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Christoph Müller: »Haftschaden« (Jugendarrest und Warnschussarrest)

Rezensiert von Roman Pauli, 06.09.2017

Cover Christoph Müller: »Haftschaden« (Jugendarrest und Warnschussarrest) ISBN 978-3-8382-1020-9

Christoph Müller: »Haftschaden«. Die Folgewirkungen von Jugendarrest und Warnschussarrest. ibidem-Verlag (Hannover) 2016. 110 Seiten. ISBN 978-3-8382-1020-9. D: 19,90 EUR, A: 20,40 EUR, CH: 22,40 sFr.

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Thema

Mit dem „Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten“ entfiel 2013 unter anderem das sogenannte Kopplungsverbot von Jugendarrest und Jugendstrafe. Neben einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe kann seither Arrest nach § 16a Jugendgerichtsgesetz (JGG) verhängt werden. Die Einführung dieses sogenannten Warnschussarrests war von intensiven rechtspolitischen Diskussionen begleitet und ist bis heute wissenschaftlich umstritten. Ob die Verurteilung jugendlicher und heranwachsender Straftäter zu Freizeit-, Kurz- oder Dauerarrest nach § 16 JGG deren Auseinandersetzung mit der begangenen Straftat, die intendierte Abschreckung beziehungsweise nachhaltige erzieherische Effekte bewirkt, ist nicht weniger umstritten. Vor diesem Hintergrund führte Christoph Müller Interviews mit Insassen einer Jugendarrestanstalt, in der Absicht, eine Analyse der Folgewirkungen von Jugendarrest und Warnschussarrest vorzulegen.

Autor und Entstehungshintergrund

Christoph Müller schloss sein Masterstudium der Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover mit einer Arbeit zum Thema „Warnschussarrest/Jugendarrest. Eine psychoanalytisch-pädagogische Studie über die Folgewirkungen autoritärer Schockideologien“ ab. Das hier besprochene Werk ging aus dieser Abschlussarbeit hervor. Christoph Müller arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz Universität Hannover und promoviert gegenwärtig zur pädagogischen Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Aufbau

Das Buch besteht aus drei Teilen, denen insgesamt sieben inhaltliche Kapitel mit den jeweils zugehörigen Unterabschnitten zugeordnet sind.

Zu Teil I

Teil I: „Jugendarrest und Warnschussarrest als Schockideologie“ bildet den theoretisch-konzeptionellen Rahmen der Arbeit.

In der Einleitung erörtert der Autor die gesetzliche Grundlage des Jugendarrests und des häufig als „Warnschussarrest“ bezeichneten § 16a-Arrests im JGG und führt einige Delikte an, die typischerweise zu einer Verurteilung zu Jugendarrest führen können. Er benennt die unterschiedlichen Arrestformen Freizeit-, Kurz- und Dauerarrest, die sich in der Dauer des zu verbüßenden Arrests (zwei Tage bis vier Wochen) unterscheiden. Kursorisch wird ein idealtypischer Tagesablaufs in einer Jugendarrestanstalt nachgezeichnet, wobei auch die Ausstattung der Zellen beschrieben wird. Unter Bezugnahme auf Kühnendahl-Hensel (2014) führt der Autor den Begriff „Schockideologie“ ein, als „die Überzeugung, man könne einen Menschen mittels einer harten und kurzen spürbaren Intervention positiv in seinem Verhalten beeinflussen“, die sich in der mystischen Forderung nach „mehr Härte“ besonders im Jugendarrest und Warnschussarrest zeige.

Im anschließenden Abschnitt Der Diskurs um den Warnschussarrest zeichnet der Autor unter den Überschriften „Die juristische Debatte“ und „Die Mediendebatte“ zwei Positionen innerhalb des Diskurses um die Aufhebung des Kopplungsverbotes von Jugendarrest und Jugendstrafvollzug nach: „Die juristische Debatte“ beinhaltet in dieser Darstellung im wesentlichen kritische Argumente, die aus juristischer und kriminologischer Sicht gegen die Aufhebung des Kopplungsverbotes vorgebracht wurden. Unter der Annahme, „Der Spiegel“ habe den Diskurs als Leitmedium vier Jahre vor Gesetzesbeschluss maßgeblich mitgeprägt, folgt im Abschnitt „Die Mediendebatte“ die Zusammenfassung eines ausgewählten Spiegel-Artikels samt Feinanalyse der zentralen Argumentationsmuster, die den Autor zu dem Schluss führen, die politische und mediale Debatte vor Einführung des Warnschussarrests sei in relevanten Teilen von Rassismus, Geschlechterbiologismus und Schockideologie geprägt und „offensichtlich wirksamer als die juristische und kriminologische Fachdebatte“.

In Die Folgewirkungen autoritärer Schockideologien – theoretische Annäherungen leitet Christoph Müller in Anlehnung an Foucaults historische Analyse des europäischen Strafsystems ab, dass „der Jugendarrest nicht dazu da ist, Jugendliche von zukünftigen Straftaten abzuhalten, sondern ein bestimmtes Milieu zu schaffen, zu beobachten, zu kontrollieren und zu verwalten“. Der Autor verweist an dieser Stelle auf kriminologische Befunde, nach denen jugendliche Straftäter allgemein sozioökonomisch benachteiligten Milieus entstammen. Straftäter würden umso härter bestraft, „je benachteiligter das [Herkunfts-]Milieu“, wobei mit zunehmender Strafhärte zudem die Rückfallwahrscheinlichkeit steige.

