Sabine Gerhartz-Reiter: Erklärungsmuster für Bildungsaufstieg und Bildungsausstieg
Rezensiert von Prof. Dr. Dirk Plickat, 12.03.2018

Sabine Gerhartz-Reiter: Erklärungsmuster für Bildungsaufstieg und Bildungsausstieg. Wie Bildungskarrieren gelingen. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 288 Seiten. ISBN 978-3-658-14990-1. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema
Die eigentlichen Bildungsdebatten liegen mittlerweile schon eine Generation zurück. Viele damalige Diskussionen und Ansätze zur Bildungsungleichheit scheinen heute vergessen. Manches wird wiederentdeckt. Skepsis bleibt und bietet einen Hintergrund, der besonders bei heutigen Studierenden Gefühle von Empörung und Ohnmacht hervorruft, die rationale Erfassungen nicht selten überlagern. Gerade für diejenigen, denen die alten Diskussionslinien und Kontroversen nicht vertraut sind, dürfte die Lektüre mit Gewinnen verbunden sein.
Zur Erinnerung: Nach dem Scheitern einer Bildungsgesamtplanung und den Rückzügen auf die sog. „Innere Schulreform“ setzten anhaltende Gewöhnungsprozesse an Fortschreibungen ausgesprochen brüchiger bildungspolitischer Legitimationsmustern ein, für die wiederum die Kultuspolitik nach PISA letztlich nur wieder altbekannte Verfahrenheiten spiegelt. Auch wenn sich seitdem die Instrumentarien in der erziehungs- und bildungssoziologischen Forschung für die Erfassung von „Risikogruppen“ ausdifferenziert haben, so sind kritisch-konstruktive Gestaltungsansätze für „demokratische Bildungsreform und ihre bildungstheoretische Legitimation“ (Blankertz) kaum auszumachen. Im Gegensatz zu früheren Debatten scheint es so, als würden klare Positionen zu oft von Detailvarianten überlagert, die dann entsprechend der Spielformen von Marktoptimismus und wissenschaftlichem Fortschritt inszeniert werden. Strategien des Ignorierens und der verbalen Veredelung faktischer Schädigungen sind eben nicht nur in der Automobilindustrie beheimatet. Und ebenso werfen nach wie vor die Halbwertzeiten des Wissens und der Versprechungen deutscher Kultuspolitik wie auch die leider oftmals weitgehenden Ausblendungen der eigenen Professionsgeschichte in nicht wenigen pädagogischen Studiengängen weit reichende Fragen nach Sinn und Verantwortung auf. Von dieser nicht einfachen aber kompakten Publikation aus Österreich könnten deutliche Impulse für eine Wiederbelebung zu lange ausgesetzter fachlicher und bildungspolitischer Debatten ausgehen.
Autorin
Sabine Gerhartz-Reiter ist in Innsbruck als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig und sehr engagiert, was auch zahlreiche Publikationen ausweisen.
Aufbau und Inhalt
Die Konzeption folgt der Matrix erfolgreicher gegenwärtiger Profilierungsstudien.
In der Einleitung wird auf die thematische Relevanz der gewählten biographisch-rekonstruktiven Ausrichtung verwiesen und hervorgehoben, dass besonders die kontrastive Betrachtung der Motiv- und Sozialstrukturen von Modernisierungsverlierern und Modernisierungsgewinnern im deutschsprachigen Raum von erheblicher Bedeutung für Strategien der Bildungsförderung sein können: Ansatzpunkte sind besser lokalisierbar.
Das zweite Kapitel thematisiert die Reproduktion von offenen und verdeckten Formen von Ungleichheit im österreichischen Bildungssystem auf der Grundlage vertrauter Debatten und weitgehend bekannter Referenzliteratur.
Einflussfaktoren auf den Verlauf von Bildungskarrieren werden im dritten Kapitel ausgewiesen, verhandelt und leicht nachvollziehbar kartographiert.
Eine prägnante Gegenüberstellung der besonderen Bildungskarrieren von Aus- und Aufsteigenden bietet das vierte Kapitel.
Kapitel fünf dient Erläuterungen zum biographischen Forschungsdesign der Studie sowie Übersichten zur Datenerhebung und Datenauswertung.
Die Aufbereitung der Ergebnisse erfolgt, etwas ungewöhnlich, in den nächsten drei Kapiteln.
Kapitel sechs beinhaltet einen Überblick und die Zentrierung herausgearbeiteter Befunde auf drei differente Typologisien:
- „Anerkennungsorientierte“,
- „Entwicklungsfokussierte“ sowie
- „Systemkritische“.
