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Chris Harman: Wer baute das siebentorige Theben?

Rezensiert von Arnold Schmieder, 07.07.2017

Cover Chris Harman: Wer baute das siebentorige Theben? ISBN 978-3-944233-73-4

Chris Harman: Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen. Bd. 1, 2, 3. LAIKA-Verlag GmbH & Co. KG (Hamburg) 2016. 1020 Seiten. ISBN 978-3-944233-73-4. D: 77,00 EUR, A: 79,20 EUR.
Band I: Frühzeit bis 17. Jahrhundert. 394 Seiten. ISBN 978-3-944233-37-6. 28,00 EUR; Band II: Das 18. und 19. Jahrhundert. 239 Seiten. ISBN 978-3-944233-51-2. 21,00 EUR; Band III: Das 20. Jahrhundert. 385 Seiten. ISBN 978-3-944233-66-6. 28,00 EUR. Übersetzt von Rosemarie Nünning.

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Thema

Die Einführung im ersten Band beginnt mit Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“, was als programmatisch für Harmans Gang durch die Weltgeschichte gelten kann. Der Autor holt weit aus, von der neolithischen Revolution bis zum Kalten Krieg und dem, was er die „neue Weltunordnung“ nennt, wo der „neue Imperialismus“ eine zentrale Rolle spielt.

Bei Harman, der marxistischer Theoretiker und Mitglied des Zentralkomitees der trotzkistischen Socialist Workers Party war, ist das Subjekt nicht aus der Geschichte exiliert. Insoweit ist sein Werk implizit ein Einspruch gegen Marx-Lesarten, die dessen Werk, insonderheit das ‚Kapital‘, aus Gründen der ‚Wissenschaftlichkeit‘ um das ‚Historische‘ bereinigen, d.h. auch um „alle störenden Zufälligkeiten“ (Engels), ganz im Sinne einer akademischen Arbeit am Begriff – und nicht mehr (s.u.).

Harmans Beispiel eines chinesischen Kaisers ist nicht nur ironisierend vorzuhalten; dieser mächtige Herrscher verhängte vor etwa zweiundzwanzig Jahrhunderten „die Todesstrafe über all jene (…), die ‚die Vergangenheit studierten, um gegen die heutige Zeit zu sprechen‘.“ Der Autor schaltet sich nur marginal in theoretische Kontroversen ein; er geht davon aus, bei Geschichte handele es sich „um die Abfolge von Ereignissen, die zu unserem heutigen Leben geführt haben. Es ist die Erzählung davon, wie wir wurden, was wir sind. Wenn wir sie verstehen, können wir auch herausfinden, ob und wie wir unsere Welt weiter verändern können.“ (I, S. 8) Seine Referenz ist Marx, „um das allgemeine Muster zu verstehen, das zur Gegenwart geführt hat.“ (I, S. 10) – Eine theoretische Fundierung dieses ‚Musters‘ glaubt er offensichtlich bei seinen LeserInnen zumindest in Grundzügen voraussetzen zu können.

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft“, schrieben Marx und Engels 1847/48 im „Manifest der Kommunistischen Partei“, „ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, und Engels präzisierte 1888 und 1890 in einer Anmerkung, „genau gesprochen“ handele es sich um „die schriftlich überlieferte Geschichte“; nunmehr wisse man um die „innere Organisation“ der vorgängigen „urwüchsigen kommunistischen Gesellschaft in ihrer typischen Form“ und mit „der Auflösung dieser ursprünglichen Gemeinwesen beginnt die Spaltung der Gesellschaft in besondre und schließlich einander entgegengesetzte Klassen.“

Diese Thematik wird von Harman in aller Breite und systematisch behandelt, wobei er auf ein großes Quellenmaterial zurückgreift, ohne allerdings auf solche Analysen und Theoriedebatten einzugehen, in denen es um eine Präzisierung des Klassenbegriffs geht, auch da nicht, wo es Anliegen ist, politisch strategische Praxis sinnvoll zu bereichern. Thompson bspw. hat (gegen Althusser) mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass „Klassen“ entstehen, „weil Männer und Frauen in bestimmten Produktionsverhältnissen ihre antagonistischen Interessen erkennen und dazu kommen, klassenmäßig zu kämpfen, zu denken und zu werten“. Das wird von Harman beschrieben und zugleich analysiert und er konkretisiert dabei, was Thompson weiter anmerkt (und in Bezug auf die Entstehung der englischen Arbeiterklasse gezeigt hat), dass „der Prozeß der Formierung von Klassen ein Prozeß der Selbsterzeugung (ist), wenn auch unter Bedingungen, die ‚vorgegeben‘ sind.“ Und um diese Dynamik und ihre Folgen nicht unter Absehung von der sogenannten ‚materiellen Basis‘ geht es dem Autor. Er schließt damit, wie er selbst in der Einführung bemerkt, an u.a. Thompson und Macpherson an, die „nicht ausdrücklich genannt werden.“ (I, S. 14)

Harman, der sein Buch (in der englischen Ausgabe von 2000 ein Band: „People´s History of the World“) bescheiden eine „Skizze zur Einführung in die Weltgeschichte“ nennt (I, S. 11), orientiert sich (auch) insoweit wie Thompson an Marx, wenn er schreibt, dass die „großen Kämpfe um die Zukunft der Menschheit (…) alle ein Element von Klassenkampf (beinhalteten)“ und es nicht „auf mechanische Weise“ zu „Veränderungen“ kommt, sondern vielmehr an „jedem Wendepunkt (…) Menschen eine Entscheidung (treffen), ob sie den einen oder anderen Weg weiterverfolgen, und sie fechten diese Entscheidungen in großen Gesellschaftskonflikten aus.“ Dabei betont er nicht nur, dass ein „Verständnis von der materiellen ‚Basis‘ der Geschichte (…) eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Vorbedingung für das Verständnis alles anderen“ ist (I, S. 10 f.), sondern er geht an jedem Punkt mit Nachdruck auf diese Basis ein.

