Klaus J. Bade: Migration - Flucht - Integration
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 08.08.2017
Klaus J. Bade: Migration - Flucht - Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage’ bis zur ‚Flüchtlingskrise’. Erinnerungen und Beiträge. von Loeper Verlag (Karlsruhe) 2017. 650 Seiten. ISBN 978-3-86059-350-9. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.
Thema und Entstehungszusammenhang
Durch die sog. „Flüchtlingskrise“, die seit 2014/2015 und gegenwärtig erneut (Sommer 2017) in Medien, Öffentlichkeit und Politik – wahlkampftaktisch motiviert und ideologisch aufgeladen – vehement und kontrovers diskutiert wird, die jedoch eher eine Krise der deutschen und europäischen Außen-, Entwicklungs- und Flüchtlingspolitik ist, ist auch die sozialwissenschaftliche Migrations- und Integrationsforschung wieder gefragt, welchen Beitrag sie zur Analyse und „Lösung“ der neuen Situation leisten kann. Wiederholt sich die Geschichte – nun unter veränderten Rahmenbedingungen? Was kann die (Migrations- und Integrations-) Politik aus den Erkenntnissen der Forschung aus den letzten etwa 50 Jahren lernen? Was hat sich als praktikabel und adäquat bewiesen? Welche Versäumnisse und Verdrängungen sollten nicht wiederholt werden? Wohin führen ideologische Grabenkämpfe angesichts einer realen Einwanderung? Und nicht zuletzt: Wird die Flüchtlings- und die daraus konstruierte Sicherheitsfrage die Bundestagswahl entscheiden?
Was die bundesdeutsche Migrations- und Integrationsforschung betrifft, so ist der Autor Klaus J. Bade sicher ihr renommiertester, bekanntester und politisch einflussreichster Vertreter. Von daher ist es interessant und wichtig, was dieser in einem voluminösen Werk an „Erinnerungen und Beiträgen“ aus seinen über vier Jahrzehnten Forschung, speziell der, wie er es nennt, „kritischen Politikbegleitung“, einige Jahre nach seiner Emeritierung 2007 zusammen gestellt hat und was daraus zu schlussfolgern wäre.
Autor
Klaus J. Bade ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und lehrte bis 2007 an der Universität Osnabrück. Dort hat er das mittlerweile bekannte Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) gegründet. Ferner war er Mitbegründer des bundesweiten interdisziplinären Rates für Migration (RfM) und Stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates der Bundesregierung für Migration und Integration 2004/ 05 und von 2008-2012 Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in Berlin. Er hat an mehreren ausländischen Universitäten (u.a. Harvard, Oxford) gelehrt und war am Wissenschaftskolleg zu Berlin tätig. „Für sein Engagement in Forschung und Kritischer Politikbegleitung hat er diverse Auszeichnungen erhalten“ (Werbetext zum Buch).
Klaus J. Bade hat etliche Forschungsprojekte initiiert und geleitet, dutzende Bücher und hunderte Aufsätze und kleinere Schriften und Pressebeiträge veröffentlicht. Nicht zu Unrecht gilt er als der „Begründer der modernen Historischen Migrationsforschung in Deutschland“ (ebd.). Es ist nicht übertrieben, wenn man ihn als Lichtgestalt der deutschsprachigen (kritischen) politikberatenden und politikbegleitenden Migrationsforschung bezeichnet.
Aufbau
Das Buch beginnt, quasi als Einstimmung in die Thematik (S. 5), mit sechs Zitaten von Bade aus den Jahren 1982, 1993, 1994, 1997, 2000 und 2016, die gleichzeitig seine Grundposition (Deutschland ist ein Einwanderungsland) und seine Intention wiedergeben (wir brauchen eine andere Einwanderungs- und Integrationspolitik). Danach erst erfolgt das Inhaltsverzeichnis, das aber nur den ersten Teil umfasst. „Teil II: Beiträge“ folgt ab S. 107 mit einem eigenen Verzeichnis der über 200 (!) Artikel mit unterschiedlichem Umfang.
