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Ingrid Olbricht: Wege aus der Angst, Gewalt gegen Frauen

Rezensiert von Dr. Claudia Bundschuh, 22.03.2005

Cover Ingrid Olbricht: Wege aus der Angst, Gewalt gegen Frauen ISBN 978-3-406-51759-4

Ingrid Olbricht: Wege aus der Angst, Gewalt gegen Frauen. Ursachen, Folgen, Therapie. Verlag C.H. Beck (München) 2004. 239 Seiten. ISBN 978-3-406-51759-4. 17,90 EUR. CH: 30,50 sFr.

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Themenstellung und Entstehungshintergrund

Gewalt gegen Frauen und speziell sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus der Tabuisierung herausgelöst, nachdem Frauenbewegung und Kinderschutzbewegung mit unermüdlichem Engagement deutlich gemacht haben, dass sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern keine einvernehmlichen Kontakte sein können und erwachsene Frauen nein meinen, wenn sie nein artikulieren. Die Aufdeckung der sexualisierter Gewalt in all ihren Facetten durch die Betroffenen selbst veranschaulichte die vielfältigen und häufig lebenslangen Folgeprobleme dieser bis dahin als Kavaliersdelikt bagatellisierten Ausbeutung von Kindern und Frauen und machte gleichfalls die enormen sozialen Kosten der bis dato gültigen Toleranz gegenüber solchen Tathandlungen ersichtlich.

Im Zuge dieser Enttabuisierung ist die Zahl der schriftlichen Werke stetig gewachsen, die sich der Problematik der sexualisierten Gewalt aus unterschiedlichen Blickwinkeln annähern. Insbesondere zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen finden wir inzwischen eine kaum mehr überschaubare Masse von Publikationen, die sich an Betroffene, an Eltern und/oder an Fachkräfte richten. Das vorliegende Buch sticht dabei insofern heraus, als es aus der Feder einer Fachärztin stammt, die auf einen reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit betroffenen Frauen durch therapeutische Begleitung von Opfern zurück greifen kann. Ingrid Olbricht ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und war Chefärztin der Psychosomatischen Abteilung der Wicker-Klinik in Bad Wildungen. Die Klinik hat sich durch spezifische Angebote für weibliche Opfer sexualisierter Gewalt einen Namen gemacht. Die fachliche Erläuterung der Bedeutung von Trauma, Folgen der Traumatisierung und Therapiemöglichkeiten werden thematisiert.

Aufbau und Inhalt

Das Buch umfasst neben der Einleitung 8 Kapitel. Anschaulichkeit erhalten die dargestellten Inhalte durch vielfältige Auszüge aus Fallbeispielen betroffener Frauen und Gedichte der Autorin. Ein ausführlicher Anhang informiert über Beratungsstellen für sexuell traumatisierte Frauen und Mädchen sowie über Beratungsstellen von Männer gegen Männer-Gewalt.