Zu Teil II

Teil II: „Haftschaden. Empirische Untersuchung“ beinhaltet die Beschreibung der methodischen Herangehensweise des Autors an narrative verstehende Interviews und deren tiefenhermeneutische Auswertung sowie jeweils die Zusammenfassungen und Interpretationen von drei der mit insgesamt fünf Insassen einer Jugendarrestanstalt durchgeführten Interviews.

Nach Durchführung der Interviews versendete der Autor demnach die Interviewtranskripte zur Lektüre an sechs Studierende: „Dabei sollten sie besonders auf sich selbst achten und was mit ihnen während des Lesens passiert, welche affektiven Reaktionen sich zeigen […], welche leiblichen Reaktionen sich zeigen und vor allem welche Stellen Irritationen auslösen […]“. Den Verlauf der späteren gemeinsamen Interpretationstreffen beschreibt Christoph Müller in mehreren Schritten: Nach einem anfänglichen Austausch über die jeweils verbliebenen Eindrücke der gelesenen Interviews reinszenierte die Interpretationsgruppe „besonders spannend“ erscheinende Interviewpassagen, um „freie Assoziationen“ auszulösen, die wiederum einen Austausch über die „spontanen affektiven, leiblichen und irritierenden Reaktionen während des gemeinsamen Lesens“ evozierten. Daran anschließend folgte eine „wilde Diskussion“. Der gesamte Prozess wurde wiederum aufgezeichnet und einer abschließenden Interpretation durch den Autor zugeführt, in deren Zentrum explizit die bei der Interpretationsgruppe ausgelösten Irritationen standen. Mittels tiefenhermeneutischer Interpretation beabsichtigt der Autor, „unbewusste Anteile“ der Interviews wieder in Szene zu setzen, um einen Zugang zu „verpönten Lebensentwürfen“ gewinnen zu können.

Den folgenden inhaltlichen Zusammenfassungen und tiefenhermeneutischen Interpretationen der einzelnen Interviews ist ein einführender Abschnitt zum Zustandekommen der Interviews vorangestellt, in dem der Autor das „lange und komplizierte Antragsverfahren“ schildert, das schon den Eindruck vermittle „dass es sich bei Jugendarrestanstalten um ‚totale Institutionen‘ handelt“. In den folgenden Zusammenfassungen werden einige Interviewauszüge präsentiert, in denen die Arrestanten ihre subjektiven Empfindungen in der Arrestanstalt zum Ausdruck bringen und ihren dortigen Aufenthalt als schmerzhafte, beschämende und erniedrigende Erfahrung beschreiben. Die tiefenhermeneutischen Interpretationen bestehen im Wesentlichen aus rekonstruierenden Beschreibungen der Interpretationsgruppensitzungen, mit Erläuterungen, welche Textpassagen aus welchen Gründen zu Irritationen innerhalb der Interpretationsgruppe führten. Aus diesen Schilderungen schließt Müller zusammenfassend, dass der Aufenthalt im Jugendarrest das Selbstbild der Arrestanten verstärke, kriminell zu sein und Verhaltensweisen evoziere, die zu einer erneuten Verurteilung zu Jugendarrest oder -strafvollzug führten.

Zu Teil III

Im letzten Teil III: „Pädagogische Perspektiven“ diskutiert Christoph Müller zwei mögliche Alternativen zum Jugendarrest:

  1. Einerseits konfrontative Ansätze, die nur eine vermeintliche Alternative zum Arrest darstellten, da ebenfalls „schockideologisch konzeptualisiert“. Das „Anti-Aggressivitätstraining“ und das „Coolness-Training“ dienen hier als Beispiele für Trainingsmethoden, die sich dank „geschicktem Marketing“ und schnellen Erfolgsversprechungen weiter verbreiten und zu denen Jugendliche „schon heute auf richterliche Weisung […] gezwungen“ würden.
  2. Alternativ werden andererseits Ansätze einer potenziell emanzipatorischen Pädagogik diskutiert, die das Primat der Beziehung an die Stelle der Verhaltensmodifikation setzten und in den Grundannahmen der psychoanalytischen Pädagogik fußten. Anders als im Falle der konfrontativen Ansätze wird hier auf eine detaillierte Beschreibung konkreter Umsetzungsmöglichkeiten verzichtet.

Das mit Abschlussplädoyer überschriebene Fazit des Autors fasst die zuvor bereits artikulierten Schlussfolgerungen noch einmal zusammen. Auch unter Bezugnahme auf die Ausführungen zu den pädagogischen Alternativen des Jugendarrests kulminiert die Argumentation in der finalen Forderung nach der ersatzlosen Streichung des Jugend- und Warnschussarrests.