Ein „Geleitwort“ von Aydan Özoguz, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, vom November 2016, ist dem Vorwort des Autors vorangestellt.
Bade selbst erklärt im Vorwort den Aufbau des Buches wie folgt: „Der kürzere erste Teil umfasst die Einführungen zu den einzelnen Kapiteln der Beiträge-Sammlung … Der zweite, sehr viel umfangreichere Teil bietet die Beiträge selbst“ (S. 13). Nun ist es so, dass der 1. Teil allein 20 separate Einführungen umfasst, von „Politische Erkenntnisverweigerung: vergebliche Warnungen und Mahnungen im verlorenen Jahrzehnt der 1980er Jahre“ (S. 27-28) über das bekannt gewordene „Manifest der 60: Deutschland und die Einwanderung“ 1993/94 bis hin zur Abschiedsvorlesung 2007 und den neun Beiträgen zu „Migration, Integration, Flucht/ Asyl und Politik um frühen 21. Jahrhundert: Bestandsaufnahmen, Dokumente, Denkansätze und Diskussionsbeiträge“ (S. 83-106) mit dem letzten Beitrag zu „Die Suche nach dem neuen ‚Wir‘“ (S. 102ff). Ein Blick auf die Einführungsartikel zeigt: Zu nahezu allen brisanten migrations- und integrationspolitischen Themen der letzten Jahre hat Bade Stellung bezogen: „Sarrazin-Debatte“, „Islamkritik“, „Flüchtlingskrise“, „NSU“, „Willkommenskultur“ usw.
Dem II. Teil wird ein eigenes mehrseitiges Inhaltsverzeichnis vorangestellt, das für eine Begriffs- oder Themensuche gut geeignet ist, wobei die aktuellsten Beispiele ein Interview über „Ideelle Heimat in der Einwanderungsgesellschaft“ oder ein Aufsatz über „Menschenrechte in Gefahr“, aus dem Jahr 2016 sind.
Was tun mit 20 Einführungsartikeln und über 200 Einzelbeiträgen? Der Rezensent ist gezwungen auszuwählen.
Ausgewählte Themen und Inhalte
Özoguz bleibt in ihrem Geleitwort mit lobendem Blick auf Bade („einsamer Rufer“, „Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Politik“) und dessen kritischer Politikbegleitung bei wohlklingenden, aber eher phrasenhaften und wenig konkreten Ausführungen (Forderungen wie gehabt nach einem „modernen Staatsangehörigkeitsgesetz“, „klaren Einwanderungsregeln“, „vernünftiger, nachhaltiger Integrationspolitik“), gesteht aber auch mit Blick auf Bade, dass „bei uns in Sachen Migrations- und Integrationspolitik alles 25 Jahre zu spät (kommt)“ und dass eine „rückwirkende Integrationspolitik“ vonnöten sei.
Bade umreißt in seinem Vorwort (S. 12-14), worum es ihm bei der Publikation geht: „ … um eine autobiographisch orientierte Auswahldokumentation meiner publizistischen Beiträge zu den Beobachtungs- und Handlungsfeldern Migration, Flucht und Integration seit den frühen 80er Jahren“. Angesichts der (Über-)Fülle der einzelnen Artikel will ich inhaltlich-thematisch von daher vor allem seine „Einleitung: Grenzerfahrungen zwischen Migrationsforschung und Migrationspolitik“ (S. 15-24) näher betrachten und ein weiteres Beispiel, seine Abschiedsvorlesung „Prekäre Bilanz: ‚Leviten lesen‘“ von 2007 mit Geleitworten dazu, kurz vorstellen und (an-)diskutieren.