Marx vermerkte im ‚Kapital‘ in einem Nebensatz, allein eine „Seite (…) existiert für unsre bürgerlichen Geschichtsschreiber“; sie thematisierten die „geschichtliche Bewegung, die die Produzenten in Lohnarbeiter verwandelt“, einseitig „als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang“, demgegenüber aber, so Marx, sei zu zeigen, dass diese „Neubefreiten“ zum „Verkäufer ihrer selbst“ werden, „nachdem ihnen alle Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotnen Garantien ihrer Existenz geraubt sind.“ Das ‚erzählt‘ Harman (um seinen eigenen Begriff ohne abwertenden Unterton aufzugreifen) zumal in Bezug auf die Geschichte Europas seit der großen Krise des vierzehnten Jahrhunderts ebenso kenntnisreich wie gleichsam spannend.

Was in dem Marx-Zitat implizit angesprochen ist, ist jene ‚Geschichte von unten‘, auf die Brecht pochte und die inzwischen schon länger geschrieben wird. Dazu liegt inzwischen eine Vielzahl von Studien vor, vor allem handelt es sich um Einzelstudien. Wenn solche Forschungen und Studien es auch ermöglichen, sich ggf. in „Menschen einzufühlen“, die in historische Ereignisse oder vergangene alltägliche Lebensumstände verstrickt waren, wird damit doch kein „Verständnis für die übergreifenden Kräfte“ geweckt, um die es dem Autor geht. Harman schreibt solche Geschichte und nicht nur die von „‚Königen, Daten, Ereignissen‘“ im großen Wurf und mahnt zugleich an, eben das „Wesentliche“ nicht zu vernachlässigen: „den Zusammenhang von Ereignissen.“ (I, S. 9) Dabei unterschlägt er Einfluss und Wirken historischer Persönlichkeiten nicht und misst üblen Figuren wie Stalin und Hitler eine Bedeutung zu, wie sie sattsam aus nicht nur älteren Geschichtsbüchern bekannt ist (s.u.), beantwortet aber vor allem die Fragen des Brechtschen „lesenden Arbeiters“ – und natürlich weit mehr. Er geht nämlich davon aus und nimmt seinen Rückblick in die Geschichte als Beleg, dass die Niederlagen emanzipatorischer Bewegungen bis in die jüngste Vergangenheit „keinesfalls ein Beleg für das Ende aller Klassenkämpfe“ sind, und zudem nimmt er an, dass die „Schlachten“, die von einer Arbeiterklasse bis in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geschlagen wurden, „von Teilen der nach Milliarden zählenden Arbeiterklasse im neuen Millennium wieder aufgenommen werden.“ Aus diesen Kämpfen, auch das sei zu gewärtigen, wüchsen „erneut Ansätze (…), die Gesellschaft auf der Grundlage der Werte von Solidarität, gegenseitiger Hilfe, Gleichheit, Kooperation und einer demokratisch geplanten Verwendung der Ressourcen aufzubauen“, wobei die herrschenden Klassen – wie seit fünftausend Jahren – danach trachten werden, allen solchen Ansätzen zu begegnen und „auch vor den barbarischsten Mitteln nicht zurückschrecken“ werden, derzeit vor allem, um „die bestehende kapitalistische Ordnung zu verteidigen“. Conditio sine qua non sei daher, so sein Resümee, dass die heutigen kämpfenden bis opponierenden „Einzelgruppen und Bewegungen nur dann wirklich gewinnen können, wenn sie sich zu einer revolutionären Organisation zusammenfügen, die bereit ist, das System in allen seinen Aspekten zu bekämpfen.“ (III, S. 331 f.)

