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Frank Sowa, Ronald Staples (Hrsg.): Beratung und Vermittlung im Wohlfahrtsstaat

Rezensiert von Prof. em. Dr. Hildegard Mogge-Grotjahn, 15.09.2017

Cover Frank Sowa, Ronald Staples (Hrsg.): Beratung und Vermittlung im Wohlfahrtsstaat ISBN 978-3-8487-3949-3

Frank Sowa, Ronald Staples (Hrsg.): Beratung und Vermittlung im Wohlfahrtsstaat. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2017. 452 Seiten. ISBN 978-3-8487-3949-3. D: 49,00 EUR, A: 50,40 EUR.

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Thema

Der Band widmet sich unterschiedlichsten Facetten von Beratung und Vermittlung im Wohlfahrtsstaat.

Herausgeber

Beide Herausgeber sind durch zahlreiche Publikationen und Forschungsprojekte ebenso theoretisch wie empirisch ausgewiesene Soziologen.

Frank Sowa war u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und ist seit 2017 als Professor für Soziologie in der Sozialen Arbeit an der Technischen Hochschule Georg Simon Ohm in Nürnberg tätig.

Ronald Staples arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

AutorInnen

Die 17 Beiträge des Bandes wurden von insgesamt 33 Autor_innen verfasst, die ein breites Spektrum an beruflichen und wissenschaftlichen Feldern in Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Österreich und der Schweiz abbilden.

Entstehungshintergrund

Der Sammelband ist das Ergebnis eines Call for Papers aus dem Jahr 2014. Dieser Aufruf fand ein so großes Echo, dass eine Auswahl der zu veröffentlichenden Beiträge erfolgen musste. Diese Auswahl wurde auf der Basis gutachterlicher Stellungnahmen sog. „arrivierter peers“ vorgenommen – die beeindruckende Liste der beteiligten Gutacher_innen ist auf S. 6 nachzulesen.

Aufbau

Auf die Einleitung der Herausgeber folgen die fünf übergeordneten Fragestellungen zugeordneten Einzelbeiträge.

  1. Die ersten drei Beiträge befassen sich mit „Methodologien“.
  2. Weitere drei Beiträge widmen sich in erster Linie dem Konstrukt der „Beschäftigungsfähigkeit“.
  3. Mit sechs Beiträgen nimmt der Themenbereich der „Beratungs- und Vermittlungspraktiken“ den meisten Raum ein.
  4. Es folgen drei Beiträge zur „Beratung an den Grenze zur Arbeitsvermittlung“ und schließlich
  5. zwei Beiträge, die die „Unterstützung zur Alltagsbewältigung“ fokussieren.

Inhalt

Der einführende Beitrag der Herausgeber zur „institutionellen Rahmung und Praxis des Beratens und Vermittelns“ bietet einen kompakten Überblick zu den Besonderheiten der Beratungs- und Vermittlungsarbeit in wohlfahrtsstaatlichen Institutionen der Arbeitsverwaltung seit den 1990er Jahren. Aus makrosoziologischer Perspektive bilden die Transformationen europäischer Wohlfahrtsstaaten den Rahmen sowohl für Homogenisierungsprozesse im Bereich der EU als auch für divergierende nationalstaatliche und heterogene lokale Praktiken. Auch wenn die Aktivierungslogik des New Public Management (NPM) das vorherrschende Prinzip der Veränderung von Wohlfahrtsstaaten darstellt, so müssen solch abstrakte Modelle doch immer „interpretiert, konkretisiert und übersetzt werden“ (S. 22) – und diesen Umsetzungsprozessen, den Handlungsspielräumen und den Möglichkeiten unterschiedlicher Praxis gilt das theoretische und empirische Interesse der Herausgeber und Autor_innen.

Die drei ersten Beiträge des Bandes sind unterschiedlichen empirischen Zugängen zum Beratungs- und Vermittlungsgeschehen in der Arbeitsverwaltung gewidmet. Im Beitrag von Bernhard Boockmann und Michael Stops geht es um Möglichkeiten und Grenzen in deren quantitativer Erfassung und um die Chancen von Wirkungsanalysen. Peter Bartelheimer und Jutta Henke reflektieren den Einsatz qualitativer Verfahren in der Arbeitsmarktforschung. Im Mittelpunkt des Beitrags von Markus Gottwald, Frank Sowa und Ronald Staples stehen ethnografische Zugänge zum bürokratischen Geschehen in der Arbeitsverwaltung.