In seiner Einführung betont Klaus J. Bade, dass er „immer wieder und lange vergeblich … eine Generaldebatte zum Thema Zukunft in Sachen Migration und Integration als Zentralbereiche der Gesellschaftspolitik“ gefordert habe und dass es ihm um wissensbasierte „Aufklärung“ mit Blick auf „Migration, Flucht, Asyl und Integration“ ging und geht. Seine Intention ab den 80er Jahren und „verstärkt seit den 90er Jahren“ war der Versuch, „im Bereich von Migrations- und Integrationspolitik mit Anregungen und Kritik gegenüber Politik, Verbänden und Stiftungen wirksam zu werden“ (S. 18). Dafür entwickelte er die beiden „Konzepte“ „Kritische Politikbegleitung“ und „doppelter Dialog“ (zwischen Wissenschaft/ Forschung und Praxis/ Politik) und nutzte dafür insbesondere Medien und spezielle Gremien, die er oft mit begründet hat (vgl. oben). Ziele seiner Bemühungen waren „pragmatische Konzepte“ auf der Seite der Politik und Praxis, z.B. ein Abbau des „Angstbegriffs Einwanderung“ sowie eine „Forcierung der interdisziplinären Migrationsforschung“ auf der anderen Seite. Bade erwähnt hier seine Bemühungen als konzeptgebender Initiator und (Mit-)Begründer etlicher Forschungs- und Beratungsorganisationen (vgl. oben) und von Publikationsreihen sowie seine Nähe zu Stiftungen und zur Politik. Aber hier ist auch die Rede von einer „desinteressierten Bundesregierung“, von offenen Widersprüchen einer Arbeit im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Politik sowie Interessengegensätzen zwischen unterschiedlichen Gremien, denen er angehörte sowie oftmals auch von „enttäuschenden Rückschlägen“ und mühsamen Unterfangen (vgl. Max Weber sinngemäß: Politik ist das mühsame Durchbohren dicker Bretter).
Allen Beiträgen durchziehen die Erkenntnisse (nach Bade), dass die 80er Jahre ein „verlorenes Jahrzehnt“ der Migrations- und Integrationspolitik waren und dass die heftigen Diskussionen um „Einwanderungsland – ja oder nein“ zu einem „sozialschizoiden Paradox“ führten, da eine „Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland“ bestand. Die 90er Jahre waren vor allem durch „Zuwanderungsdruck“, „Asylstreit“ und fremdenfeindliche Gewalt in der Folge der deutschen Einheit und des politisch-ökonomischen Wandels in Osteuropa gekennzeichnet. Dies führte dann zum „wissenschaftlichen Protest“ in Form des „Manifest der 60: Deutschland und die Einwanderung“ von 1993/94, das Bade mitinitiiert hatte. Danach beginnt die Zeit der allmählichen Etablierung und Institutionalisierung von „interdisziplinären Forschungsorganisationen“, einer „kritischen Politikbegleitung“ sowie der Gründung des IMIS und des „bundesweiten Rates für Migration“ 1998/99. Überall war Bade maßgeblich, verantwortlich und richtungsweisend beteiligt. Weitere Kommissionen („Unabhängige Kommission Zuwanderung“ 2000/01) und Organisationen („Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration“ 2003/04) folgten.
Mitte 2007 wurde Bade emeritiert und schied aus dem aktiven akademischen Dienst aus. Der Titel seiner „Abschiedsvorlesung hieß: Leviten lesen. Migration und Integration in Deutschland“. Im Einführungsbeitrag (S.72) bemerkt er dazu: „In meiner … Bilanz warnte ich vor den Folgen der skandalisierenden Desintegrationspublizistik und der aufsteigenden ‚Islamkritik‘“. Er kritisiert das seiner Meinung nach „durch politische Verschlimmbesserung“ zustande gekommene „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ sowie eine „beratungslose Politik“ und fordert „nachholende (Integrations-)Programme“. Nebenbei erwähnt er die Verleihung des „Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse“ 2007 durch den Bundespräsidenten und sagt nochmal Dank an Stiftungen und Förderer seiner Arbeit. Ab S. 294 kann man Einblick nehmen in den Text der Abschiedsvorlesung sowie etlicher Grußworte:
Christian Wulff, Nds. Minister- und späterer Bundespräsident;
Lutz Stratmann, Nds. Minister für Wissenschaft und Kunst;
Wilhelm Krull, Generalsekretär der VW-Stiftung;
Michael Bommes, Direktor des IMIS (leider verstorben);
Armin Laschet (damals NRW-Minister für … Integration, heute Ministerpräsident von NRW) – wahrlich eine illustre Ansammlung der etablierten Politik- und Wirtschafts-Prominenz.