Aufbau und Inhalt

In den drei Bänden findet sich zu Beginn jeden Abschnitts eine Chronologie der Hauptereignisse der jeweils behandelten Epoche, welche es den LeserInnen ermöglichen soll, sich die oft schwer nachvollziehbare Abfolge von Ereignissen in ihren Verknüpfungen zu vergegenwärtigen. Auch das Namens- und Stichwortverzeichnis sowie eines der Erklärung weniger geläufigerer Begriffe soll die Lektüre erleichtern. Wenn bspw. im ersten Band in der Chronologie zum „Prolog: Vor der Entstehung von Klassen“ etwa die ersten Kriege zwischen Gruppen in der Jungsteinzeit genannt werden, was aber noch „keine Aufteilung in Klassen oder Staaten“ beinhaltete, oder aber vermerkt wird, dass mit der Entstehung von Staaten in Mesopotamien und dem Alten Reich in Ägypten „Frauen (…) mehr und mehr als minderwertiger als Männer angesehen“ werden (I, S. 17 f.), dann zeichnet sich auch darin Harmans ‚Erzählung‘ einer ‚Geschichte von unten‘ ab. Dabei korrigiert er gegenüber feministischen Wissenschaftlerinnen im Hinblick auf die Unterdrückung der Frau dahingehend, „dass ihre gesellschaftliche Stellung niedriger war als im Urkommunismus.“ (I, S. 61) Er macht aber auch darauf aufmerksam, dass Frauen im alten Ägypten eine wesentliche, unterstützende Rolle spielten, als im Jahr 1170 v.u.Z. auf Geheiß des Wesirs des Pharao überschüssige Arbeitskräfte zur ‚unterbezahlten‘ „Zwangsarbeit“ herangezogen wurden. Sie nahmen am „ersten dokumentierten Streik der Geschichte teil, als ihre Rationen spät eintrafen und ihre Familien vom Hunger bedroht waren.“ (I, S. 70) Die Rolle der Frauen lässt der Autor auch im Hinblick auf die Ereignisse zur Zeit der Pariser Kommune nicht unerwähnt: Ohne auf ihre Männer zu warten, gingen Frauen auf die Soldaten zu, die in die Menge schießen sollten, und hielten sie trotz ausdrücklichen Schießbefehls davon ab. Das trug wesentlich dazu bei, dass eine „der größten Städte der Welt (…) in den Händen bewaffneter Arbeiter (lag), und diesmal hatten sie nicht die Absicht, die Stadt an einen Haufen Mittelschichtpolitiker zu übergeben.“ Allerdings hatte der Einsatz der Frauen nicht zur Folge, dass sie an Wahlen für die Kommune beteiligt wurden, die sich „durch allgemeines (Männer-)Stimmrecht“ bildete. (II, S. 202 f.) (Das erinnert an den Brief von Marx an Kugelmann, wo es heißt: jeder, „der etwas von der Geschichte weiß, weiß auch, daß große gesellschaftliche Umwälzungen ohne das weibliche Ferment unmöglich sind. Der gesellschaftliche Fortschritt läßt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts [die Häßlichen eingeschlossen].“) – Dies ist eines der zahlreichen Beispiele dafür, was Harman in seine ‚Erzählung‘ aufnimmt, dass Geschichte eben nicht nur von Männern gemacht wurde, was nicht zwingend in der traditionellen Geschichtsschreibung zum Thema wird, wenngleich es (s. Marx) hervorgehoben gehört und nicht bloß Marginalie in der langen Geschichte des Widerstands gegen die Folgen kapitalistischer Ökonomie oder gar diese selbst ist.

‚Widerstand‘ ist das prominente Thema des Autors, das im ersten Band in vier Teilen entfaltet wird, ausgehend von der Entstehung von Klassengesellschaften über die Welt der Antike und das „Mittelalter“ und dem Aufbruch in eine neue Zeit, was mit der Renaissance und der Reformation und den Geburtswehen einer neuen Ordnung und dem letzten Aufblühen der asiatischen Reiche endet. Unter anderem zeigt er in diesem Band, in dem die Zeit bis ins siebzehnte Jahrhundert behandelt wird, dass und wie „Klassenspaltungen (…) die andere Seite der Medaille einer Produktionsweise (waren), mit der ein Überschuss erzeugt werden konnte“ (I, S. 53), warum und wie es darum ging, „den Bauern ein Mehrprodukt abzuringen“ (I, S. 64), wie in den ersten Zivilisationen die „Spaltungen in der herrschenden Klasse (…) begleitet (waren) von der Entstehung neuer untergeordneter Klassen.“ (I, S. 69) Diesen historisch-analytischen Blick hält Harman durch alle Kapitel durch. In Bezug auf den Absolutismus betont er und macht deutlich, wie er „der entstehenden Bourgeoisiegesellschaft als eine mächtige Waffe in ihren Kämpfen gegen den Feudalismus diente“ (Marx), was jedoch, hält Harman gegen Anderson, höchstens insoweit ein „‚erneuerter‘ Feudalismus“ war, „weil die Monarchie sich auf den Markt stürzte und an die städtische Oberschicht anlehnte – mit anderen Worten, weil sie auf Elementen des Kapitalismus ebenso wie auf Elementen des Feudalismus beruhte.“ (I, S. 270, Anm. 400) Auch dies ‚nur‘ ein Schritt in der „Abfolge von Ereignissen, die zu unserem heutigen Leben geführt haben“ (s.o.), ein Schritt, in dessen Folge sich durch die „Tauschwertproduktion“ vor allem „die Welt der Arbeit grundlegend verändern (sollte), sie hörte auf, eine Tätigkeit zur Erfüllung menschlicher Bedürfnisse zu sein, und verwandelte sich in ein Mittel, mit dem Leute, die über Geld verfügten, noch mehr Geld machen konnten“ (I, S. 278), was schließlich – und Harman geht hier ausführlich auf die Wirren und Kämpfe in der Spannbreite etwa von Müntzer bis zu den Levellers ein – „statt der unmittelbaren Konsumbedürfnisse der Reichen oder Armen“ zur „Konkurrenz um der Konkurrenz willen“ zur „Triebkraft der wirtschaftlichen Aktivität“ wurde, wo es um „Wachstum“ ging. (I, S. 330)