Die drei der Überschrift „Beschäftigungsfähigkeit“ zugeordneten Beiträge erweitern den Blick über die deutschen Gegebenheiten hinaus. Lynda Lavitry beschäftigt sich mit den Modalitäten, die den sog. „Parcours“ in der französischen Arbeitsverwaltung zugrunde liegen, durch die Arbeitslose den verschiedenen Kategorien der Beschäftigungsfähigkeit zugeordnet werden. Martina Koch stellt qualitative Einzelfallstudien aus der Vermittlungspraxis mit gesundheitlich beeinträchtigten Erwerbslosen in der Schweiz vor. Adele Bianco analysiert die Ursachen der weitgehenden Erfolglosigkeit der Umstrukturierung der Arbeitsverwaltung in Italien.

Im umfangreichsten Teil des Buches beschäftigen sich verschiedene Autorenteams und Einzelautor_innen mit den vielen Facetten der Beratung und Vermittlung von Arbeitssuchenden – teils im Ländervergleich (Otto Penz u.a.: ausgewählte städtische Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz; Urban Nothdurfter: Wien und Mailand; Jean-Marie Pillon: Frankreich; Christine Bertram: Großbritannien), teils bezogen auf Deutschland (Stefanie Börner u.a. sowie Thomas Gurr). In den vorgestellten Forschungsprojekten überwiegen qualitative Untersuchungsdesigns, die jeweils vorgestellt und erläutert werden. Das gemeinsame Interesse der Autor_innen ist zum einen die präzise Rekonstruktion der jeweils stattfindenden Interaktionsprozesse und der Einfluss der jeweiligen staatlichen Vorgaben und bürokratischen Rahmenbedingungen auf das tatsächliche Geschehen. Zum anderen geht es durchgängig um die Wahrnehmung und Deutung der tatsächlich stattfindenden Beratungs- und Vermittlungsprozesse durch die unterschiedlichen Beteiligten: Arbeitsvermittler_innen, Fallmanager_innen, Leitungskräfte – und nicht zuletzt die Kund_innen der Arbeitsverwaltung selbst.

Beratung und Vermittlung von Arbeitssuchenden findet nicht ausschließlich in den Institutionen der Arbeitsverwaltung statt, sondern auch in angrenzenden Arbeitsfeldern, in denen häufig sozialarbeiterisch und pädagogisch qualifizierte Fachkräfte tätig sind. Mit diesem Feld befassen sich wiederum drei Beiträge. Luisa Peters arbeitet die Besonderheiten von Transferträgern als „hybride Beratungs- und Vermittlungsdienstleister zwischen Markt, Staat und Dienstleistungsorientierung“ heraus. Markus Neureiter u.a. haben die „behördenunabhängigen Beratungsdienstleistungen für Erwerbslose“ in den Erwerbslosenberatungsstellen in Nordrhein-Westfalen einer kritischen Analyse unterzogen. Christine Steiner, Bettina Arnoldt und Peter Furthmüller beobachten „Akzentverschiebungen in der schulischen Berufsorientierung“. Auch diese Beiträge sind empirisch fundiert und auf das Verstehen der jeweils vorherrschenden Handlungslogiken und Handlungsspielräume fokussiert.

Die beiden Beiträge des letzten Themenschwerpunktes weiten den Blick aus auf die Möglichkeiten der Unterstützung von Arbeitssuchenden in ihrer Alltagsbewältigung. Torsten Noe hat dabei zwei sog. „Optionskommunen“ ausgewählt, in denen kommunale Träger die alleinige Aufgabenwahrnehmung für die „Grundsicherung“ für Arbeitssuchende übernehmen, und hat die strategische Ausrichtung und die konkrete Umsetzung der jeweiligen Angebote in einer Fallstudie verglichen. Dieter Kratz diskutiert, ob und inwiefern die „passgenaue“ Arbeitsvermittlung Aufgabe einer biografie-orientierten Sozialen Arbeit sein kann und wertet hierfür eine biografische Fallstudie aus.

