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Christiane Thompson, Rita Casale et al. (Hrsg.): Die Sache(n) der Bildung

Rezensiert von Prof. Dr. Antje Roggenkamp, 11.12.2017

Cover Christiane Thompson, Rita Casale et al. (Hrsg.): Die Sache(n) der Bildung ISBN 978-3-506-78594-7

Christiane Thompson, Rita Casale, Norbert Ricken (Hrsg.): Die Sache(n) der Bildung. Verlag Ferdinand Schöningh (Paderborn) 2017. 280 Seiten. ISBN 978-3-506-78594-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 36,80 sFr.

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Thema

Herausgeber_innen und Autor_inn_en befassen sich mit der Frage der Materialität, die sie auf verschiedenen Ebenen in den pädagogischen Diskurs um Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft einzeichnen. Die Erweiterung der Perspektive auf die Beziehung zwischen Materialität und Raum eröffnet neue Sichtweisen auf Bildungs- und Erziehungsprozesse und damit auch auf die innere Dynamik von Bildungs- und Erziehungswissenschaften.

Herausgeber_innen

  • Christiane Thompson ist seit 2014 als Professorin für Theorie und Geschichte der Erziehung und Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main tätig;
  • Rita Casale bekleidet seit 2009 die Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Theorie der Bildung an der bergischen Universität Wuppertal;
  • Norbert Ricken ist seit 2014 Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft und Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.

Entstehungshintergrund

Die Herausgeber dokumentieren in ihrem Sammelband zehn Vorträge, die im Herbst 2014 in Münster gehalten wurden. Die Tagung „Die Sache(n) der Bildung“ wurde von der Kommission „Bildungs- und Erziehungsphilosophie“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft verantwortet. Aufsätze von Karin Priem und Frederik Hermann, Markus Rieger-Ladich und Egbert Witte kommen ergänzend hinzu.

Aufbau

In Entsprechung zu den drei in den Tagungsfokus gerückten Themenkomplexen – kritische Auseinandersetzung mit einer bildungstheoretischen Degradierung von Materialität zu bloßen Gegenständen, Analysen pädagogischer Praxis- und Lebensformen zum Verhältnis von Sprachlichkeit und Sachlichkeit sowie der Aufnahme jüngerer Debatten zu Materialität und Raum – versammeln sich die 13 Beiträge unter verschiedenen Fragestellungen:

  1. Der erste Teil befasst sich mit der „Systematik von Bildung“,
  2. der zweite Teil thematisiert „Sache und Sachlichkeit der Bildung“, wohingegen
  3. der dritte Teil „Erziehungswissenschaftliche Reflexionen zu Materialität und Raum“ beinhaltet.

Zum ersten Teil

Im ersten Teil setzt sich Andreas Gelhard in „Bildung und Verdinglichung. Zum machttheoretischen Potenzial von Hegels frühen Schriften“ (13-34) mit Techniken der Menschenlenkung auseinander. Deren Kritik – so Gelhards These – lasse sich präziser mit Hegels Begrifflichkeit als mit derjenigen Kants formulieren. Hegels Begriff der „Bildung“ ermögliche, den von Kant geforderten Akt der Befreiung, im „Prozess der Autonomisierung des Handelns“ als Machtbeziehung (Foucault) zu beschreiben. Gelhard führt diesen Nachweis, indem er Hegels Begriff der Positivität von Kants Begriff der Heteronomie absetzt und mit der sozialkritischen Kategorie der Verdinglichung in Verbindung bringt. Hatte Immanuel Kant kritisiert, dass christliche Strategien der Seelenleitung wie etwa das Gebet „Unmögliches verlangen“, indem sie gebieten, Gefühle hervorzurufen, „um Hilflosigkeit zu erzeugen“ (18), so befasst sich Hegel mit der Frage nach dem Zusammenhalt religiöser Gemeinschaften. Anhand der in diesen zutage tretenden Autorität traditioneller „Regeln der Lebensführung“ arbeitet er heraus, dass entsprechende Techniken nicht nur der Mission zuarbeiten, sondern auch in einem ganzheitlichen Sinne angelegt sind. So schreiben sie nicht nur „Handlungen“, sondern auch Umfang und Dauer von Gemütszuständen wie „Reue, Freude oder Trauer“ vor. Positivität im Sinne der Verdinglichung bedeutet dabei ein Stillstellen des Spiels der Mächte, aus dem stabile Herrschaftsverhältnisse hervorgehen. Nicht der Sieg, sondern die Verkehrung einer dogmatischen Position in ihre Gegenposition konstituiert Erfahrung (26); sie hat die Aufgabe, den Horizont des eigenen Systems zu beschreiben und insofern auch zu überschreiten, sodass sich nicht Widersprüche „zwischen Sätzen und Gegensätzen“ ergeben, sondern Konflikte „zwischen Mächten und Gegenmächten“. Die Stillstellung von Macht zu Herrschaft lässt sich in Bezug auf Menschenlenkungstechniken als Verdinglichung interpretieren (31). Dabei geht es um das Durchstoßen vom Schein der Notwendigkeit und des Unvermeidlichen, mit der Befreiung von ursprünglicher Positivität möglich wird.