Der zweite Band beinhaltet die Teile fünf und sechs und ist auf das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert konzentriert. Zunächst geht es um die Ausbreitung der neuen Ordnung. Wesentliche Themen sind Aufklärung, Sklaverei und Lohnarbeit, wobei auch der Rassismus nicht unerwähnt bleibt und wie er bereits in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wissenschaftlich begründet wurde. Anschließend wird die Ökonomie der „freien Arbeit“ behandelt. Hier geht Harman (u.a.) auf Smith ein, der als erster „die Konturen des neu entstehenden Wirtschaftssystems skizzierte“ und der vor allem zu hinterfragen begann, „um wie viel freier die ‚freie Arbeit‘ im Vergleich zur Sklavenarbeit tatsächlich war.“ (II, S. 49 f.) Dieser Teil ist im Vergleich zum folgenden sechsten Teil, der davon handelt, wie die „Welt aus den Fugen“ geratenen ist, eher knapp gehalten, allerdings ohne wesentliche Verluste für die Argumentationsfigur des Autors. Der Obertitel dieses sechsten Teils spielt auf das Lied an, „The World Turned Upside Down“, das eine Militärkapelle beim Abzug der britischen Truppen aus Yorktown im Jahr 1781 spielte. (vgl. II, S. 59) Selbstredend wird die Französische Revolution behandelt, die Wirksamkeit aufklärerischer Ideen wie das Aufkommen von „gegenaufklärerischen Ideen als Bollwerk gegen die um sich greifende Rationalität des Denkens bei den Massen“ (II, S. 125), die industrielle Revolution mit ihrer Zusammenballung großer Menschenmassen in riesigen Werkstätten und Städten, was gegenüber vorherigen ausgebeuteten Klassen größere Möglichkeiten der Verständigung über eben auch Widerstand bot, was sich in Kämpfen der neuen Klasse der Industriearbeiter niederschlug. Die Geburt des Marxismus folgt als Thema, gemeint ist das „Manifest der Kommunistischen Partei“, was Marx und Engels darum hätten schreiben können, da sie „an einem Ort und zu einer Zeit (lebten), da all die Widersprüche der Ära zusammenkamen, und sie hatten im Gegensatz zu anderen Zugang zu intellektuellen Traditionen und wissenschaftlichem Fortschritt, was sie in die Lage versetzte, diese Widersprüche nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch zu erklären.“ (II, S. 141 f.) Was Gewicht und Rolle der Arbeiterschaft bei bevorstehenden Revolutionen angeht, seien sie „voll und ganz bestätigt“ worden, was sie jedoch „nicht vorhersehen konnten, war die Reaktion der Bourgeoisie auf das gewachsene Gewicht der Arbeiterklasse“ (II, S. 152) – ein Thema, das er in seinen „Schlussfolgerungen“ wieder aufgreift, nicht als Bedenkenträger, sondern mit historisch geschärftem Blick.

Weitere Unterkapitel sind dem amerikanischen Bürgerkrieg gewidmet, der Eroberung des Ostens, d.h. des indischen Reiches und die Unterwerfung Chinas sowie die Entwicklungen im Osmanischen Reich, wobei Japan als Ausnahme gesondert behandelt wird, das dem Niedergang des übrigen Asien, Afrikas, Lateinamerikas und weiter Gebiete Osteuropas entgehen konnte, wobei sich in der japanischen Entwicklung gezeigt habe, „dass der Staat an die Stelle einer noch nicht entwickelten industriekapitalistischen Klasse treten kann, um den Aufbau der Industrie zu fördern und neue kapitalistische Arbeitsformen zu erzwingen.“ (II, S. 198) Den Band beschließt Harman mit der Pariser Kommune, die Marx als die „bisher größte Bedrohung für die neue Welt des Kapitals“ erkannt habe, weshalb ihm das letzte Wort zur Kommune zustehe; die Kommunarden seien, so in einem Brief an Kugelmann, „Himmelsstürmer“ und „ein neuer Ausgangspunkt von welthistorischer Wichtigkeit“ sei gewonnen. (II, zit. S. 208)

Der dritte Band ist dem zwanzigsten Jahrhundert gewidmet. Er beinhaltet auch das Schlusswort des Verfassers, „Die Illusion einer Epoche“, das die Schlussfolgerungen aus seinen Studien enthält und zugleich ein politisches Statement ist (s.o.). Gleich eingangs beschreibt Harman, und zwar eng an Marx, die „Welt des Kapitals“ als eine, in der die „kapitalistische Akkumulation die Zerstörung der Arbeiterfamilie erforderte“ und die Maschinen aufhörten, „ein Hilfsmittel für die Arbeiter zu sein“ und stattdessen die „Arbeiter zu Anhängseln der Maschine“ wurden. (III, S. 18 ff.) Die Ausformulierung der Fortschrittsideologie und die Entwicklung kapitalistischer Demokratie, dabei Rolle, Funktion und Wirksamkeit der Sozialdemokratie, das Problem des Imperialismus, die Politik von Syndikalisten und Revolutionären werden im ersten der insgesamt zehn Kapitel des Teils sieben behandelt. Es endet mit dem „Kriegskurs“ bis 1914, wo der „(w)irtschaftliche Wettbewerb (…) in Konkurrenz um Territorien umgeschlagen (war), und das Ergebnis (…) von der militärischen Stärke“ abhing. (III, S. 48) Es folgen Weltkrieg und Weltrevolution, wobei ein besonderes Augenmerk der Oktoberrevolution in Russland gilt, bevor der Verfasser sich im nächsten Kapitel der deutschen Novemberrevolution und dem Aufruhr in Europa widmet, was mit dem „bittere(n) Preis“ der „Saat des Stalinismus“ endet. (III, S. 105) Nach den Thematiken des Aufstands in der kolonialen Welt und der ‚goldenen Zwanziger‘ kommt Harman zur großen Krise ab dem Schwarzen Donnerstag (24. Oktober 1929), wo er gleich eingangs darauf aufmerksam macht, dass in den Jahren 1931/32 fünftausend Ortsbanken in den USA und zwei Großbanken in Deutschland und Österreich „den Bankrott erklären“ mussten. „Ende des Jahres 1932 war der Industrieausstoß weltweit um ein Drittel gesunken, in den USA sogar um 46 Prozent.“ (III, S. 137)