Weiter umreißt Bade seine Intention als Dreiklang zwischen „Forschungsarbeit, Politikberatung und publizistischer Politikbegleitung“, bezogen auf „zwei Leitaspekte, nämlich auf Migrationssteuerung und Integrationsförderung“ (S. 294), wobei er Migrationspolitik weitgehend auf der Bundesebene ansiedelt und Integrationsförderung vorwiegend Ländersache sei (S. 27). Er bemerkt zu Recht, dass „trotz lange fehlender Integrationskonzepte“ in Deutschland die Einwanderung ein „pragmatischer Erfolgsfall“ war (S. 294) oder dass sich „ein Einwanderungsland wider Willen über gelegentlich widerwillige Einwanderer nicht wundern (sollte)“ (S. 297). Bade nennt „vier Innovationsschritte“ bzw. Reformen seit 1990:
das Ausländerrecht 1990,
das Staatsangehörigkeitsgesetz 2000,
das Zuwanderungsgesetz 2005 und
die Integrationsgipfel seit 2006 (S. 298f),
spricht aber dennoch von der dringenden Notwendigkeit eines „migrationspolitischen Befreiungsschlags“ (S. 299). Dies alles klingt oftmals ambivalent bis paradox. Er lobt die Reformen (als Verbesserungen) und beklagt die Untätigkeit der Politik und die Halbherzigkeit der Reformen als Skandal. Dabei schwingt bei Bade eine Art „Prinzip Hoffnung“ mit, konkret, dass „die Verfallzeit von defensiver Erkenntnisverweigerung … geschrumpft zu sein scheint“, dass er beim Blick in die Zukunft sowohl „verhalten skeptisch“, als auch begründbar optimistisch sei, dass er wohl „zu oft enttäuscht“ war, aber als Abschluss und Fazit konstatiert: „man soll die Hoffnung bekanntlich nie aufgeben“ (S. 300).
Im Folgenden gehe ich kurz auf die m.E. zentralen Aussagen der Grußworte von Christian Wulff (damals Ministerpräsident von Niedersachsen), Michael Bommes (Nachfolger von Klaus Bade und Direktor des IMIS – leider vor wenigen Jahren verstorben) sowie von Armin Laschet (damals Minister in NRW und heute Ministerpräsident von NRW) ein (S. 300-308).
Klaus Bade wird als „große und beeindruckende Persönlichkeit“ bezeichnet, als „ausgezeichneter Wissenschaftler und Politikberater“, als Gründer des „wissenschaftlichen Leuchtturms“ IMIS, dessen „Leuchtturmwärter“ er war. Betont wird die „menschenfreundliche Prosa“ des „Mahners und Beraters“, der es „hin und wieder schwer hatte, mit seinen wissenschaftlich fundierten Positionen in der Öffentlichkeit und in der Politik Gehör zu finden“ und dafür den Terminus „defensive Erkenntnisverweigerung“ geprägt hatte (Wulff).
Michael Bommes, der über 15 Jahre sehr eng mit Klaus Bade zusammen gearbeitet, geforscht und publiziert hatte, betrachtet seinen ehemaligen Chef aus vier Perspektiven: „1. als Historiker, 2. als Wissenschaftsorganisator, 3. als politischer Publizist und 4. als Politik- und Strategieberater“ und kommt u.a. zu der Erkenntnis, dass „viele Gestaltungsappelle von Klaus Bade seit den frühen 1980er Jahren wenig von ihrer Aktualität verloren“ haben und dass dies vor allem die „nachholende Integrationspolitik“ betrifft.