Diskussion

Wie Christoph Müller in Anlehnung an Goffman einleitend ausführt, besteht eine Aufgabe der Sozialwissenschaften darin, sich auf der Suche nach Verallgemeinerbarem im Besonderen und Speziellen an den Rändern der Gesellschaft umzusehen. Dies gelingt dem Autor, indem er einem im Wortsinne ausgeschlossenen Teil der Gesellschaft Gelegenheit zum Ausdruck der eigenen Empfindungen und Aspirationen gibt. Dass der qualitative Zugriff einen Zugang zu den subjektiven Sinnkonstruktionen der Befragten ermöglicht, der der Standardisierung quantifizierender Untersuchungsmethoden üblicherweise entgeht, ist aus anderen Bereichen der Strafvollzugsforschung bekannt (vgl. etwa die Arbeiten von Bereswill zur biographischen Verarbeitung des Freiheitsentzugs). Dessen erstmalige Erschließung für den Arrestvollzug bleibt darüber hinaus nicht weniger verdienstvoll.

Hinter dem auf dem Buchrücken formulierten Anspruch, „erstmals eine fundierte Studie über die Folgewirkungen [des] kurzzeitigen Einsperrens von Jugendlichen und Heranwachsenden“ vorzulegen, müssen die lebensweltlichen Beschreibungen des Arrestaufenthalts jedoch zurückbleiben, lässt die Anlage der Untersuchung (Interviews mit Jugendlichen und Heranwachsenden im Arrest) schließlich keine Aussagen über tatsächliche Folgewirkungen des maximal vierwöchigen Arrestaufenthalts zu. Damit wird deutlich, dass auch kausale Aussagen über den Zusammenhang von Arrestaufenthalt und Rückfälligkeit auf dieser Grundlage unzulässig sind: Wie in den im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz durchgeführten bundesweiten Rückfalluntersuchungen – die in Müllers Arbeit keine Erwähnung finden – erläutert, ist durchaus denkbar, dass es sich auch bei den im Arrest befindlichen Jugendlichen und Heranwachsenden um eine „Negativauslese“ derjenigen mit ungünstiger Sozialprognose handelt, deren häufiges Versagen bei der Legalbewährung insofern nicht überrascht. Inwiefern die anhand eines Zeitschriftenartikels abgeleiteten Verallgemeinerungen über die „Wirkmächtigkeit“ des medialen Diskurses zutreffen, geschweige denn überprüfbar sind, darf zudem bezweifelt werden.

Seine eigene Positionierung zum Arrestvollzug bringt der Autor pointiert zum Ausdruck, bisweilen allerdings zulasten der zu erwartenden Objektivität: So schreibt er beispielsweise zur offiziellen Anhörung des Rechtsausschusses des deutschen Bundestages vom 23.05.2012, dass „sich die regierende Koalition selbstredend darum [bemühte], dass auch solche ‚Sachverständigen‘ benannt wurden, die zu einer positiven Beurteilung des Gesetzesentwurfes kamen“ oder kritisiert die Quellenarbeit eines Vertreters konfrontativer pädagogischer Ansätze, „der sich ansonsten zumindest um den Anschein wissenschaftlicher Belege bemüht“.

Nichtsdestotrotz zeigt Müllers Arbeit, dass ein kritischer Umgang mit den pädagogischen Prämissen, deren Umsetzung und den daraus abgeleiteten Erfolgserwartungen an Jugend- und Warnschussarrest geboten ist. Daher erscheinen die aus heil- und sonderpädagogischen Arbeiten abgeleiteten Forderungen nach der intensiven Beschäftigung mit den jeweiligen Lebensgeschichten zur Herstellung langfristiger „haltender Beziehungen“ intuitiv plausibel, wobei die für den Leser spannende Frage nach den konkreten Umsetzungsmöglichkeiten im Rahmen der Straftäterbehandlung jedoch offen bleibt.

Fazit

Mit der vorliegenden Publikation erhält der interessierte Leser einen Einblick in die kontroverse Debatte um den Jugendarrest in Deutschland. Die Zusammenfassungen der Interviews mit Arrestanten vermitteln anschaulich, welche subjektiven Empfindungen die befragten Jugendlichen und Heranwachsenden mit ihrem kurzzeitigen Aufenthalt in einer Jugendarrestanstalt verbinden. Trotz recht allgemein formulierter Schlussfolgerungen wird deutlich, dass eine kritische Betrachtung der mit Jugend- und Warnschussarrest verbundenen (Wirksamkeits-)Erwartungen angezeigt ist. Wer angesichts des Klappentextes an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Folgewirkungen ebenjener jugendgerichtlichen Sanktionsformen interessiert ist, sollte berücksichtigen, dass diese hier nur bedingt zu erwarten sind.

Rezension von
Roman Pauli
Soziologe M.A.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kriminologischen Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen
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Es gibt 1 Rezension von Roman Pauli.

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Zitiervorschlag
Roman Pauli. Rezension vom 06.09.2017 zu: Christoph Müller: »Haftschaden«. Die Folgewirkungen von Jugendarrest und Warnschussarrest. ibidem-Verlag (Hannover) 2016. ISBN 978-3-8382-1020-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22693.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.


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