„Erstickte Hoffnung“, mit dieser Kapitelüberschrift bezeichnet der Autor die Zeit von 1934 bis 1936, als die Nazis „buchstäblich über Nacht die mächtigste Arbeiterbewegung der Welt zerschlagen“ hatten, eine Lektion, „die rechte Kräfte in anderen Ländern schnell lernten“. (III, S. 167) Hoffnungen gingen unter. Der Anarchist Victor Serge hatte diesem Gefühl der Ohnmacht und des Scheiterns in seinem 1939 erschienen Roman „Mitternacht des Jahrhunderts“ Ausdruck gegeben; Harman übernimmt diesen Titel für sein nächstes Kapitel, in dem er die Krise des amerikanischen Traums schildert, den Weg von der Wirtschaftskrise zum Krieg, wobei er sich auch über das Wesen des Krieges auslässt (wo er allerdings eher politologisch als politökonomisch argumentiert), um schließlich jene „äußerste Barbarei“ in den Blick zu nehmen, die in „Bezug auf die ökonomischen Erfordernisse und die Kriegsanstrengungen (…) für den deutschen Kapitalismus keinerlei Sinn“ ergaben. Harman argumentiert, die „deutsche herrschende Klasse“ hätte Menschen „mit geistig verwirrten Ansichten“ gebraucht, „um Anfang der 1930er Jahre die Krise zu bewältigen. Ihre geistige Verwirrung gab den Kapitalisten eine Kraft an die Hand, die die Organisationen der Arbeiterklasse unterwarf und dann mit höchster Energie den Weg zur europäischen Vorherrschaft weiterverfolgte. Im Gegenzug wurde den Nazis gestattet, ihre wirren Fantasien durch Auslöschung von über sechs Millionen Juden, ‚Zigeunern‘ und Behinderten auszuleben.“ (III, S. 220 ff.) Nach dieser Zeit keimte Hoffnung auf, weil „Widerstandsbewegungen“ entstanden waren und „einen revolutionären Umbruch in Europa anzukündigen“ schienen (III, S. 222), die aber schnell wieder erstarb. Harman erinnert hier an das Treffen von Churchill und Stalin im Oktober 1944 und die Konferenzen in Teheran, Jalta und Potsdam mit Roosevelt. Die Zeit des Kalten Krieges brach an, wo auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs eine „bleierne ideologische Konformität“ erzwungen wurde. (III, S. 239) Ein kurzes Zeitalter des Aufschwungs folgte, und zwar nicht nur für den Weltkapitalismus, sondern auch für die ArbeiterInnen, wobei Harman die ‚Reformen‘ des Sozialwesens, die weltweite Arbeitskräfterekrutierung inclusive der von Frauen als Maßnahmen ausweist, die der kapitalistischen Ökonomie durchaus dienlich waren (und sind). Über die Unabhängigkeit der Kolonien, wo also die „Imperialisten (…) auf dem Rückzug (waren), und überall in den Kolonien (…) die unterdrückten Völker ihre eigene Lehre daraus“ zogen (III, S. 250), und eine kurze Skizze von Maos Sieg im (dann) „Volkschina“, wendet sich der Autor den Entwicklungen in den kommunistischen Ländern nach Stalins Tod (1953), der kubanischen Revolution und dem Vietnamkrieg und schließlich Chinas Sprung zur Marktwirtschaft zu. Es entstand, was er im letzten Kapitel die „neue Weltordnung“ nennt. Immer weist er dabei auf ‚Wogen der Radikalisierung‘ hin (insb. die 68er Studentenbewegung), zeigt aber auch, wie und warum sie scheiterten. Mit politischen und ökonomischen Erklärungen zur Krise des Staatskapitalismus und einer Einlassung wie Einschätzung zu „Islam, Reform und Revolution“ kommt Harman knapp auf den neuen Imperialismus zu sprechen, wo die USA auch den anderen Weltmächten zeigen wollten, „dass sie sich ihren Zielen unterzuordnen hatten, denn nur die USA waren mächtig genug, den Weltpolizisten zu spielen“, wobei nicht nur die USA sich in dieser „neuen imperialistischen Politik“ übten, Russland gesellte sich dazu. (III, S. 308 f.)

