Sarah Jahn: Götter hinter Gittern
Rezensiert von Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger, 30.06.2017

Sarah Jahn: Götter hinter Gittern. Die Religionsfreiheit im Strafvollzug der Bundesrepublik Deutschland. Campus Verlag (Frankfurt) 2017. 425 Seiten. ISBN 978-3-593-50628-9. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 48,70 sFr.
Autor und Entstehungshintergrund
Vor dem Hintergrund von medial spektakulären Einzelfällen, wie zum Beispiel einer religiösen Radikalisierung im Gefängnis, einer Zunahme verurteilter Ehrenmörder oder der Inhaftierung von mutmaßlich religiösen Terroristen, stellt sich die Autorin einige grundsätzliche Fragen:
- Wie gehen Gefängnisse mit religiöser Vielfalt im Haftalltag um?
- Wie sieht religiöse Vielfalt im Gefängnis überhaupt aus?
- Wie verhält es sich mit der Religionszugehörigkeit der Insassen, ihrer religiösen Praxis und ihren religiösen Bedürfnissen (S. 9)?
Im vorliegenden Buch „Götter hinter Gittern“, welches eine wenig überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin darstellt, die an der Fakultät für Geschichte, Kunst und Orientwissenschaft der Universität Leipzig eingereicht wurde, wird der Strafvollzug als Ort religiöser Vielfalt beschrieben und analysiert. Die Entstehung der interdisziplinär angelegten Arbeit, mit einem religionswissenschaftlichen und soziologischen Zugang, kann in drei Kontexten verortet werden: der Arbeitsgruppe Religiosität als Kriminalprävention der Universität Leipzig, der Arbeitsgruppe Grenzarbeiten am religiösen Feld der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit der Autorin am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum.
Aufbau und Inhalte
Als leitende Fragestellung der vorliegenden Arbeit gilt, ob sich eine religiöse Pluralität auch im Strafvollzug auffinden lässt und „wie die staatliche Institution Strafvollzug mit der religiösen Pluralität in Deutschland vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich garantierten positiven Religionsfreiheit umgeht“ (S. 15). Das Buch umfasst inklusive Literaturverzeichnis 421 Seiten und gliedert sich in fünf Teile.
In einer Art Vorkapitel bespricht Jahn zunächst den Forschungsstand, der sich ihrer Ansicht nach in drei Themenfelder gliedert: (1) sozialwissenschaftliche Studien zu Religion im Strafvollzug, (2) sozialwissenschaftliche Studien zu Religion und Recht in Deutschland, sowie (3) objektsprachliche Literatur aus der Theologie, Kriminologie und aus der Rechtsprechung.
Die Autorin geht von der Annahme aus, dass die bloße „Verhältnisbetrachtung von Recht und Religion nicht ausreichend ist, sondern es einer Kontextualisierung bedarf“ (S. 36). Die Institution des Strafvollzugs wird aus einer organisationssoziologischen Perspektive betrachtet, die die Eigenlogik von Organisationen einerseits einbezieht, andererseits aber berücksichtigt, dass diese von gesellschaftlichen Veränderungen beeinflusst wird, die für anstaltsinterne Entscheidungsprozesse ausschlaggebend sein können (S. 36). Forschen im Strafvollzug bedeutet gemäß Jahn „sich in ein fremdes Umfeld zu begeben, das nur wenigen Menschen – ob freiwillig oder nicht – zugänglich ist“ (S. 43) und gemäß Ueli Hostettler diverse Spezifika besitzt, die es bei einem Forschungsvorhaben zu beachten gilt (S. 44-45). Um die Forschungsfrage zu klären stellt die Feldforschung das methodische Zentrum der Arbeit dar. Die notwendigen Daten werden mittels Experteninterviews mit unterschiedlichen Zielgruppen (u.a. Anstaltsleitung, Sozialer Dienst, Allgemeiner Vollzugsdienst) sowie einer Sammlung von Dokumenten in sechs unterschiedlichen Anstalten des Erwachsenenstrafvollzugs der Bundesrepublik Deutschland erhoben und anschließend mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring ausgewertet.