  • In der Einleitung setzt sich Ingrid Olbricht zunächst kritisch mit der aktuellen Umschreibung sexualisierter Gewalt als sexueller Missbrauch auseinander.
  • Dem folgt in Kapitel 1 Geschichtliches zum Traumabegriff, worunter historische Vor- und Rückschritte in der Einordnung und Bewertung sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen skizziert werden.
  • Kapitel 2 liefert unter Definition des Traumas und Traumafolgen weit mehr als eine Umschreibung des Phänomens und Auflistung der angekündigten Details. Über dreißig Seiten werden hier umfangreich seelische Mechanismen und deren medizinisch-psychiatrische Kategorisierungen vorgestellt und erläutert.
  • Kapitel 3 beschreibt körperliche Folgen früher Traumatisierungen und die Beziehung zum eigenen Körper. Ein besonderes Augenmerk richtet die Autorin hier auch auf selbstverletztendes Verhalten und dessen Bedeutung und Funktion.
  • Kapitel 4 behandelt die frühe Traumatisierung und seelische und soziale Entwicklung der Opfer. Hier werden u. a. die spezifische Dynamik des Inzests und nach Entwicklungsphase der Opfer jeweils andere spezifische Folgeprobleme näher beleuchtet.
  • Daran schließt Kapitel 5 mit den Folgen für die erwachsene Frau an unter besonderer Berücksichtigung auch der Ressourcen und Stärken von Überlebenden sexualisierter Gewalt.
  • Kapitel 6 schildert Therapievoraussetzungen und Bedingungen. Dabei macht die Autorin deutlich, dass die richtige Diagnose das A und O eines konstruktiven Therapieprozesses ist. Eine ausführliche Darstellung fachlicher Diagnose-Kriterien, d. h. Kriterien für Neurosen, frühe Störungen (narzisstische Persönlichkeitsstörung, Borderline-Störung) und Traumafolgen (akute Stressreaktionen, posttraumatische Belastungsstörung, dissoziative Identitätsstörung) sind Teil des Kapitels.
  • Unter dem Titel Traumatherapie früh traumatisierter Frauen folgt in Kapitel 7 eine ausführliche Darstellung notwendiger Merkmale entsprechender Angebote. Die Begründung spezifischer inhaltlicher Elemente wie z. B. die Berücksichtigung weiblicher Sozialisationserfahrungen wird hier ebenso geleistet wie die Erläuterung des Drei-Phasen-Modells der Traumatherapie.
  • Der Abschluss des Buches erfolgt in Kapitel 8 mit einem Blick auf präventive Maßnahmen und Tätertherapie. In Bezug auf Prävention werden hier die individuelle Dimension, gesellschaftliche Dimension und gesellschaftspolitische Dimension getrennt beleuchtet. Einer Skizzierung aktueller Möglichkeiten der Behandlung von Tätern geht ein kurzer Abriss zu Übergriffen in der Therapie voraus, ein Problemfeld, das erst in den letzten Jahren stärker ins Blickfeld geraten ist.

Fazit

Das Buch von Ingrid Olbricht ist durch eine unglaubliche Dichte gekennzeichnet, die noch verstärkt wird durch vielfach seitenlange Textpassagen ohne jegliche Zwischenüberschrift. Unterteilungen kommen in der überwiegenden Mehrzahl nur durch Aufzählungen oder Tabellen zustande. Da jedes Kapitel weit mehr beinhaltet als die Überschrift ankündigt, ist die Gefahr groß, den roten Faden zu verlieren. Dem gegenüber steht die Leistung der Autorin, die medizinische Fachsprache angemessen zu erklären und somit auch Laien ein Verständnis zu ermöglichen. Dies ist umso bedeutsamer, also gerade auch Betroffene häufig erleben müssen, dass Fachleute über sie reden und sie bzw. ihr Erleben und ihre Erfahrung durch bestimmte psychiatrische Labels kategorisieren, ohne ihnen Einblick in die Bedeutung der Zuschreibungen zu gewähren. Ingrid Olbricht hingegen öffnet allen Interessierten die Welt der Diagnostik und erleichtert Laien und Fachkräften einen Einblick in Dynamik und Auswirkungen sexualisierter Gewalt. Gleichfalls macht sie bewusst, dass Besonderheiten im Verhalten und in der Selbstdarstellung von Opfern, die auf Außenstehende manchmal abschreckend oder beängstigend wirken, bei näherer Betrachtung einen häufig durchaus positiven Sinn ergeben etwa als Schutzfunktion o.ä. Diese Funktionalität als Leistung und Stärke anzuerkennen und zu respektieren vermittelt die Autorin als einen ersten grundlegenden Schritt auf dem "Weg aus der Angst", der von den Überlebenden sexualisierter Gewalt in der Tat viel Mut abverlangt, bei angemessener Hilfestellung aber gebahnt werden kann.

Rezension von
Dr. Claudia Bundschuh
Hochschule Niederrhein Fachbereich Sozialwesen

Es gibt 13 Rezensionen von Claudia Bundschuh.

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Zitiervorschlag
Claudia Bundschuh. Rezension vom 22.03.2005 zu: Ingrid Olbricht: Wege aus der Angst, Gewalt gegen Frauen. Ursachen, Folgen, Therapie. Verlag C.H. Beck (München) 2004. ISBN 978-3-406-51759-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2267.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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