Für eine zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse wird Kapitel sieben genutzt.
Mit einem Resümee und einem Ausblick mit optimistischem Tenor im achten Kapitel endet die Aussageführung.
Ein akribisch erstellter wissenschaftlicher Apparat rundet die Darstellung ab.
Diskussion
Mit der Ausrichtung des Designs am neuen Mainstream profilierender Forschung dürfte die Studie zügig Leserinnen und Leser finden. Besonders für Zielkreise, denen die lange zurück liegenden Bildungsdebatten fremd sind, kann die Darstellung über Aktualisierungen Zugänge zu „vergesssenen“ Diskussionslinien und Strukturkonflikten eröffnen. Es bleibt nach der Lektüre, wie dies auch Rücksprachen zur Studie mit anderen „Älteren“ bestätigten, jedoch ein gebrochener Eindruck haften.
Einerseits scheint die Darstellung in Stil und Aussageführung eingängig erstellt zu sein, was sich auch sicher zügig in einer weiteren Verbreitung dieser Publikation bestätigen dürfte. Andererseits hat die Darstellung Züge einer Melange, bei der die Einschätzungen in den Passungen der Zutaten abhängig von Geschmackserfahrungen von und mit Wissenschaft erheblich differieren können. So wirft zunächst die Unentschiedenheit in der Zuordnung des Bildungssystems Österreichs strukturelle Fragen, nicht nur Vergleichender Erziehungswissenschaft, auf. Denn, unklar bleibt, ob hier von einer strukturellen Eigenständigkeit ausgegangen wird, was sich dann auch in den Referenzen spiegeln sollte, oder aber, ob die vorfindbaren Kongruenzen mit Deutschland als so weitreichend einzuschätzen sind, dass Spezifika nationaler Eigenständigkeit nur marginal bedeutsam erscheinen, was letztlich wiederum Fragen zur Ausrichtung der Studie aufwerfen würde. Diese Irritationen könnten sicherlich mit leichten Nachjustierungen ausgeräumt werden.
Ob und inwieweit der optimistische, passagenweise als juvenil eingefärbt anmutende Tenor der Publikation angemessen und zu Leitpositionen wie Bourdieu und professionsgeschichtlichen Entwicklungen passend erscheint, ist und bleibt von den Lesenden selbst zu entscheiden. So werfen beispielsweise die schon lange und anhaltend konstatierten Wechselwirkungen zwischen Armut und struktureller Bildungsbeschränkung professionskritisch die Frage auf, ob nicht die Perpetuierung einer Aufstiegs- und Herrschaftskultur unter der Fahne des Fortschritts gerade auch in Pädagogik als Wissenschaft eine Trivialisierung der Problemlagen großer Bevölkerungsgruppen befördert. Die „Antinomie von Bildung und Herrschaft (Heydorn)“ durch Konzepte einer Typologisierung abschwächen zu wollen, ist eben auch eine Glaubensfrage. Erinnert sei daran, dass entsprechend bekehrte Gruppierungen aus der Berufspädagogik in Deutschland vor dem Hintergrund der „Ausbildungskrise“ von den Reformpotenzialen einer Typologisierung bereits vor Jahrzehnten predigten und Ergebnisse hervorbrachten, die nicht einmal sie selbst überzeugten. Aber diese Anmerkungen sind letztlich nur Dekorationsfragen in der Schaufenstergestaltung des Marktes von Wissenschaft.
Fazit
Die Publikation regt zum Nachfragen und Nachfassen an und sie wird überfällige Diskussionen anstiften und befördern. Im Rettungsdienst ist ein Knacken und Knirschen bei Reanimationen recht oft zu vernehmen. Die Zielpriorisierung erfordert Konsequenz. In der Bildungsdebatte wird aus Angst vor Nebenwirkungen hiervor zu oft ausgewichen. Wer die Studie liest, wird sich den Nebengeräuschen einer eigenen Priorisierung stellen müssen. Denn, was hilft, ist eben zumeist auch unangenehm und unbequem.
Rezension von
Prof. Dr. Dirk Plickat
Ostfalia, Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbuettel, Campus Suderburg, Fakultät Handel und Soziale Arbeit, Forschungs- und Lehrfeld: Bildung und Beschäftigung. Nach langjähriger pädagogischer Praxis in Jugendhilfe und Schule als Erziehungswissenschaftler in Hochschule in Schnittfeldern von Schule, Kinder- und Jugendhilfe sowie beruflicher Bildung (auch historisch und vergleichend) tätig
Website
Mailformular
Es gibt 31 Rezensionen von Dirk Plickat.