Der erste Teil der Arbeit setzt sich mit dem Verhältnis von Religion und Recht in der Bundesrepublik Deutschland auseinander. Jahn expliziert, dass der Einbindung des Rechts in das politische System Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland für die Untersuchung der Rechtspraxis von positiver Religionsfreiheit im Strafvollzug doppelte Bedeutung zukommt, da in der Föderalismusreform von 2006 die Regelungskompetenz für den Strafvollzugssektor eindeutig den Ländern zugeschrieben wurde und die Bundesländer (schon zuvor) für die öffentliche Anerkennung des Status von religiösen Gemeinschaften zuständig waren (S. 66-67). Es lassen sich sowohl im Strafvollzugsbereich als auch bei der Anerkennung von Religionsgemeinschaften auf Länderebene Unterschiede in der Umsetzung feststellen. Jahn resümiert, das Verhältnis von Religion und Recht in der Bundesrepublik Deutschland betrachtend, dass zwei Ebenen die gesamte Thematik durchziehen. Einerseits sei das Verhältnis von Religion zwar verfassungsrechtlich geregelt, beziehe sich bei der Umsetzung aber auf alle Rechtsbereiche, unabhängig ob Privatrecht oder Öffentliches Recht. Andererseits spräche eine Unterscheidung zwischen individueller und korporativer Religionsfreiheit einzelne Personen, aber auch jede Form von religiöser Vergemeinschaftung an (S. 97). Dies führt zur wesentlichen These, dass „Religion zwischen verfassungsrechtlicher Legitimation und verwaltungsrechtlicher Konkretisierung changiert“ und dabei „die verwaltete Religion Herzstück des Verhältnisses zwischen Religion und Recht ist“ (S. 97).
Im zweiten Teil werden sechs Justizvollzugsanstalten, jeweils aus der Anstaltsperspektive, in Form von Einzelfallstudien porträtiert. Die sechs in die Untersuchung einbezogenen Anstalten des Erwachsenenstrafvollzugs lassen sich gemäß folgender Merkmale kategorisieren: dem Strafvollzugsgesetz (StVollzG), der Region und der Funktion. Je Anstalt werden in einem wiederkehrenden Schema zunächst kurz Merkmale der Anstalt sowie die Techniken der Datenerhebung beschrieben, die Anstaltsbelegung dargestellt und anschließend die religiöse Diversität der Anstalt deskriptiv skizziert. Dann werden die religiösen Angebote der Anstalt veranschaulicht und der Umgang mit religiöser Diversität zusammengefasst. Schließlich werden Grenzen im Umgang mit religiöser Diversität aufgezeigt. Resümierend hält Jahn fest, „dass es im religiösen Angebot Konstanten gibt, die aber mitunter ganz unterschiedlich institutionalisiert sind und umgesetzt werden“ (S. 200). Die Gefängnisseelsorge sei umso etablierter, je präsenter sie vor Ort ist und je mehr sie sich in die Anstalt einbringe. Insgesamt sei eine Sensibilisierung für die Gewährleistung individueller Religionsfreiheit in den Anstalten erkennbar. Es sei aufgefallen, dass bei Fragen bezüglich des Umgangs mit religiöser Diversität in den Anstalten fast ausschließlich auf die individuelle Religionsausübung der Insassen Bezug genommen wurde. Zudem falle es in den Anstalten leichter, individuelle Bedürfnisse und Anfragen der Insassen umzusetzen, wenn Religion als wichtig erachtet wird. Die Wege der Entscheidungsfindung bei Anfragen individueller Religionsfreiheit seien ebenso unterschiedlich, wie auch die Grenzen individueller Religionsfreiheit bewertet werden. Was die korporative Religionsfreiheit betrifft, sei der rechtliche Status einer Religionsgemeinschaft nicht zwingend für deren Genehmigung und Etablierung entscheidend (S. 202-205).
Im dritten Teil werden die religiösen Organisationen im Strafvollzug losgelöst von den Anstaltsporträts analysiert. Hier werden die Gefängnisseelsorge, christliche Wohlfahrtsverbände, die christliche Straffälligen- und Gefährdetenhilfe, Zeugen Jehovas, islamische Organisationen sowie das Christliche Missionswerk Joshua (CMJ) in einer sich wiederholenden Struktur beschrieben. Zunächst wird je religiöser Organisation das Selbstverständnis und die Organisation, der rechtliche Rahmen, die Organisation im Strafvollzug sowie die Aussenperspektive und Situationsanalyse geschildert. Resümierend spricht Jahn von der Metapher des religiösen Marktes für die Gesamtheit der religiösen Organisationen im Strafvollzug, mit der es möglich wird, die Pluralität und Heterogenität abzubilden (S. 294). Mit der weiterführenden Frage nach religiösen Vergemeinschaftungsformen stosse man schnell „an religionssoziologisch immanente Fragen wie die der religiösen Gruppenbildung, der Entstehung neuer religiöser Traditionen oder dem Wandel religiöser Gruppen unter religionsexternen Einflüssen“ (S. 297). Generell scheint die Frage der Integration von religiösen Verbänden in den Strafvollzug nicht nur organisatorischer Art zu sein, sondern vielmehr scheinen Gründe relevant, die im Bereich der Aussenwahrnehmung und Bewertung liegen (S. 302).