Diesen Terminus stellt Armin Laschet ins Zentrum seiner Würdigung von Klaus Bade, ein Begriff, der „Einzug in die deutsche Integrationspolitik gefunden“ habe. „Mit ganz langem Atem“ habe er „immer wieder das deutlich gemacht, was für ihn zentral war: Wir sind de facto ein Einwanderungsland; wir müssen die Migrations- und Integrationspolitik als zentrale Gestaltungsbereiche in den Mittelpunkt stellen; wir müssen ein Integrationsland werden. Ein Land der neuen Integrationschancen“.
Diskussion
Armin Laschet meint in seinem letzten Satz zur Würdigung des Werkes von Klaus Bade, dass „der Fortschritt in der Integrationspolitik zwar eine Schnecke ist, aber eine, die sich doch bewegt“ (S. 308). In diesem Satz kommt m.E. das Dilemma der Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland zum Ausdruck, da rückblickend und vorausschauend deutlich wurde und wird, dass die Schnecke sich nur unter Druck oder durch den Wandel der Realität bewegt und dass Schnecken nicht immer geradeaus vorankommen.
Deutlich wird auch, dass bei Bade der Integrationsbegriff oder das Konstrukt „Integration“ in der Regel diffus, wenig konkret und schon gar nicht perspektivisch differenziert wird. Dieser Mangel passt genau in das politische Narrativ der „Integration“, denn vagen Aussagen kann wenig entgegengesetzt werden. Symptomatisch dafür die einleitende These von Bade (S. 27): „Integration selbst ereignet sich immer nur ‚vor Ort‘, also auf der kommunalen Ebene. Hier entscheidet sich, ob und inwieweit sie gelingt oder misslingt“ – das sind Erkenntnisse und Postulate ohne jeglichen konkreten Inhalt, denen jeder zustimmen kann. Begriffe wie „gelingende Integration“ oder „misslungene Integration“ sollte man tunlichst ob ihres pauschal-ideologischen Gehalts besser meiden.
Der Rezensent ist zwar wenige Jahre jünger als Bade, ist aber einige Jahre früher, seit Anfang der 70er Jahre, in der Ausländer-, Migrations- und Integrationsforschung tätig geworden (vgl. Griese 1974, vor allem Schrader/ Nikles/ Griese 1976 oder Griese 1980, 1984). Ich habe daher denn Eindruck, dass bei Bade auch wenig Bezug genommen wird zu der Diskussion dieser Zeit, konkret zu einer gesellschafts- und kapitalismuskritischen Frühphase der Migrationsforschung in Deutschland (vgl. exemplarisch dazu Schwarzbuch 1972 oder Nikolinakos 1973). Überhaupt fehlt bei Bade – obwohl er Historiker ist – der Blick auf das Ganze, auf die „Totalität des Systems“, was Adorno immer gefordert hat, auf einen neo-liberalen globalisierten Kapitalismus, dessen Unmenschlichkeit letztlich zu internationalen Migrationen, d.h. zu Flucht vor Armut oder Repressionen, zu Arbeitssuche und Vertreibung, führt. Wer von Flucht und Migration spricht, darf über den Kapitalismus nicht schweigen.
Klaus Bade bleibt m.E. ein systemimmanenter „Levitenleser“, ein vorzeigbares Alibi der Migrations- und Integrationspolitik, welche ihn mit Forschungsmitteln und Projekten ausstattet, seine durchaus politikkritischen Erkenntnisse und Postulate anhört, sich beraten lässt, sanfte Kritik wohlwollend aufnimmt, aber selten konkret umsetzt – und wenn, dann erst etliche Jahre später unter öffentlichem Druck. Das klingt hart, soll es auch sein. Der Spiritus Rector der historischen Migrations- und Integrationsforschung in Deutschland und sein Wirken sind ein ambivalentes und paradoxes Phänomen: Er hat(te) Einfluss wie kein anderer Forscher, stand etlichen Gremien voran und formulierte wichtige Erkenntnisse und Forderungen für die Migrations- und Integrationspolitik; er wurde immer wieder enttäuscht, aber auch geehrt; er hat(te) beste Kontakte zu den politisch-ökonomischen Eliten in Parteien, Stiftungen und Öffentlichkeit, die auch seine Arbeit finanziell und ideell unterstützten; er spielte quasi den Doppelpass mit den Eliten auf der Spielwiese des Kapitals; er lieferte ihnen ein Alibi und wichtige Erkenntnisse, kritisierte sie scharf, aber ohne Konsequenzen – weder für ihn, noch für die Politik. Polemisch zu fragen wäre daher: Wäre die Migrations- und Integrationspolitik ohne Klaus Bade anders, langsamer, in eine andere Richtung usw. verlaufen? Ich glaube nicht.