Harmans Schlussfolgerungen, die „Illusion einer Epoche“ (was durchaus als eigenständiger Essay gelten darf), beginnen mit (u.a.) einer kritischen Bemerkung zu Fukuyamas ‚Ende der Geschichte‘ und Giddens Auffassung, die Begriffe ‚links‘ und ‚rechts‘ seien historisch überholt. Wir lebten zwar laut Giddens noch nicht in der besten aller Welten, „aber es seien nur noch ein paar Stellschrauben zu justieren, und dann sei es endlich so weit, lautete der Tenor.“ (III, S. 313) Solche politikwissenschaftlichen bzw. soziologischen Zeitdiagnosen sähen ab von Luftverschmutzung, von Seuchen, oft mehr als desolaten Wohnverhältnissen, verunreinigten bis krankmachenden Lebensmitteln, wie sie schon von Dickens und Engels als ‚Begleiterscheinungen‘ des Kapitalismus angeprangert wurden, inzwischen gefolgt von Millionen von Flüchtlingen, die der Zahl nach mehr aus ihrer Umwelt zu fliehen gezwungen sind als vor Kriegen. Der Autor summt solche sattsam bekannten Probleme weiter auf und meint, das „Problem der Menschheit ist nicht die Technologie oder die Anzahl der Menschen, sondern die Art und Weise des Einsatzes der Technik in der bestehenden Gesellschaft“, und er fürchtet, dass die „Barbarei, zu der es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht kam, (…) im 21. Jahrhundert bittere Realität werden“ könnte. (III, S. 320 ff.) Gegen den Marxisten Hobsbawm hält Harman, Marx habe sich eben nicht „bezüglich der Arbeiterkasse und ihrer unvermeidlichen Opposition zum System“ geirrt (III, S. 324), schaue man – weltweit – auf die quantitative Zunahme von Lohnarbeit stelle sich vielmehr die Frage, wie, mit Marx gesprochen, aus dieser „Arbeiterklasse an sich“ eine „‚Klasse für sich‘“ werden kann, und der Autor ist nahe bei Thompson (ohne ihn zu zitieren), wenn er sagt, dies würde sich erst ändern, wenn sie „gezwungen sind, innerhalb der alten Gesellschaft zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen zu kämpfen. In solchen Kämpfen entstehen neue Bindungen, Loyalitäten und Werte.“ (III, S. 325 f.) Wie in der Vergangenheit werden sie „Schritte auf dem Weg zur Klasse für sich“ gehen (III, S. 328), was „nicht nur eine Frage der materiellen Veränderungen um uns herum (ist), sondern auch der Herausbildung konkurrierender Parteien in dieser Welt.“ So sich oppositionelle Einzelgruppen und Bewegungen zu „einer revolutionären Bewegung zusammenfügen, die bereit ist, das System in all seinen Aspekten zu bekämpfen“ (s.o.), könnte aus diesen Kämpfen erneut Ansätze erwachsen, „die Gesellschaft auf der Grundlage der Werte von Solidarität, gegenseitiger Hilfe, Gleichheit, Kooperation und einer demokratisch geplanten Verwendung der Ressourcen aufzubauen.“ Doch ist, wie gehabt, mit Gegenwehr der „herrschenden Klassen der Welt“ zu rechnen, die auch – wie zitiert – „vor den barbarischsten Mitteln nicht zurückschrecken, um ihr geheiligtes Recht auf Macht und Eigentum und die bestehende kapitalistische Ordnung zu verteidigen, selbst wenn das den Untergang des organisierten menschlichen Lebens bedeutet.“ (III, S. 331 f.) – Solche Sätze mahnen die Lektüre Adornos an.

Diskussion

Harman ist kein vorgestriger Marktschreier des Klassenkampfes. Vormaligen Fragen nach produktiver, indirekt produktiver und unproduktiver Arbeit und entsprechender Lage von Klassenfraktionen und Bewusstseinsformen geht er ebenso wenig – theoriegeleitet – nach wie solchen nach ‚radikalen Bedürfnissen‘ oder ‚enormem Bewusstsein‘ gegenüber ‚notwendig falschem‘. Auch macht er sich nicht im Hier und Jetzt auf die Suche nach einem möglichen, neuen ‚revolutionären Subjekt‘ wie etwa jüngst Guy Standing mit seiner These vom Prekariat als Klasse im Entstehen. Bei Standing haben (womöglich) die jüngeren Gebildeten eine Vorreiterfunktion, damit bald wieder die 68er Losung „Ça suffit“ agitatorische Wirkung tut.

Solcherlei Theorieentwürfe sind Harmans Sache nicht (wie er generell wenig auf Fragen der Theorie eingeht, auch nicht auf solche, die den inhaltlichen Kern seiner Arbeit tragen [s.o.]). Er hält an der Bedeutung der ArbeiterInnen für den Prozess revolutionärer Umwälzung der sozioökonomischen Verhältnisse im Weltmaßstab fest. Er verfasste seine ‚Geschichte von unten‘ oder, wenn man so will, ‚linke Gegen-Geschichte‘ gegen jene als Geschichtsschreibung der Sieger zu apostrophierende auch, um neuem Patriotismus und rechter Bauernfängerei entgegenzuhalten: Darum seine Geschichte der großen (und manchmal kleineren) Kämpfe, der Gesellschaftskonflikte, eingewoben in die Entwicklung der Produktivkräfte, verknüpft mit Veränderungen der Produktionsverhältnisse, worin sich, nicht kampflos, die gesellschaftlichen Beziehungen transformierten, im Widerstand gegen Macht und Herrschaft, den Schanzen gegen rebellische bis revoltierende Opposition gegen die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums um den Preis von Hunger und Not, Tod und Elend.

Diese Geschichte der Klassenauseinandersetzungen und ihre jeweiligen historischen Ursachen zeigt Chris Harman an der Geschichte der Menschheit auf und thematisiert auch das, was wir über den sogenannten „Urkommunismus“, in dem „unsere Vorfahren in (…) Hunderten Generationen“ lebten (I, S. 31), wissen oder nahezu gesichert annehmen können. In die Ur- und Frühgeschichte hat dieser Begriff kaum Eingang gefunden oder wurde verworfen. Allerdings ist auch da beschrieben, was Engels unter der „ursprünglich(n) kommunistische(n) Gesamthaushaltung“ oder den „kommunistische(n) Familiengemeinden“ und später unter „Gentilordnung“ und „Gentilgesellschaft“ ausführte. Was Harman damit gleich einführend betonen will und ausführt, ist, dass es hinreichend wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass es Gesellschaften gab (oder ‚Gemeinschaften‘), die „nicht von Konkurrenz, Ungleichheit und Unterdrückung gekennzeichnet waren“, die „Kooperation und nicht die Konkurrenz untereinander“ Vorrang hatte. (I, S. 22 f.) Es ging und geht vielleicht auch anders, ist seine Botschaft.

Vor allem aber will der Autor dabei sehr deutlich vor Augen führen, was scheint´s eine Banalität ist, woran zu erinnern aber zumindest in Bezug auf Teile wissenschaftlicher Diskurse notwendig scheint (s.u.): Geschichte ist nicht als Prozess ohne tätige Menschen, ohne Subjekte aufzufassen.

