der Analyse von Funktionen und Zielen der Raumproduktionen und deren machtspezifischen Merkmale. Danach geht er auf die Person Foucaults ein und beschreibt dessen wissenschaftlichen Werdegang.
In Anschluss daran geht der Autor auf Raumzugänge, Raumproduktionen und die Räumlichkeit der Macht ein. Foucault spricht dem Raum eine besondere Bedeutung zu, wenn es um die Konstituierung sozialer Beziehungen und Machstrukturen geht.
Eine der Hauptthese Foucaults ist, dass sich jedwede Form der Machtausübung im Raum konstituiert und auf den Raum angewiesen ist. Es gibt verschiedene Räume und andere Räume (Heterotopien). Andere Räume sind andersartig und unterscheiden sich von den gewöhnten Räumen durch andere Platzierungen und Lagerungen, sie sind auch von ihrer Umgebung abgeschlossen und kennen keine räumliche Umwelt (Gefängnisse). Dadurch unterliegen sie auch einer totalen Kontrolle und sind mächtig. Dies wird vom Autor ausführlich erörtert. Kreichauf geht dann auf Foucaults Mikrophysik der Macht und ihre räumlichen Komponenten ein. Überwachen und Strafen erfahren ihre Räumlichkeit der Macht im Gefängnis und der Psychiatrie.
Weiter diskutiert der Autor das Konzept der Gouvernementalität als eine Form des Regierens, in der Rationalität des Regierungshandelns und Regieren reflektiert wird. Gouvernementalität meint dabei die Gesamtheit der Institutionen, Verfahren und Analysen, sowie an die Praktiken und Taktiken der Machtausübung, wobei die Bevölkerung als Hauptwissensform die zentrale Adresse ist. Hier hat sich dann Foucault mit der Stadtentwicklung und dem städtischen Raum auseinandergesetzt. Der städtische Raum ist durch das Verhältnis von Sicherheit, Territorialität und Bevölkerung strukturiert. Die Stadt ist durch die Dialektik von Freiheit und (strukturellem) Zwang beschreibbar. Freiheiten dienen der Steuerung der Individuen und es gibt einen Raumbezug gesellschaftlicher Prozesse und Probleme.
All dies wird gründlich entfaltet und dient einem besseren Verständnis von Foucaults Werk.
Der Autor geht dann auf das Gesamtwerk als Werk über Macht und Raum ein und auf die Räumlichkeit der Machtverhältnisse als einem zentralen roten Faden der Argumentation. Dann sucht der Autor noch nach Anwendungsbereichen in der Stadtforschung, was einer kleinen Rezeptionsgeschichte gleichkommt.
Zu: Manuel Castells und die vergessene Soziologie der städtischen sozialen Bewegungen (Fernando Campos-Medina)
In der Einleitung zu seinem Beitrag beschäftigt sich der Autor mit dem zentralen Thema des Soziologen Manuel Castells. Zuvor geht der Autor auf dessen Biographie ein, die auch zugleich der Begründungsrahmen für Castells Hauptaugenmerk auf die städtischen sozialen Bewegungen richtet. Castells setzt sich mit den kulturalistischen und sozialökologischen Ansätzen der Chicago School auseinander. Sein Interesse ist nicht die Frage der Integration in eine urbanisierte und industrialisierte Gesellschaft. Vielmehr geht es ihm um die Probleme, die sich aus den von Marx scharfsinnig diagnostizierten Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft ergeben. Ihn interessieren die sozialen Bewegungen im städtischen Raum als Ausdruck der Gegenwehr gegen eine Politik, die der kapitalistischen Logik der Verwertung von Arbeit, Boden und Kapital unterworfen ist. Dies beschreibt der Autor und verortet Castells in einer (neo-)marxistische Ausrichtung der Theoriebildung.
Dann geht er auf Santiago de Chile ein, die Castells als Untersuchungsgebiet für städtische soziale Bewegung diente. Vor dem Hintergrund der damaligen Militärdiktaturen in Brasilien und Argentinien entwickelte sich seinerzeit ein Forschungsrahmen, innerhalb dessen sich die Forscher zumeist mit der „Dependenz-Theorie“, der Modernisierung, der Marginalisierung und der sozialen Bewegungen in südamerikanischen Gesellschaften beschäftigten. Städtische soziale Bewegungen sind in Chile seit langem wichtige politische Akteure. Und vor dem Hintergrund städtischer Probleme wie die Wohnungsfrage und der zunehmenden Urbanisierung war es der Regierung wichtig, den Dialog mit diesen Akteure aufrecht zu erhalten. Dies wird vom Autor geschildert.