War Bade der „Strippenzieher hinter den Kulissen“, ein „Hans Dampf in allen (Migrations-)Gassen?“. Ich glaube nein! Mir ergibt sich eher die Erkenntnis, dass der Einfluss von Wissenschaft und Forschung auf die Politik, auch in der Politikberatung und -begleitung, sehr marginal ist und eher eine Alibifunktion hat. Oder in anderen Worten: Forschung und Wissenschaft liefern ein volles Regal an Erkenntnissen, Fakten, Forderungen usw.; aber die Politik bedient sich daraus wie im Supermarkt nach eigenen Bedürfnissen (z.B. Wahlkampf) oder Vorstellungen (Ideologien).
Klaus Bade war und ist parteilos bzw. parteipolitisch neutral. Er bekam zu Hauf Ehrungen und wohlwollende Worte von (fast) allen Seiten, zuletzt z.B. beim Symposium anlässlich seiner Verabschiedung als Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2012 (S. 341ff). Bundes- und Landesminister (a.D.), Parteivorsitzende oder ihre Stellvertreter, Bundestagspräsidentin a.D. Rita Süssmuth, einschlägige Universitätsprofessoren und Fachkollegen usw., sie alle kamen. Klaus Bade formulierte an diesem Tag nochmal sein ambivalentes Selbstverständnis. „Die kritische Politikbegleitung hat freilich auch Risiken; denn die Positionierung gegenüber der Politik in den Medien ist auf eine Balance zwischen Provokation und Ausgewogenheit angewiesen, die den Dialog mit der Politik zwar provoziert, aber auch möglich macht“ (S. 355). „Balance“, „Ausgewogenheit“ und „Dialog“ sind mittlerweile aber totalitäre Begriffe; sie grenzen aus und benennen, wer und was nicht dazu gehört.
Im Weiteren konzentriert er sich in seiner Rede schwerpunktmäßig auf neue Gebiete: „Rechtsradikalismus, Rechtsextremismus und neuer Nationalismus“. Die „Sarrazin-Debatte“, die „Attacke“ der Publizistin Necla Kelek und zuletzt der Massenmord in Norwegen vom Juli 2011 haben diese Themen stärker in den Fokus der Argumentation von Bade gerückt – gut so, sehr gut. Auch sein Abschied von vielen Ämtern hat ihn m.E. „freier“ gemacht sowie global- und gesellschaftskritischer. In den letzten Jahren gesellen sich wiederbelebte oder neue Termine in den Diskurs bei Bade: Diversität und Vielfalt, Partizipation und Teilhabe, Exklusion-Inklusion, Rechtspopulismus und -extremismus, Islamkritik, Auswanderung, Zuwanderungsangst usw., nur der Integrationsbegriff bleibt (diffus). Vor allem die Sarrazin-Debatte und die NSU-Serienmorde haben Bade aufgeschreckt und gesellschaftskritischer gemacht, haben seinen Blick auf Integration gelenkt in Richtung Beitrag der Gesellschaft und ihrer Bürger, auf das Bürgerbewusstsein als zentrale Quelle der (Des-)Integration.