Man kann gegen Harman sicherlich einige Punkte einwenden, die aber nicht sein gesamtes Werk und da im Sinne eben seiner Botschaft im Wesentlichen berühren. Notwendig und richtig ist, dass er über den europäischen Tellerrand hinausschaut, wobei Afrika recht kurz kommt – man erfährt wenig über die Geschicke derer, die als Eroberte und Kolonisierte halt nur ‚vorkommen‘. Unterbelichtet bleibt auch und ein wenig einseitig die Betrachtung der Unterwerfung Perus, wo nicht deutlich darauf verwiesen wird, dass der Bruderkrieg der Inkas mit all seinen Brutalitäten zu einer Schwächung führte, die auch dazu beitrug, dass Pizarros Soldaten die Krieger Atahualpas vom Rücken ihrer schnellen Pferde niederschießen und hinschlachten konnten. Ursache war halt nicht nur ein Zuviel an Gold und das Fehlen von Eisen.

Unter anderem diskussionswürdig scheint auch die vielleicht nur saloppe Formulierung zu den baltischen Republiken, „die die Bolschewiki im Jahr 1917 in die Unabhängigkeit entlassen hatten.“ (III. S. 212) Da bleiben deren Unabhängigkeitskriege zu sehr außen vor. Auch wo er sich über Hitler und die Nazis und deren Barbarei bzw. über die von der herrschenden Klasse ‚geduldeten‘ „verwirrten Fantasien“ (s.o.) auslässt, bleibt er im Fahrwasser einer Dämonisierung der Figur Hitlers und wäre mit einem Blick in die Berichte von Mitgliedern der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst (Neumann, Marcuse, Kirchheimer) und spätere Analysen von Horkheimer und Adorno gut beraten gewesen, zumal er damit seine historische Bearbeitung hätte theoriegeleitet unterfüttern können.

Doch solche (und andere mögliche) Hinweise bleiben eher marginal insbesondere angesichts seiner ‚Erzählung‘ der Geschichte Europas ab der großen Krise des vierzehnten Jahrhunderts, womit er dezidiert Geschichte als eine eben auch des Widerstandes und der Klassenkämpfe, der errungenen Siege und mehr noch der Niederlagen und eben auch Integration der Armen, der Ausgebeuteten, der Arbeiter entziffert, sich damit implizit gegen antihumanistische Lesarten von Marx wendet, gegen Abkoppelungen der Frühschriften Marx´ vom ‚Kapital‘ und damit schließlich auch gegen eine sich so nennende neue Marxlektüre, welche antritt, dessen Analyse der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft um deren immanenten politischen Gehalte zu bereinigen, und zwar im Tenor eines zu diskreditierenden Weltanschauungs- oder Arbeiterbewegungsmarxismus (nicht nur) älterer Couleur. Dagegen ist sein Werk, die historische Aufarbeitung eines ‚Musters‘ (s.o.) im Sinne Marx´, eine Argumentationshilfe:

Über den Vorrang des Logischen gegenüber dem Historischen im ‚Kapital‘ wurde bereits viel diskutiert und publiziert, wodurch aber nicht das Historische zu einer zu vernachlässigenden Größe wird, Geschichte gleichsam zur Illustration verkommt. Inzwischen geht es – und zwar theoretisch nicht weit entfernt vom kritischen Rationalismus – um die Unterscheidung von „zwei Analyseebenen, Formanalyse und Ideologiekritik“ (Elbe), wobei de facto der analytische Ansatz präferiert wird, womit sich Elbe als Vertreter dieser neuen Marx-Lesart den von ihm heftig abgewehrten Positivismusvorwurf eingehandelt hat. Behrens und Hafner kritisieren, diese „Präferenz tritt in der Diskussion des Dialektikbegriffs heraus und schließlich in der begrifflichen Annäherung an Positionen eines Luhmann-Marxismus.“ Man mag Elbe (als einem der Vertreter dieses Theorieansatzes) noch folgen, „Gegenstand dialektischer Darstellung in der Kritik der politischen Ökonomie ist die Struktur eines gesellschaftlichen Ganzen sowie dessen strukturbedingten Entwicklungstendenzen, seine innere Historizität.“ Und ganz in diesem Sinne heißt es weiter, die „Abstraktion, die im Tauschakt mit den qualitativ unterschiedlichen Gebrauchswerten geschieht, heißt deshalb ‚Realabstraktion‘, weil sie nicht von Menschen im Kopf, auch nicht unbewusst im Kopf, vorgenommen wird.“ (Elbe) Mit diesem Taschenspielertrick einer schon als Begriff fragwürdigen ‚Realabstraktion‘ ist jene Hintertür weit geöffnet, durch die der Mensch mitsamt seinem Hirn aus der wissenschaftlichen Betrachtung exiliert wird. So geht es dann auch schlussendlich nicht mehr „um die Abschaffung menschenunwürdiger Verhältnisse (…), sondern um wissenschaftlich abgesicherte Plausibilität“ (Lenhard) – wohl samt „innerer Historizität“, was immer das auch sei. Da ist es für die Vertreter der ‚neuen Marxlektüre‘ nur opportun, solche Bemerkungen von Marx und Engels wie in der ‚Deutschen Ideologie‘ ad acta zu legen, dass auf die „Geschichte der Menschen“ einzugehen ist, „da fast die ganze Ideologie sich entweder auf eine verdrehte Auffassung dieser Geschichte oder auf eine gänzliche Abstraktion von ihr reduziert.“ Auch den wie von Marx in der ‚Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‘ formulierten „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, schiebt man da besser erst einmal zur Seite und lässt ihn bei der Analyse außen vor, zumal jenes das Kapital bedrohende „Gespenst des Kommunismus“ (Marx, Engels) nicht mehr wirklich in Europa umgeht, nunmehr auf Grund neuerer historischer Entwicklungen gebannt zu sein scheint und es nicht mehr und aktuell schon gar nicht zu drohen scheint, dass es aus den Seiten des Marxschen ‚Kapital‘ herausschlüpft.