Egbert Witte befasst sich in „…‚Das Ding wandert durch die Formation der Menschen.‘ Anmerkungen zur Bildung dies- und jenseits von ‚Subjekt – Objekt‘“ (35-50) mit der Rolle der Dinge in Lern- und Bildungszusammenhängen. Spätestens seit Rousseaus Emile seien Mensch und Natur, aber auch Erziehung den Dingen (fast) vollständig unterworfen, der Schein der Freiheit wirke auf den Leser manipulativ. Nicht nur reformpädagogische Programme, auch aktuelle Analysen von Unterricht belegen eine Ambivalenz der Dinge, die pädagogischen Intentionen unterliegen, von ihnen aber auch unterlaufen werden. Als weit interessanter erweise sich demgegenüber der neuzeitliche Bildungsprozess, der etwa bei Humboldt als Entfremdungserfahrung verlaufe, die „dem Phänomen des Dings und des Anderen“ auch beschreibend nicht gerecht werden könne. Demgegenüber plädiert Hegel im Rahmen des schulischen Unterrichts für den „Bruch mit dem Vertrauten“. Dadurch unterläuft er nicht nur die Vorstellung eines linearen und bruchlosen Bildungsprozesses, sondern widerspricht auch Konzepten, die Lebensnähe als didaktisches Prinzip ausweisen. In Hegels Bildungskonzeption wird das Ding im Vergleich zu Humboldt zwar ernster genommen, seine Funktion ist aber auf das Katalytische beschränkt. Damit nimmt Witte Gedanken Käthe Meyer-Drawes auf, die eine Rehabilitierung der Dinge in Abhängigkeit einer Revision neuzeitlicher Rede vom Subjekt vollzieht. Insofern dürfte sich aber auch die Pädagogik ändern, sofern sie vom idealistischen Denken und damit der Vorherrschaft des Subjekts den Abschied nimmt.

Björn Milbradt beschäftigt sich in „Was bedeutet es einen Gegenstand zu denken? Bildungstheoretische Überlegungen mit Hegel“ (51-65) mit der Frage, wie der Gegenstand im Denken Hegels gedacht wird. Dabei vertritt er die These, dass der Gegenstand dem Denken etwas entgegen setze, das das Denken begrenzt. Erst von hier aus werden Erfahrung und Wissen möglich. Konstruktivistische Positionen können mangels Kriterien zwischen Meinung und Wissen nicht unterscheiden. Mit Hegel lasse sich ihnen gegenüber zeigen, dass erst die Unterscheidung von Wissen und Gewusstem Wissen ermöglicht. Das Denken hat vor diesem Hintergrund eine doppelte Funktion: geht es einerseits um das, was wir tun, wenn wir einen Gegenstand denken, so ist andererseits zu fragen, wie wir uns auf einer Metaebene auf dieses Denken beziehen. Dabei verändert die Unterscheidung zwischen Denken und Gegenstand des Denkens die Sache („an sich“) des Denkens, die zu einer Wahrheit („an sich für uns“) wird. Erkenntnis wird zu einem lebendigen Prozess „der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, der gleichzeitig die zu erkennende Sache, das Objekt wie das Subjekt der Erkenntnis verändert“ (60). Die Bedeutung dieses Modells liegt für Milbradt nicht zuletzt in der Frage nach gelingenden Selbst-und Weltbezügen, denen gegenüber „Propaganda, Agitation und totalitäre Ideologien“ (63) als sich nach außen immunisierende Formen erscheinen, insofern sie sich für die einzig wahren halten.