Im vierten Teil werden die Institutionslogiken und Rechtspraxis im Strafvollzug losgelöst von den Anstaltsporträts analysiert. Als Institutionslogiken werden die im Strafvollzug zentralen Begriffe Sicherheit, Schutz, Ordnung und Resozialisierung bezeichnet. Für die Untersuchung der Rechtspraxis sei nun entscheidend, wie die Begrifflichkeiten verstanden und umgesetzt werden, d.h. „inwiefern Religion aus Anstaltssicht zu den Vollzugszielen der Resozialisierung und dem Schutz der Allgemeinheit unter Berücksichtigung der Gestaltungsprinzipien Sicherheit und Ordnung beitragen kann, sowie welche Faktoren für oder gegen die Gewährung von positiver korporativer und individueller Religionsfreiheit ausschlaggebend sind“ (S. 307). Für die Rechtspraxis ergeben sich zwei Faktoren: Einerseits stellt die Resozialisierung als Vollzugsaufgabe eine Möglichkeit der Etablierung für neue religiöse Organisationen dar. Andererseits bietet Resozialisierung eine Chance für alte religiöse Organisationen, weiterhin im Strafvollzug institutionalisiert und etabliert zu bleiben (S. 337). Jahn hält fest, dass Religion letztendlich in den Institutionslogiken Ordnung und Sicherheit rationalisiert wird (S. 368).
Im fünften Teil werden die Ergebnisse der einzelnen Kapitel systematisch zusammengefasst und darüber hinaus Thesen zum Verhältnis von Religion und Recht in der Bundesrepublik Deutschland formuliert. Insgesamt wurde deutlich, dass Ausdifferenzierungsprozesse fortgeschritten sind, d.h. dass bestimmte religiöse Organisationen im strengen Sinne keine Religionsgemeinschaften, sondern vielmehr Interessensgemeinschaften sind, dass religiöse Organisationen wichtige Resozialisierungsakteure darstellen und dass der Aspekt der Verwaltung bei der Verhältnisbestimmung von Religion und Recht eine gewichtige Rolle spielt.
Diskussion
Das Gefängnis ist eine kleine Gesellschaft in der Gesellschaft. In der Studie wurde ersichtlich, dass es unterschiedliche Arten innerhalb des Strafvollzugs gibt, mit religiösen Praktiken und religiösen Organisationen umzugehen. Dies ist einerseits durch den rechtlichen Rahmen, andererseits auch durch institutionelle Besonderheiten und deren Ausgestaltung bedingt. Dies stimmt überein mit einem in der Schweiz im Nationalen Forschungsprogramm „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ (NFP 58) durchgeführten Forschungsprojekt, das die Bedeutung der Religion und die Rolle von Gefängnisseelsorgern und anderen spirituellen Akten in Schweizer Gefängnissen untersuchte. Ebenso wie die Ergebnisse in Jahns Dissertation für Gefängnisse in der Bundesrepublik Deutschland zeigen, weisen auch die Ergebnisse des NFP 58 Forschungsprojektes darauf hin, dass Schweizer Gefängnisse durchaus Anstrengungen unternehmen, um den Häftlingen das grundlegende Recht auf Religionsfreiheit zu gewähren.
Auch wenn das nicht der zentralen Fragestellung in Jahns Dissertation entsprach, wäre es interessant gewesen die Rolle der religiösen Organisationen im Gefängnis noch näher zu betrachten (Gefängnisseelsorge als rechte Hand der Gefängnisdirektion oder rein spirituelle Begleitung) und die Bedeutung der Religion für die Häftlinge zu analysieren. Zentral wäre dann wohl auch die Frage danach, zu welchen Teilen Religion als Rehabilitationsfaktor im Strafvollzug gelten kann. In der wissenschaftlichen Debatte besteht darüber Uneinigkeit.
Ein Anschlussprojekt könnte untersuchen, ob Religiosität hilft, mit der Inhaftierung umzugehen, ob sich Menschen in dieser Situation von Religion abkehren oder zu ihr finden, oder ob gerade kollektive religiöse Erfahrungen, wie von Emile Durkheim und Thomas Luckmann postuliert, zur „Krisenbewältigung“ beitragen.
Fazit
In der vorliegenden Arbeit wurden im Rahmen von qualitativen Feldstudien sechs Institutionen des Erwachsenenstrafvollzugs für Männer untersucht, die im Vollstreckungsplan lange Haftstrafen vorsehen. Es sollte die leitende Fragestellung geprüft werden, ob eine religiöse Pluralität im Strafvollzug auffindbar ist und wie die Institutionen des Strafvollzugs damit umgehen. Die Dissertation bietet zusammenfassendes Fachwissen und empirische Erkenntnisse auf der Makroebene (Religion und Recht in Deutschland), der Mesoebene (Religion und Recht im bundesdeutschen Strafvollzug) sowie der Mikroebene (Umgang mit Religion im Strafvollzug). Eine Lektüre der Dissertation kann deshalb der religionswissenschaftlichen und soziologisch interessierten Leserschaft empfohlen werden, die sich für eine mehr organisationssoziologische und rechtswissenschaftliche Perspektive auf einen der bisher „blinden Flecken“ im Strafvollzug interessiert.
Rezension von
Prof. Dr. phil. Sigrid Haunberger
Dozentin und Projektleiterin Institut für Sozialmanagement, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
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