Diskussion

Im Vorwort der Herausgeber werden Kontext und Intention des Buches auf den Punkt gebracht: „Prozesse der Beratung und Vermittlung sind heute Prinzipien einer aktivierenden Sozialpolitik sowie privatwirtschaftlichen Effizienz- und Rationalisierungsvorstellungen unterworfen, die intendierte und nicht-intendierte Folgen verursachen. Während die verschiedenen, in diesem Feld agierenden Akteure Beratung und Vermittlung aus ihrer jeweiligen Perspektive deuten und interpretieren sowie mit Kreativität und Eigensinn auf Reformen und Veränderungen reagieren, bleibt die gesellschaftliche Frage nach der Bedeutung und dem Wert von Beratung und Vermittlung in Wohlfahrtsstaaten“ (S. 7).

Diese Frage bleibt zwar auch nach Lektüre des Buches, jedoch kann sie wesentlich präziser und fundierter gestellt werden als zuvor. Denn die Beiträge dieses Sammelbandes bewegen sich durchweg auf einem hohen theoretischen, empirischen und reflexiven Niveau. Die einzelnen Fallstudien, qualitativen Interviews, quantitativen und evaluativen Erhebungen sind eingebettet in europäisch vergleichende Wohlfahrtsstaats-Analysen und in Organisations-, Bürokratie- und Gouvernementalitätstheorien. Sozialarbeitswissenschaftliche und beratungswissenschaftliche Bezüge werden in mehreren Beiträgen hergestellt, und die jeweils ausgewählten empirischen Zugänge sowie die Auswertung der Studien werden mit großer Sorgfalt dargestellt und begründet. Insgesamt fördern die theoretischen Rahmungen, die vorgestellten Fallbeispiele und vor allem die bi- oder international vergleichenden Studien eine beachtliche Vielfalt der tatsächlichen Praxis von arbeitsmarktbezogener Beratung und Vermittlung sowie etliche Forschungslücken zutage. In der Summe ergeben sich kritische Rückfragen an die weit verbreitete Einstellung, die europäische Politik des aktivierenden Sozialstaates sei weitestgehend homogen und lasse kaum noch Spielraum zur Arbeit im Interesse der arbeitssuchenden Klientel. Damit verbunden eröffnen sich neue kritische Fragen, z.B. in Blick auf die Qualifizierung und Weiterbildung sowie supervisorische Begleitung de beratenden Fachkräfte, oder auch in Blick auf mögliche Kooperationen zwischen Institutionen der Arbeitsverwaltung und Sozialer Arbeit.

Insgesamt erfordert die vollständige Lektüre des Buches trotz dieser ausgesprochen interessanten und innovativen Aspekte eine hohe Motivation. Dass in beinahe jedem Beitrag zunächst der Bezug zur europäischen Politik des aktivierenden Wohlfahrtsstaates seit den 1990er Jahren hergestellt wird, ist zwar sachlich begründet, wirkt aber etwas ermüdend. Die vielfachen Ausführungen zur empirischen Methodik setzen ein entsprechendes Interesse voraus, und die Schlussfolgerungen sind notwendigerweise oft sehr kleinschrittig. Es ist aber ohne weiteres möglich, auch einzelnen Beiträge mit großem Gewinn zu lesen, je nachdem, ob eher politikwissenschaftliche, sozialarbeitsbezogene, empirisch-methodische oder professionspolitische Aspekte für die Leser_innen von Interesse sind.

Fazit

Das vorliegende Buch ist in erster Linie für Sozialwissenschaftler_innen zu empfehlen. Aber auch Master-Studierende und Promovend_innen in sozialarbeitsbezogenen oder sozialwissenschaftlichen Studiengängen können hier sowohl theoretische als auch methodische Anregungen für eigene Projekte gewinnen. Expert_innen, die etwa mit der Vermittlung von Beratungskompetenz und der Entwicklung von Konzepten für (sozialarbeiterische) Fachkräfte in Institutionen der Arbeitsverwaltung und angrenzenden Handlungsfeldern befasst sind, können ihren Blick für Handlungsspielräume innerhalb der Bürokratien schärfen und somit zur Ausbildung eigensinniger und kritisch-reflektierender Beratungskompetenz in den verschiedenen Professionen beitragen.

Rezension von
Prof. em. Dr. Hildegard Mogge-Grotjahn
Bis März 2017 Professorin für Soziologie am Fachbereich 1: Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum
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Es gibt 10 Rezensionen von Hildegard Mogge-Grotjahn.

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ISSN 2190-9245