Arndt-Michael Nohl zeigt in „Bildung oder die Begegnung von Menschen und Dingen im Modus der ‚Erstheit‘“ (67-85), inwiefern die Befassung mit Dingen kein anachronistisches Thema ist, sondern mitten in das Zentrum erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung führt. Am Beispiel von Orhan Pamuks Roman „Das Museum der Unschuld“ entwickelt er die These vom Widerstreit gegenseitiger Bezugnahmen von Text und Materialität in einem spezifischen Zwischenraum. Vor dem Hintergrund eines sich auf Wirkungen fokussierenden Pragmatismus (Peirce) erarbeitet Nohl einen lerntheoretischen Ansatz im Umgang mit den Dingen: ausgehend von „drei Kategorien des Bewusstseins“ – dem Gefühl, der Unterbrechung und dem Gedanken – entwickelt er den Ansatz eines Lernens mit den Dingen als Ausbau von Drittheit (72 f). Dabei handelt es sich um einen Vorgang des Umlernens durch Infragestellung von Gewusstem und Gekonntem sowie die Entwicklung von „Erfahrungsregeln, die den Bezug von Menschen zu Dingen regulieren“ (73). Nohl schlägt vor, Lernen und Bildung in neuer Weise aufeinander zu beziehen. Es geht nicht länger um den Unterschied zwischen Lernen als Akkumulation von Wissen und Können und Bildung „als eine Veränderung des Verhältnisses des Selbst zu sich, zu anderen und zur Welt“ (74), sondern um unterschiedliche Verhältnisse zu den Gegenständen. Bezieht sich Lernen auf Gegenstände als auf einen Ausschnitt der Beziehungen zu Mensch und Welt, so geht es Bildung um die Gesamtheit von Selbst-und Weltreferenz (74-75). Vor diesem Hintergrund interpretiert Nohl Pamuks „Museum der Unschuld“ als einen Resonanzraum für Dinge jenseits sprachlicher oder konkreter Festlegungen, in dem sich vielfältige Ebenen von Fiktion und Realität in der Beziehung auf die Dinge vermischen.

Philipp D. Th. Knobloch und André Schütte befassen sich mit „Konsumästhetik und Bildung. Grundzüge einer Theorie konsumästhetischer Bildungsprozesse“ (87-103). Ausgehend von Überlegungen Wolfgang Ulrichs zu Konsumprodukten – er vergleicht sie mit Objekten traditionellen Aberglaubens, aber auch mit Kunstwerken – setzen sie sich bildungstheoretisch mit dem Phänomen der paradoxen Wirkung von Dingen (Elend und Anspannung, Devotion und Negation, Faszination und Distanzierung) auseinander. Von hier aus entwerfen sie eine Theorie konsumästhetischer Bildungsprozesse: auf Versprechungen inszenierter Reize reagieren Konsumenten verschieden – den Versprechungen naiv vertrauend, das Spiel durchschauend oder ironisierend. Der Unterschied zwischen logischem und ästhetischem Schein ebenso wie die Transformation von Konsum und Kritik erweisen sich als Kategorien, mit denen nicht nur kritischer Konsum, sondern auch konsumästhetische Bildungsprozesse analysiert werden können. Dabei tritt die bildende Potenz auch temporär zutage (97). Auf diese Weise unterstreichen die Autoren ihre zentrale These, dass auch „käufliche Dinge […] Sache[n] der Bildung“ sind. Dies freilich wäre theoretisch, empirisch und metatheoretisch zu ergänzen: Kontexte realisieren, revidieren und relativieren.

