Jens Beljan: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone
Rezensiert von Dr. Mari Mielityinen-Pachmann, 18.07.2017
Jens Beljan: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 418 Seiten. ISBN 978-3-7799-3671-8. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Die Schule wird vor allem als Ort der Leistung und des Wettbewerbs definiert. Dementsprechend wird die Schülerexistenz meistens auf Effizienz und Erfolg reduziert und Bildung in Termini der Ökonomie als Ressource und als Investition gesehen. Selbst, wenn der Bildung eine soziale Dimension zugesprochen wird, geschieht das im Namen des Gewinns: das soziale Kapital, das im Bildungsprozess erworben wird, ermöglicht einem ein besseres soziales Netz und ein höheres Ansehen in der Gesellschaft. Gegen diese Tendenz der Instrumentalisierung und Ökonomisierung der Bildung und auf der Suche nach dem individuellen, wohlklingenden, Weltbezug geht Jens Beljan mit dieser, seiner Dissertationsschrift, über die Resonanz nach.
Mit dem Jenaer Professor Dr. Hartmut Rosa hat Jens Beljan über Jahre hinweg die pädagogische Resonanztheorie entwickelt und auch die ersten praktischen Impulse für die Schulpädagogik gegeben (www.socialnet.de/rezensionen/20367.php).
Aufbau
Das vorliegende Buch ist in vier Hauptteile geteilt.
Nach der stimmungsgebenden einfangenden Einleitung „Schule und das gute Leben“ ist der erste Teil der Bildungsgeschichte gewidmet. Klassiker der Pädagogik von Meister Eckardt, über Herder, Humboldt, Schleiermacher, Bollnow und Dewey bis Gruschka werden hier angeführt. Resonanztheoretisch gesehen hat die wissenschaftliche Pädagogik schon immer die Sehnsucht nach dem lebendigen, resonierenden Ich-Welt-Bezug beschrieben. Auch wenn diese Beschreibungen den großen Klassikern nicht immer ganz gerecht werden, eröffnet das Buch einen weiten und erfrischenden Blick in die Geistesgeschichte der Pädagogik.
Der zweite und dritte Teilführen den Leser in die Schule. In Anlehnung an das didaktische Dreieck wird mit „Resonanzdreieck“ der Kerngedanke der schulischen Resonanzverhältnisse beschrieben. Der dritte Teil macht das Resonanzdreieck lebendig in dem er die „Ecken“ (Lehrperson, Schüler, Sache) und die Beziehungen zwischen diesen darstellt.
Der vierte Teil konzentriert sich schließlich auf drei Kernaspekte der schulischen Weltbeziehungen unter den Begriffen: Leib, Raum und Zeit.
Inhalt und Diskussion
Laut Hartmut Rosa ist Resonanz kein „emotionaler Zustand, sondern eine Form der Weltbeziehung, der Bezugnahme auf Welt“ (www.zeit.de/campus). Das Wort Resonanz stammt von dem Lateinischen re-sonare und bedeutet zurücktönen, widerhallen oder mitklingen. Die Resonanz ist kein Gefühl. Nicht die Gefühle bestimmen die Resonanz, sondern die Qualität der Beziehung. Jedoch ist emotional-affektive Empfindungsfähigkeit für die Resonanz eine wesentliche Voraussetzung.
Um ein Gefühl für Resonanz zu bekommen – oder wohl besser gesagt, um sich mit der Resonanztheorie einzustimmen – zeigt Beljan gleich zu Beginn mit vielen Beispielen aus der Literatur, Musik und Film, wie schmerzhaft die Abwesenheit der Resonanz in der Schule ist und wie groß die Sehnsucht danach. Die Beispiele zeigen die uralte Differenz und Dissonanz zwischen der erlebten Schule und dem „realen“ Leben. Wenn das Lied „Mad World“ von Gary Jules und Michael Andrews mit Resonanzmangel in der Schule in Verbindung gebracht wird, bekommen sowohl das Lied als auch die Resonanztheorie eine neue Dimension: „Went to school and I was very nervous; No one knew me, no one knew me; Hello teacher tell me what´s my lesson; Look right through me, look right through me“ zeigt die tiefe Entfremdungserfahrung des Liedermachers. Mit dem Begriff der Entfremdung wird die Negation der Resonanz beschrieben – allerdings mit der Erweiterung, dass anderseits die Entfremdung für die Resonanz sogar erforderlich ist. Darauf wird im zweiten Teil näher eingegangen.
Über Jahrhunderte haben die unterschiedlichsten (reform)pädagogischen Ansätze darauf aufmerksam gemacht, dass die Schule nicht nur eine „institutionalisierte Lernfabrik“ sein sollte, sondern ein Ort für das wahre Leben – im besten Fall ein Ort des wahren Lebens. Das wahre und gute Leben und dementsprechend das Bildungsziel hat im Laufe der Geschichte unterschiedliche Formen angenommen. Meister Eckharts Bildungsbegriff lässt Beljan mit „Berührtwerden von der Welt“ zusammenfassen. Auch wenn entmystifiziert, lebt der Gedanke der „antwortenden Weltberührung“ im modernen Bildungsdenken. Seit Aufklärung und Romantik wiegt sich der Mensch in der Macht der Vernunft und deren Freiheits- und Selbstbestimmungsdenken. Zugleich hat aber die Aufklärung auch die distanzierte und angeblich neutrale Haltung zur Natur und dem Menschen selbst gegenüber geprägt. Die Romantik wiederum kehrte den Blick nach Innen und zugleich rief sie nach der Wertschätzung der organischen Einheit mit der Natur. Die Pädagogik sollte dazu dienen, die „ursprüngliche Resonanzbeziehung … für unser späteres Leben …[zu]… erzeugen“. Auf dem Schiff auf seiner Weltreise hat J.G. Herder eine neue Vision für die Gelehrtenschule, die er als Lehrer „eng und fremd“ erlebt hatte: Die Welt sollte man in die „Schule einfließen lassen“, die „Schüler für die Welt öffnen“ und „der verstummten Schulwelt einen Ton geben“. Die Wortwahl macht hier exemplarisch deutlich, dass in dem vorliegenden Buch auch Herders Text zum Räsonieren gebracht worden ist. Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schleiermacher – auch wenn aus unterschiedlichen philosophischen Grundsätzen kommend – stehen hier für die Beschreibung der Selbst-Welt-Relation als Grundsatz der Bildung. Die Bezüge auf die Persönlichkeitsmerkmale und Lebensläufe der beiden Klassiker beflügeln die Interpretationen. Aus der resonanztheoretischen Sicht steht für Humboldt der Mensch in einem Wechselverhältnis zu seiner Welt, das anverwandelt – nicht ‚angeeignet‘ wohlgemerkt – werden sollte.