Daher könne man, geht die Rede schon länger, diese Lektüre ohne politische Bedenken und ganz ‚neutral‘ aufnehmen und eben auch in einen streng wissenschaftlichen Diskurs überführen. Im neuen akademischen Elfenbeinturm wird man sich daher ungern mit der Bemerkung in den ‚Grundrissen‘ auseinandersetzen, dass die „Herrschaft der Verhältnisse (jene sachliche Abhängigkeit, die übrigens wieder in bestimmte, nur aller Illusion entkleidete, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse umschlägt) in dem Bewusstsein der Individuen selbst als Herrschen von Ideen erscheint und der Glaube an die Ewigkeit dieser Ideen, d.h. jener sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse, von den herrschenden Klassen, of course, in jeder Weise befestigt, genährt, eingetrichtert wird.“ (Marx) In diese Ecke mag man vermutlich nicht gestellt werden.

Es bedürfte natürlich weiterer Auseinandersetzungen mit den Vertretern dieser ‚neuen Marxlektüre‘, um deutlich zu zeigen, wie sie ihr Scherflein dazu beitragen, die politischen Gehalte des Marxschen Werkes zu eskamotieren. Die Erosion des vormaligen erbitterten Antikommunismus mit seiner Diskreditierung der Marxschen Theorie macht es möglich, sich ihr gefahrlos zuzuwenden und sogar Widersprüche aufzudecken (woran dann die Volkswirtschaftslehre bastelt) und dabei den möglichen politischen Impuls abzuschatten oder außen vor zu lassen, der sich aus der Reflexion solcher Widersprüche ergeben könnte. So macht man dann jenes „Gespenst“ selbst der Möglichkeit nach unsichtbar und versucht, die Marxsche Theorie zurück in Philosophie zu überführen, der Marx schon mit seiner „Negation der seitherigen Philosophie, der Philosophie als Philosophie“ eine gründliche Abfuhr erteilt hatte mit vor allem der Forderung, dass die „Philosophen (…) die Welt nur verschieden interpretiert“ haben, es aber darauf ankomme, „sie zu verändern“, wie es in der bekannten elften Feuerbachthese heißt. Es scheint, dass sich die neuen Marxinterpreten selbst, indem sie dessen (Gesamt-)Werk um das Politische bereinigen, gleichsam um den aus ihrer Sicht Schnee von gestern, vor den Karren der Absegnung der Verhältnisse noch unter dem Etikett einer Kritik spannen. Da stören dann Hinweise wie in den ‚Frühschriften‘ von 1844, dass – „wie alles Natürliche entstehn muß“ – „auch der Mensch seinen Entstehungsakt (hat), die Geschichte, die aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen. – (Darauf ist zurückzukommen.)“

Fazit

Marx neigte bisweilen zu derben Invektiven: „Die breimäuligen Faselhänse der deutschen Vulgärökonomie schelten Stil und Darstellung meiner Schrift“, schrieb er in einer Anmerkung im Nachwort zur zweiten Auflage ausgerechnet des ‚Kapital‘, das sich die Vertreter der ‚neuen Marxlektüre‘ vor allem vorgenommen haben. Wie Marx diese Vertreter schurigeln würde, mag man heute getrost einem munteren Kamingeplauder überlassen. Vor fünfzig Jahren wären sie in den Topf dessen geworfen worden, was man kurzum bürgerliche Wissenschaft nannte – und was auch nicht sonderlich geholfen hat. Man darf aber mit Fug und Recht vermuten, dass er sich gegen solche interessierte Verschlankung über akademisierende Aufblähung einer Arbeit am Begriff seiner ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ verwahrt hätte.

Von solchen und anderen Debatten ist Harman weit entfernt. Er hält sich an das, worauf laut Marx „zurückzukommen“ ist. Und da zumal in der philosophischen Diskussion um Kant, Hegel, Marx, Adorno das Historische zunehmend ins Hintertreffen gerät, da auch in der Soziologie Zungenschläge à la Giddens nachhallen und gut zu vermarktende ‚braincatcher‘ wie Risikogesellschaft, Be- oder Entschleunigung bis zum scheint´s tiefer schürfende Anerkennungsproblem, das sich vor den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital schiebt, bereits vorliegende Gesellschaftsanalyse und -kritik verdrängen, ist es für Studierende generell und nicht nur solche der Philosophie, Soziologie und Geschichte, allemal für politisch Interessierte dringend zu empfehlen, Harmans ‚Weltgeschichte‘ aufmerksam zu lesen, sich damit auseinanderzusetzen, auch in Bezug auf Perspektiven politischen Handels – in einer Welt tief zu Füßen des neuen akademischen Elfenbeinturms, einer Welt, wie sie geworden ist, aber nicht zwingend bleiben muss.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 07.07.2017 zu: Chris Harman: Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen. Bd. 1, 2, 3. LAIKA-Verlag GmbH & Co. KG (Hamburg) 2016. ISBN 978-3-944233-73-4. Band I: Frühzeit bis 17. Jahrhundert. 394 Seiten. ISBN 978-3-944233-37-6. 28,00 EUR; Band II: Das 18. und 19. Jahrhundert. 239 Seiten. ISBN 978-3-944233-51-2. 21,00 EUR; Band III: Das 20. Jahrhundert. 385 Seiten. ISBN 978-3-944233-66-6. 28,00 EUR. Übersetzt von Rosemarie Nünning. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22655.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.


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