Zum zweiten Teil

Der zweite Teil setzt ein mit Überlegungen von Sabine Reh über „Die Ambivalenz der Rede über die ‚Sache‘ des Unterrichts. Beobachtungen zur Korrektur von deutschen Abituraufsätzen aus den 1950er Jahren“ (107-125). Ausgehend von der Beobachtung, dass „Sachen“ aus dem individualisierten Unterricht verschwinden, befasst sich Reh mit der kritischen Diskussion eigener Vorannahmen: Organisatorische Gespräche in der Klassenöffentlichkeit treten an die Stelle eines Austausches über geteiltes Wissen, die Äußerung von subjektiven Eindrücken an die Stelle sachlicher Rückmeldungen, und Arbeits-und Organisationsformen an die Stelle von Schulfächern. Reh nennt dies das „Reflexivwerden“ schulischer Wissenspraktiken und stellt ihnen Beobachtungen zur Abiturprüfung im 19. Jahrhundert gegenüber. Insofern nicht eindeutig zu klären ist, um welche Sache es im Deutschaufsatz ging, verschiebt sich auch hier das Gewicht von den Gegenständen fort auf Fähigkeiten und Kenntnisse. Am Beispiel von Abituraufsätzen aus den 1950er Jahren zeichnet Reh konkrete Bewertungskonflikte nach: Kritisiert man Bewertungen von Kollegen oder deren Aufgabenstellungen (115)? Geht es um einfach zu klärende Sachverhalte oder auch um fraglich werdende „Sachen“ (116)? Gegenüber einem emphatischen Begriff der Sache (Bildungsinhalt) und einem positivistischen Begriff ließe sich Klafkis Verständnis der Sache als eines bildenden Gehalts im Sinne konzeptioneller Rückgewinnung menschlicher Urheberschaft beschreiben. Das Verschwinden der Sachen ist insofern als Veränderung von Kommunikation, nicht aber als Verlust an Inhaltlichkeit zu interpretieren.

Andreas Gruschka beschäftigt sich mit „Die Sache der Bildung im realen Unterricht“ (127-142). Gruschka setzt sich kritisch mit einer empirischen Bildungsforschung auseinander, die in nationalen Bildungsstandards und kompetenzorientierten Curriculum-Reformen das Denken über Schule umzustellen fordert. Er plädiert demgegenüber für den Einsatz des Bildungsbegriffs in empirischen Studien, um die Sache der Bildung im Unterricht zur Sprache zu bringen. Bereits die bildungstheoretische Verwässerung der 1970er und 80er Jahre habe allerdings ein Bildungsdenken im und über Unterricht erschwert. Aktuell werde konkreter Bildungssinn im Unterricht unterlaufen, ein entsprechendes Nichtgelingen der sachlichen Dimension von Unterricht aber gleichwohl empirisch erforscht. Seine Antwort auf die Frage nach der Art und Weise, in der sich Bildung als Aufgabe des Verstehens der Sachen zum Gegenstand des Unterrichts machen lässt, gestaltet sich in fünf Stufen (Sammlung, Aufkündigen der Passivität, Bearbeitung thematischer Generativität, Eröffnung und Nutzung der Faszination gegenüber einer Sache, Arbeit an der Erkenntnis). Dieses implizite Modell wird auf zwölffache Weise im Unterricht differenziert: Ausgangspunkt, operative Schließung des Verstehens, Nachfragen des Verstehens, tieferes Verstehen, Verstehen mittels Anderem bzw. Verständlichen, Sinnverstehen, Verstehen als ästhetische Tätigkeit, Grenzen des Verstehens, Verstehen als Ereignis, Verstehen und Unverbildetsein, Verstehensbehinderung durch Aufgaben, Verstehen als Halbbildung. Diese einzelnen Erscheinungen des Verstehens machen auf eine Vielzahl an Formen aufmerksam, entziehen sich aber jeder Einordnung in Kompetenzstufenmodelle.

Jutta Breithausen äußert sich in „Sachlichkeit im Bildungsprozess – zur Bedeutung sprachlicher Komposition“ (143-164) über das Verhältnis von Bildung und Sachlichkeit aus einer spezifischen, gegenüber subjekt- wie objektzentrierten Zugangsweisen kritischen Perspektive heraus. Dabei unternimmt sie den Versuch, nicht die Methode zum Maßstab für die Erkenntnis der Sachen (Adorno) werden zu lassen, sondern jenseits der Kategorien von Subjekt und Objekt an die Sachlichkeit im Bildungsprozess zu erinnern. Die Sache ist nicht zu setzen, sondern kontextuell zu verorten. Im Zentrum steht der Begriff der Komposition, der sich unterschiedlich deuten lässt – als Zusammenstellung, als Ordnung stiftend und als gestalterische Möglichkeit (148). Der menschliche Verstand gehe von der sinnlichen Wahrnehmung der Welt aus und ordne die Dinge. Schließlich vollziehe sich das Weltverhältnis des Menschen auch im sprachlich vermittelten Denken. Während Sokrates, Cusanus und Humboldt von einer „relativ umfassenden Erkenntnismöglichkeit der Sache“ (157) ausgehen, zentriere sich die Suche nach Erkenntnis auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit. Im Vergleich mit modernen Kommunikationstheorien verdeutlichen die historischen Rekonstruktionen, dass die Abkehr von sprachlicher Komposition erhebliche bildungstheoretische Konsequenzen hat: nicht nur die Sache geht in Operationalisierungsregeln verloren, auch die Subjektivität bleibt reines Lippenbekenntnis.