Der Hauptverdienst des Buches liegt aber in der Analyse der Resonanzverhältnisse und deren Bedeutung für die Unterrichtsqualität. Mit dem „Resonanzdreieck“, bestehend aus dem Lehrer, dem Schüler und dem Unterrichtsstoff, werden die Resonanzachsen beschrieben, die für einen gelingenden Unterricht förderlich sind. Wenn eine der Resonanzachsen „verstummt“ oder „überhitzt“ wird, lässt Beljan die Verhältnisse mit „Indifferenzdreieck“ und „Repulsionsdreieck“ beschreiben. Die Selbstwirksamkeitserwartungen der Lehrer und Schüler leiden in solchen Verhältnissen. Auf Dauer beeinträchtigt so ein Klassenklima selbstverständlich auch die Motivation und darauffolgend auch schulische Leistungen.
Bildungstheoretisch gesprochen heißt die ideale Entwicklung in den Resonanzverhältnissen „Formierende Anverwandlung“. Weder Lehrer noch Schüler sollte sich also anpassen, die Resonanz bedeutet nicht „Gleichklang“, sondern eine gewisse Disharmonie ist notwendig. Oder wie es im Buch Hartmut Rosa zitierend heißt: „Antwortbeziehung besteht nicht zwischen Gleichen oder Identischen, sondern zwischen Differentem, aber Antwortenden“. Diese wiederum entsteht in der Dialektik von Resonanz und Entfremdung: einerseits ist Resonanz möglich vor dem Hintergrund eines fremd und stumm bleibenden Anderen, während sich umgekehrt das Noch-Stumme erst anverwandeln oder „berühren“ lässt, setzt aber als Basis ein tiefgründiges, dispositionales Resonanzvertrauen voraus. Um dieses „Urvertrauen“ wiederum zu ermöglichen, braucht die Schule bestimmte Werte wie Autonomie, Authentizität und Anerkennung als tragende Elemente. Dass Resonanz auch nicht mit Harmonie gleichzusetzen ist, zeigt Beljan mit den Ausführungen zur Entfremdung als Voraussetzung(!) für die Resonanz. Nur durch diese „transformierende Anverwandlung“, durch Phasen der Distanz und der Indifferenz wird Resonanz erst möglich. Der Satz „Resonanzpädagogen sind nicht harmoniesüchtige Kuschelpädagogen“ fasst das Ziel und Wesen der Resonanzpädagogik bestens zusammen.
Fazit
Dieses Buch und Resonanzpädagogik sollte jeder angehende Pädagoge – nicht nur in der Schule, sondern auch im Kindergarten, an der Universität, ja, auch Eltern – an die Hand nehmen, um zumindest einmal in die Welt der Resonanz einzutauchen und diese auf sich wirken zu lassen. Es gibt neue Nuancen für die Diskussion über schulische Verhältnisse. In der weiteren Entwicklung der Resonanzpädagogik sollten deren Grenzen in der Theorie und in der Praxis aufgezeigt werden. Als Hilfestellung hat Jens Beljan bereits mit Hartmut Rosa und Wolfgang Endres 48 Impulskarten für Lehrer erarbeitet (erschienen im Beltz-Verlag 2016).
Der Text ist spannend geschrieben, er „sucht“ Resonanz. Man lernt eine ganze Reihe von Klassikern ganz anders kennen – in aller Kürze sind diese recht klar und interessant dargestellt worden. Gleichermaßen werden aber auch aktuelle Phänomene der Schule und Gesellschaft (z.B. Mobbing oder die soziale Ungleichheit) resonanztheoretisch diskutiert. Konkreter spricht das Buch das Kollegium oder Familie als (potenzielle) Resonanzhäfen an. Als konkrete, schon existierende, Resonanzoase stellt Beljan die Deutsche SchülerAkademie vor. Auch wenn so eine Form vom schulischen Lernen auf Dauer kaum möglich ist, fungiert die SchülerAkademie als eine Art Vorbild und Ideal für eine räsonierende Schule. Das Werk bietet zwar keine Rezepte oder direkte Anleitung, aber wenn die Resonanzsensibilität durch das Buch gewonnen werden kann, hat es seinen Zweck erfüllt!
Rezension von
Dr. Mari Mielityinen-Pachmann
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Es gibt 4 Rezensionen von Mari Mielityinen-Pachmann.
Zitiervorschlag
Mari Mielityinen-Pachmann. Rezension vom 18.07.2017 zu:
Jens Beljan: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2017.
ISBN 978-3-7799-3671-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22685.php, Datum des Zugriffs 10.09.2024.
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