Thomas Platt (Hrsg.): Genussbarometer Deutschland. Wie wir zu leben verstehen
Rezensiert von Prof. Dr. med. Klaus-Dietrich Stumpfe, 24.05.2005

Thomas Platt (Hrsg.): Genussbarometer Deutschland. Wie wir zu leben verstehen. Links Verlag (Berlin) 2004. 254 Seiten. ISBN 978-3-86153-336-8. 14,90 EUR. CH: 26,80 sFr.
Das Thema
Ein Buch über den Genuss ist immer zu begrüßen, weil die Motivation Genuss-Lust-Freude in der Diskussion über das menschliche Verhalten weitgehend im Hintergrund steht und nur wenig dargestellt wird. Da es ein alltägliches Gefühl ist, wird es meist gar nicht thematisiert bzw. nach anderen Gründen gesucht. Wenn von Genuss gesprochen wird, bezieht es sich überwiegend auf Essen und Trinken - manchmal auch auf die Sexualität. Alle Menschen bemühen sich grundsätzlich wohl die verschiedensten Aktivitäten ihres Leben möglichst angenehm bzw. genussvoll zu gestalten. Es ist das wesentlichste Lebensgefühl. Es geht hier nicht nur um die sogenannten Genussmittel, die die alltäglichen Verrichtungen oft nur begleiten. Dies wird deutlich bei den verschiedenen Hobbys, die die Menschen pflegen, genießen und auch teuer bezahlen. Eine diesbezügliche Befragung der Bevölkerung ist deswegen besonders interessant.
Herausgeber und Autoren
Der Herausgeber Thomas Platt ist Germanist und Schriftsteller. Er schreibt u.a. Restaurantführer. Im Buch hat er die Einleitung und einen Abschnitt über Luxusrestaurants verfasst. Der übrige Text besteht aus Abschnitten von ungefähr 30 Autoren, die überwiegend journalistisch tätig sind und über zahlreiche Themen von genussvollen Aktivitäten berichten.
Inhalt
Das erste Kapitel des Buches macht "Die große deutsche Genuss-Studie 2004" mit 45 Seiten aus, das von Frank Maier-Solgk und Holger Neumann zusammengestellt ist. Diese Studie ist von der Tabakfirma Japan Tobacco International Germany in Auftrag gegeben worden. Als Grund dafür wird gesagt: "Genuss ist unsere Leidenschaft und unser Geschäft, darum fühlen wir uns angesprochen"( S.15). Nach einer explorativen Vorstudie wurden 1014 Personen über 18 Jahren Ende 2003 befragt. Im Prolog finden sich einige Kernaussagen über den Genuss:
- Genuss beschäftigt den Menschen auch in schwierigen Zeiten.
- Das Geniessen ist als Lebenskunst zu verstehen.
- Das Geniessen setzt lediglich eine sinnliche Aufmerksamkeit voraus.
- Der Genuss vermag aus wenigem viel zu machen.
- Das Alltägliche lässt sich geniessen wie das außergewöhnliche.
- Genuss umfasst zahlreiche Lebenssituationen, auch das ganz alltägliche Leben und nicht nur das spektakuläre oder besonders vorbereitete Erlebnis ( S. 17 ).
Für die Befragung wird der Begriff Genuss nicht theoretisch definiert, sondern nur als Wort vorgegeben. Das hat den Vorteil, dass jeder Befragte sich dabei wieder finden kann und den Nachteil, dass es individuell unterschiedlich verstanden werden kann. Die Breite reicht dann von Gar-nichts-tun über Essen, Alkoholtrinken, Fernsehen, Lesen, Körperpflege, Sport bis Tabakrauchen und Sex. Ein Problem dabei ist: "Die Befragen sehen und beschreiben sich selbst als Genießer, nehmen aber ihre Mitbürger nicht als Genießer wahr" (S.23). Die genaue Fragestellung wird nicht zitiert. Die Prozentzahlen - getrennt nach Geschlechtern - werden in Tabellen dargestellt. Um das breite Spektrum darzustellen, werden nur die Überschriften der Abschnitte aufgeführt:
- Genuss für alle,
- Tatsächlicher Genuss,
- Genuss im Übermaß,
- Selbstbeschreibungs-Fremdwahrnehmungs-Schere,
- Geld und Genuss.
- Wer geniesst wo und wie viel?
- Genussassoziationen,
- die kleinen Genüsse,
- die großen Genüsse,
- Sex als Genuss,
- Voraussetzungen zum Genuss,
- der besondere Genuss,
- Genuss und Berufsalltag,
- Arbeitatmosphäre,
- Arbeitspausen,
- Freude an der Arbeit selbst.
Die entscheidenden Bedingungen für einen Genuss sind: Ruhe und Zeit im Sinne einer selbstbestimmten Zeit, eine bestimmte Personenkonstellation, eine besondere stimmungsvolle Atmosphäre und die Tatsache, dass es sich um eine außergewöhnliche, nicht alltägliche Tätigkeit handelt. Ein Arbeitsalltag mit Genuss muss beinhalten: angenehme Arbeitsbedingungen, bewusst genossene Pausen und eine positive Grundeinstellung zur eigenen Arbeit.
Dann wird mittels einer Clusteranalyse der Fragen (S. 38 ), die aber keine genauen Angaben bringt, eine Typologie der Genießer aufgestellt:
- Couchgenießer ( 36% ), die überwiegend allein und zu Hause geniessen .
- Geschmacksgenießer ( 27%), die überwiegend Genussmittel und gutes Essen außerhalb der eigenen Wände bevorzugen.
