Jochen Hörisch: [...] humanwissenschaftliche Theorien der letzten fünfzig Jahre
Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 22.03.2005
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Jochen Hörisch: Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen.
Eichborn
(Frankfurt) 2004.
322 Seiten.
ISBN 978-3-8218-4630-9.
28,50 EUR.
CH: 56,00 sFr.
Reihe: Die andere Bibliothek, Band 239.
Inhalt und Beurteilung
Ausgangspunkt von Hörischs lexikalischer Darstellung ist ein "Wert-", "Ansehens"- oder "Kursverlust" der Humanwissenschaften, verbunden mit einem "Fallen der Erregungskurve" bei ihrer Diskussion, ja sogar einem Verlust an Ernsthaftigkeit. Das freilich hat auch seine Vorteile, denn alles wird heiterer, witziger, komischer, fröhlicher - wenn nicht 9/11 wäre und uns die Existenz eines "matryriologischen Wahrheitsbegriffs" vor Augen führte. Da wird es aber höchste Zeit, dagegen zu halten und - gemäß der guten alten Unübersichtlichkeit - über 20 Wahrheitsbegriffe (die meisten entspringen des Autors Originalitätsdrang) aufzulisten. Und dann kommt er - als Krönung und Heilmittel: der apothekarische Wahrheitsbegriff.
Es ist der altbekannte pragmatistische, der in der vorangehenden Aufzählung von "Wahrheitsbegriffen" leider fehlte. Der Erfolg wird in der apothekarischen Variante als Heilung definiert, wobei freilich keine Heilsversprechen gegeben werden sollen. Außer dass uns Theorien "frische Denkmotive" geben und "beleben" sollen, wird selten richtig klar, was die wirklichen Krankheiten oder auch nur Probleme sind, auf die hin die Heilkraft der jeweiligen Theorie beurteilt werden soll. Kein Wunder, denn unter "Systemtheorie" erfahren wir, dass die Pathologien der Moderne regelmäßig antimodernen Bewegungen zu verdanken sind. (299) Das musste den Billigjobbern und ALG II-Beziehern aber mal gesagt werden; und den Bewohnern der Slums von Kairo, Djakarta usw.
Weniger als Apotheken-Umschau lässt sich das vorliegende Werk charakterisieren, eher als Erinnerungsbuch, als "entspannter Rückblick"(17), der älteren Damen und Herren des akademischen Milieus einen Überblick darüber verschafft, was sie im Laufe der Jahrzehnte so alles gelesen und wieder vergessen oder auch nicht gelesen und immer schon gewusst haben. Kein Zweifel, man ist angekommen, der Geschmack ist exquisit, was nicht nur die edle Aufmachung mit Nummerierung der Exemplare, sondern auch die Berufung auf Petrarca und "Marcus Herz, geb 1747" beweist. Allerdings gibt es eine traumatische Erinnerungslücke von wegen "Eiserner Maske der Freiheit" (H.M.Enzensberger, von dem nun Idee und Titel dieses Buches stammen (S. 32)). In einem Werk, das "die Grundzüge, Grundgesten und Grundbegriffe derjenigen Theorien vorstellen und prüfen (will), die in den letzten fünfzig Jahren das Sagen hatten und zum Widerspruch reizten"(23), fehlt - nicht zwar das Wort, aber - das Stichwort "Marxismus". Typisch Apotheke. Gegen Verdrängung helfen keine Pillen.
Andere Lücken werden vom Autor selbst namhaft gemacht: Neoliberalismus, Bloch, Sloterdijk etc. Auf die Stichworte "Linguistik" und "Gentechnologie" (S.93) wird zwar verwiesen, aber irgendwie müssen die Fläschchen abhanden gekommen sein. Es bleiben immer noch 33 Stichworte von "Analytische Philosophie" über "Cultural Studies" und "Kritische Theorie" zu "Psychoanalyse", "Strukturalismus" und "Zivilisationstheorie". Besorgt muss sich der geneigte Leser fragen, wie all das auf 278 rosa bezifferten Seiten abgehandelt werden soll. Die Antwort liegt auf der Hand, die sie reicht: mit Anekdoten und Meinungen. Hörisch begibt sich in gefährliche, aber vielleicht gesuchte Nähe zu dem abscheulichen Schwanitz-Buch, - nicht dem "Campus", der die Stimmung hebt - sondern dem über (Halb-)"Bildung". Suggeriert wird ein Kanon dessen, worüber man Bescheid wissen muss, und da für Argumente nicht genügend Raum sein kann - das beliebteste ist ein Reflexions-Paradox (der lügende Kreter) oder Re-Entry Argument, das Hörisch bei verschiedenen Gelegenheiten variiert - werden Urteile und Geschichten präsentiert, auf dass man was zu sagen hat. Inhaltlich ist vieles, gelinde gesagt, bestreitbar wie der Schlaumeier-Einwand gegen Habermas, die regulative Idee der Kommunikation sei Dissens, nicht Konsens, weil wir ohne Dissens nicht kommunizieren würden. (S.167) Habermas verdient, weiß Gott, kritisiert zu werden, aber doch nicht mit einer so simplen Verwechslung von Anlass und Ziel. Brauchbare Hinweise für das weitere Studium der abgehandelten Theorien enthält das Buch so gut wie keine.
Fazit
Therapeutisch wenig zweckmäßig, da Risiken und Nebenwirkungen überwiegen. Man greife zu den bewährten Lexika und Einführungen.
Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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