Zuletzt hat die sog. „Flüchtlingskrise“ oder auch „Flüchtlingsabwehrpolitik“ bei Klaus Bade eine weitere Verschiebung seiner Argumente auf europäisch-globale Gesichtspunkte der Migration zur Folge gehabt (Flucht, Vertreibung, Asyl, Armutswanderung, „Festung Europa“ usw.), so dass die meisten seiner späteren Beiträge (S. 502ff) diesem Thema gewidmet sind. Auch hier spricht Bade von „verspäteten Lernprozessen“ in der Politik und sogar von der „Systemfrage“: „In dieser Welt, in der heute fast die Hälfte des globalen Reichtums in den Händen von weniger als einem Prozent der Weltbevölkerung liegt, gibt es nicht eine weltweite ‚Flüchtlingskrise‘, sondern eine Weltkrise, die Fluchtbewegungen erzeugt. Wenn man diese Weltkrise bekämpfen will, sollte man sich … auf die Analyse ihrer Ursachen konzentrieren und dazu weltökonomische, weltökologische und gesellschaftliche Systemfragen stellen“ (S. 564/ im Jahre 2015). Damit wäre ich mit Klaus Bade wieder versöhnt, vorausgesetzt, er fragt wirklich: In welchem System, „in welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?“ (Pongs 2000) und: Was bestimmt in letzter Instanz die Globalisierungs- und internationalen Migrationsprozesse? Auf seine sicher kompetenten Antworten darauf warte ich neugierig und gespannt.
Fazit
Wer zu irgendeinem migrations- und/ oder integrationsrelevanten Thema oder Ereignis der letzten 35 Jahre authentisches und kritisches Material sucht, wird in dem Buch fündig. Bade hat nahezu alle Themen intensiv, kompetent, leicht verständlich, aber fundiert, in seinen Beiträgen, Artikeln, Interviews und Essays abgehandelt – wahrlich eine historische Fundgrube, quasi ein Spezialarchiv der deutschen Migrations- und Integrationsdebatte seit Anfang der 1980er Jahre. Diese Sammlung ist einzigartig, unvergleichlich, bemerkenswert und nicht hoch genug zu würdigen. Wer etwas in Sachen Migration-Integration sucht, der wird dazu in diesem Buch auch etwas Fundiertes finden.
Der Adressat von Klaus Bades unermüdlicher, umfangreicher, engagierter und anerkennungswürdiger Arbeit sowie seiner wichtigen Erkenntnisse und Fakten ist die (Migrations- und Integrations-)Politik, als deren Begleiter und Berater er sich versteht. Andererseits betont er immer wieder, dass sich Integration vor Ort, in den Kommunen, im Alltag vollzieht. Von daher hätte er auch, quasi als zweite Perspektive, das Bürgerbewusstsein, das gesellschaftliche Klima, die Migrations- und Integrationsatmosphäre (im historischen Wandel) betrachten und als Historiker analysieren sowie Vorschläge für die politische Bildung der Bürger machen müssen. Integration, falls man den Begriff beibehalten will/ muss, ist – darin sind sich alle Forscher einig – ein mehrdimensionaler Prozess.
Als vom Thema Betroffener hätte ich mir vom Historiker Bade auch einen Blick auf die Anfänge der Ausländer- und dann Migrations- und Integrationspolitik und vor allem -Forschung in der Bundesrepublik Deutschland in den 60er und vor allem in den 70er Jahren gewünscht. Letztere stand in der Tradition der Kritischen Theorie und unter dem Einfluss der Studentenbewegung und war gesellschaftskritisch-neomarxistisch konzipiert. Auch ein stärkeres Eingehen auf die unsäglichen und fremdenfeindlich aufgeladenen, teilweise rassistischen und nationalistischen Ausführungen führender CDU/ CSU-Politiker im Wahlkampf von 1982 (Beispiele dazu in Griese 1984), hielt ich für historisch (!) notwendig. Dieser Wahlkampf führte schließlich zur „geistig-moralischen Wende“, zu 16 Jahren Helmut Kohl in der BRD und hat das Bürgerbewusstsein entscheidend bis heute geprägt (siehe auch "Wir sollten wieder einen Führer haben").