Castells hielt die Begriffe Stadtgesellschaft und „marginalisierte Bevölkerung“ für ideologische Begriffe. Marginalität ist mit sozialen Rückstand verbunden und mit sozialer Abweichung. Der Autor setzt sich mit dieser Diskussion auseinander und zeigt auf, dass es gerade nicht die Ausgegrenzten sind, die diese sozialen Bewegungen tragen, sondern, dass sie Akteure in der politischen Auseinandersetzung sind, die Interessen und Bedürfnisse artikulieren. Damit wird auch Castells Problem mit einer Stadtsoziologie verständlich, deren kulturalistische Analysen von einer „Ideologie der städtischen Gesellschaft“ (Castells) geprägt war.
Es gab auch eine Kritik der Stadtsoziologie an Castells, die ausführlich dargestellt wird, und der Autor schildet das gewaltsame Ende der sozialen Bewegung in Chile und Lateinamerika. Was für die Erforschung der städtischen sozialen Bewegungen noch bleibt, schildert der Autor in seinen Schlussfolgerungen.
Diskussion
Zunächst ist es die innere Gliederung, nach der die Schlüsselwerke der Stadtforschung vorgestellt wurden, die es dem oder der Leser/in leichter machen, die jeweiligen Texte zu verstehen: die Beschreibung der Bedeutung und des Stellenwerts des Werks für die Stadtforschung, dann die Biographie der Autorinnen und Autoren, die Darstellung und Analyse des Werks und schließlich seine Wirkung und Rezeption. Damit entsteht ein Gesamtbild, das auch ein besseres Verständnis des einen oder anderen Textes ermöglicht. Im Übrigen war der Rezensent auch von einigen biographischen Details der Autorinnen und Autoren überrascht, deren Texte er kennt und auch jetzt noch einmal anders einordnen kann.
Es war nicht Absicht des Herausgebers, eine disziplinäre Einteilung und Zuordnung der Beiträge vorzunehmen. Die äußere Gliederung in fünf Kapitel folgt vielmehr der Vorstellung, dass es bestimmte Diskurse gibt, die auch von Ambivalenzen und Ambiguitäten getragen sind und dies nicht erst seit neustem, sondern sie werden bereits bei Weber, Kant und Simmel deutlich. Darauf verweist auch Eckardt in seiner Einleitung und er begründet die Überschriften dieser Diskurse.
Damit gelingt insgesamt ein anderer Blick auf die Stadt als Lebensraum und Daseinsform einerseits und als Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Verfasstheit, in die sie eingebettet ist. Wenn es überhaupt einer Klammer bedarf, die alle diese Beiträge zusammenfassen könnte, dann vielleicht die, dass die Stadtforschung nicht nur auf Inter- und Transdisziplinarität angewiesen ist, um städtische Strukturen und Prozesse, aber auch Probleme besser analysieren zu können. Vielmehr geht es um die Frage, wie wir wissenschaftlich die Stadt begreifen können und wie wir durch unsere alltägliche Erfahrung die Stadt im Inneren verstehen und leben können.
Fazit
Ein faszinierendes Buch, das auch den erfahrenen Stadtforscher in seinem Selbstverständnis verunsichern kann. Das Buch bietet mehr als eine Analyse der Stadt aus verschiedenen Perspektiven. Es plädiert für die Offenheit der Diskurse, die gleichsam auch mit Kontingenzen und Ambiguitäten verbunden sind – so wie wir das auch von einer Stadt erwarten dürfen und wie sie ihre Urbanität nur leben kann: mit der mit Offenheit verbundenen Kontingenz und Ambiguität.
Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em.
Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt
Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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Es gibt 172 Rezensionen von Detlef Baum.
Zitiervorschlag
Detlef Baum. Rezension vom 13.06.2017 zu:
Frank Eckardt (Hrsg.): Schlüsselwerke der Stadtforschung. Springer VS
(Wiesbaden) 2017.
ISBN 978-3-658-10437-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22590.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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