- Erlebnisgenießer (17%) bevorzugen die Aktivitäten, die in Gesellschaft stattfinden und auch viel Geld kosten können.
- Alltagsgenießer (17%) empfinden die kleinen Dinge des Alltags als nachhaltige Genüsse, die ihr Wohlbefinden steigern.
Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit den Strategien: Wege zum Genuss, Arbeit / Pflichten und Genuss, der ideale Genießer, Abwechslung macht Freude.
Der ideale Genießer ist u. a. bereit:
- sich für Genuss gegen Widerstände anderer durchzusetzen (31%),
- nach kreativen und sogar gewagten Lösungen zu suchen (26%),
- sich körperlich / geistig anzustrengen und Grenzen auszutesten (24%) und
- spätere Reue in Kauf zu nehmen (18%).
Der zweite Teil des Buches - ab Seite 55 - beschreibt ausführlich die zahlreichen verschiedenen Möglichkeiten des Genießens.
Couchgenießer:
- Heimische Genüsse (A. Marguier)
- Das kleine, schokoladige Extra (M. Griese / B. Lippold)
- Music sounds better with you (S. Pelz)
- Dein ist mein Herz (C. Arend)
- Sorge dich nicht, lese (N. Kahlefendt)
- Der Orient-Express - ein kleiner Kaffeeklatsch (I. Ahrens)
Geschmacksgenießer:
- Die Akademie für Kulinaristik (M. Otzelberger)
- Deutsche Spitzenköche im internationalen Vergleich (J. Dollase)
- Die Enkelkinder des Olymp - Vom Service im Luxusrestaurant (Th. Platt)
- Die Deutschen und der Wein (U. Heinzelmann)
- Bleiben Sie auf eine Zigarre? (M. Herzog)
- Die langsamen Genießer von Slow Food. (M. Kriener)
Erlebnisgenießer:
- Kunstgenuss - Theater, Oper, Konzert, Museum und Galerie (D. Mühlberg)
- Besuch im Dunklen - Kinoabende (J. Grützke)
- Zeitgeist geht baden - die Wellnesswoge (S. Grieshaber / K. Schneider)
- Das Ausnahmegefühl in der Achterbahn (M. Keune)
- Licht im Tunnel - Glücksmomente auf dem Rad (B. Meinhardt)
- Das Geheimnis von kleiner Kunst und großer Küche (K. Appelt)
- Muße im Grünen (M. Hughes)
- La Dolce vita - Traumreise und Reiseträume (J. Voigt)
Alltagsgenießer:
- Eine kleine Philosophie der Kaffeepause (M. Polster)
- Lob der Kantine (M. Allmaier)
- Notizen zur deutschen Pausenkultur (B. Matthies)
- Kleines Ständchen für die Zigarette (St. Flamm)
- Blumen - Pleasureground für die Seele (I. Ahrens)
- Die Renaissance des Küchengartens (R. Hücking)
- Den Arbeitstag zu Hause genießen (B. Biermann)
Die Überschriften lassen die Inhalte schon deutlich werden, deswegen wird nicht im Einzelnen darauf eingegangen. Die Abschnitte sind allgemein geschrieben und erfassen aber meist nicht direkt den Genuss-Charakter der jeweiligen Tätigkeit. Die Ausführungen sind unterschiedlich gut und bringen viele interessante Informationen. Sie sind teils humorig, teils weit schweifend, teils oberflächlich und teils abwegig abgefasst. Einzelne Kapitel sind gut , wie z.B. über den Genuss der Achterbahnfahrt, des Sportradfahren und eines Ferienhauses.
Die Literaturliste umfasst 55 Literaturquellen, die auf den Empfehlungen der Autoren beruhen.
Kommentar
Zunächst ist es zu loben, dass die Tabakfirma es gestattet hat, diese Befragung zu veröffentlichen, während sonst die vielen Forschungen über die Psychologie des Rauchens und der Rauchern nicht veröffentlicht werden. Die Untersuchung ist ein wichtiger Beitrag zur Genuss-Struktur des Menschen, die üblicherweise von den Human-Wissenschaften einfach übersehen wird. Aus diesem Grunde kann die Psychologie auch viele diesbezügliche Fragen nicht erfassen und beantworten. Dies zeigt sich besonders krass bei dem Drogenkonsum, wo grundsätzlich der Genuss-Faktor das wesentliche Motiv ist. Auch in diesem Buch wird der Konsum von Alkohol und Nikotin als Genuss-Lieferanten im Alltag nicht entsprechend gewürdigt. Die Darstellung des idealen Genießer ist typisch für die Drogenkonsumenten: gegen Widerstände anderer durchsetzen, nach gewagten Lösungen suchen, Grenzen auszutesten und spätere Reue in Kauf nehmen.
Die Differenzierung zwischen Couch- und Alltagsgenießer wird nicht recht deutlich. Aber es zeigt sich, dass der Alltag zahlreiche Genüsse in sich birgt, die nicht klar als solche erfasst werden.
Das Thema ist zentral für die Psychologie des Alltags. Das Buch ist allen Personen zu empfehlen, die sich mit den Motiven des menschlichen Lebens beschäftigen und Aussagen über den Menschen allgemein machen. Besonders wichtige Literatur dürfte es für die Fachleute - und auch Laien - sein, die zu Drogenfragen bzw. Suchtfragen allgemein Stellung nehmen.
Rezension von
Prof. Dr. med. Klaus-Dietrich Stumpfe
Arzt für Psychiatrie
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Lehrgebiet: Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie
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