Bei all den Verdiensten, die Klaus Bade zu Recht für die deutschsprachige Migrations- und Integrationsforschung hat, deren Aushängeschild und renommiertester Vertreter er zweifellos ist, sollte man betonen, dass es auch eine Forschung vor Bade (70er/ Anfang der 80er Jahre) gab, dass sein Werk, seine Perspektive und seine Intention als Historiker, Politikberater und Forschungsmanager nicht unumstritten ist, da er im System verfangen ist und quasi den Doppelpass mit den Herrschenden aus Wirtschaft, Politik und Kapital spielen muss(te), um sein unvergleichliches Werk zu vollbringen. In den letzten Jahren, d.h. nach seiner Emeritierung und seinem Rückzug aus Gremien und Verantwortung, treffen seine Argumente immer mehr „ins Schwarze“, stellt er doch u.a. die Systemfrage, widmet er sich in seinen Analysen, Diskursen und Appellen stärker den Ursachen von Flucht und Migration. Ich hoffe und denke, wir werden in den nächsten Jahren noch mehr Politik- und Systemkritik von Klaus Bade hören, in der er den (Parteien-)Mainstream verlässt, die Finger in die Wunden des globalen Kapitalismus legt und seine Themen „Migration – Flucht – Integration“ provozierender und kritischer in die Öffentlichkeit und in den medial-politischen Diskurs einbringen wird. Die ersten Sätze im Vorwort, das bekanntlich zuletzt geschrieben wird, deuten dies zumindest an: „Massenflucht aus Kriegs- und Krisengebieten, der jährlich vieltausendfache Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer vor den Grenzen der Festung Europa, das Abdrängen oder Abfangen von Flüchtlingsbooten auf hoher See, die gewaltsame Schließung der „Westbalkanroute“, binationale Verträge zur Fluchtverhinderung selbst mit fluchtverursachenden Regimen in Afrika, der Kampf nicht gegen die Ursachen der Fluchtbewegungen, sondern gegen ihre Opfer, die Flüchtenden, die erniedrigende Lagerhaltung derjenigen, die die Sperrriegel der EU überwunden haben, der Rückfall der europäischen ‚Wertegemeinschaft‘ in eine vom nationalen Sacro Egoismo zerfressene europäische Interessen- und Verteidigungsgemeinschaft“ (S. 12) – das sind klare, konkrete und richtungsweisende Worte für die notwendige Analyse der Rahmenbedingungen für eine wirklich innovative, den Mainstream verlassende global- und kapitalismuskritische Beratung und „Leviten-Lesung“ hinsichtlich der europäischen und deutschen Migrations- und Integrationspolitik – in diesem Sinne Danke lieber Kollege Klaus Bade.
Literatur
- Griese, Hartmut M. (1974): Stigma. Zur Analyse der Alltagssituation ausländischer Arbeiter in der BRD. In: Erziehen heute. Duisburg
- Ders. (1980): Ausländer – zwischen Politik und Pädagogik. Beiträge zur Sozialisation und Identitätsproblematik der Zweiten Generation im Kindes- und Jugendalter. Bonn
- Ders. (Hrsg.) (1984): Der gläserne Fremde. Bilanz und Kritik der Gastarbeiterforschung und der Ausländerpädagogik. Opladen
- Juso-Bundesvorstand (Hrsg.) (1972): Schwarzbuch Ausländische Arbeiter. Frankfurt
- Nikolinakos, Marius (1973): Politische Ökonomie der Gastarbeiterfrage. Migration und Kapitalismus. Reinbek
- Pongs, Armin (2000): In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? 2 Bände. München
- Schrader, Achim/ Nikles, Bruno/ Griese, Hartmut M. (1976): Die Zweite Generation. Sozialisation und Akkulturation ausländischer Kinder in der Bundesrepublik Kronberg
- 5 Millionen Deutsche: 'Wir sollten wieder einen Führer haben...'. Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen.Rowohlt: Reinbek 1981
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.
Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 08.08.2017 zu:
Klaus J. Bade: Migration - Flucht - Integration. Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage’ bis zur ‚Flüchtlingskrise’. Erinnerungen und Beiträge. von Loeper Verlag
(Karlsruhe) 2017.
ISBN 978-3-86059-350-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22658.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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