Martin Harant beschäftigt sich mit „Pädagogische[n] Transformationen des Religiösen und Ethischen als Sache der Bildung? Eine systematisch-didaktische Auseinandersetzung im Kontext von Dietrich Benner und Eduard Spranger“ (165-187). Er weist darauf hin, dass die Beschäftigung mit systematischen Reflexionen zur Sache der Bildung in den letzten Jahrzehnten fast verschwunden sei. Vor diesem Hintergrund spürt er Benners pädagogischen Überlegungen nach, die die Sache der Bildung im Rückgriff auf Herbart als systematische Differenz lebensweltlicher und wissenschaftlicher Erfahrung bestimmen. In der modernen Gesellschaft überschreite Unterricht lebensweltliche Erfahrungen explizit (167). Das Pädagogische sei eine Transformation gesellschaftlicher Ansprüche, ohne dass jenes dabei negiert werde. Geht es auf der einen Seite um die Frage- und Zeigestruktur des Lernens, so auf der anderen Seite mit Blick auf die Religion um Urteils- und Partizipationsfähigkeit. Im Ergebnis scheint bedeutsam, dass Benner Herbarts Idee der inneren Freiheit auf eine Weise rezipiert, die – im Unterschied zu Kant – die Möglichkeit des Umgangs mit dinglicher Umwelt einschließt oder zumindest einschließen könnte. Gegenüber Benners Überlegung, das Eigensein außerpädagogischer Praxis (Lebenswelt) zu erfassen, zugleich aber pädagogische Transformationsleistungen anzubahnen, bringt Harant Sprangers Werterlebnisse und Werterlebnisvorstellungen ins Gespräch. Spranger beschreibe Werttendenzen auf individueller und überindividueller Ebene. Religiöses und Ethisches haben insofern bei Spranger eine andere Bedeutung als bei Herbart: es handelt sich um affirmative Grundzüge menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Religion und Ethik werden somit zur Sache der Bildung, sofern sie sich einer an den Perspektiven von Bildsamkeit und der Aufforderung zu freier Selbsttätigkeit ausgerichteten Transformation unterziehen (185).

Zum dritten Teil

Der dritte Teil beginnt mit Überlegungen von Markus Rieger-Ladich zum Thema „Postschalter und Dreiräder. Zur materiellen Dimension von Subjektivierungspraktiken“ (191-211). Die gegenwärtige Entwicklung in Pädagogik sowie Sozial-und Kulturwissenschaften zeige, dass der Streit um das Subjekt von der Frage nach sozialen Praktiken, die das Subjekt allererst erzeugen, abgelöst ist. Daher wird nach der Verwicklung von Dingen und Artefakten in menschliches Denken gefragt. Über den Begriff des Dispositivs (Foucault) und der Frage nach Subjektivierungspraktiken (Butler) nähert sich Rieger-Ladich hybriden Entitäten an. Insbesondere der französische Sozialtheoretiker Bruno Latour betrachtet Dinge und Artefakte nicht als „passive Objekte“ für das souveräne Subjekt, sondern unterscheidet Werkzeug, Infrastruktur und Projektionsfläche. Mit diesem Raster interpretiert er Gegenstände wie etwa Egglestones Tafel Nummer 22. Ein von diesem fotografiertes Dreirad dient ihm als Sache: das Objekt ist begehrenswert, es kann „anregen“ und „affizieren“, „appellieren“, „stimulieren“, „provozieren“, aber schließlich auch Neues entstehen lassen (205). Insofern wären all jene Subjektivierungspraktiken technischer Produkte daraufhin zu untersuchen, ob sie eine „Überlagerung unterschiedlicher Dispositive“ (206) erkennen lassen.

Karin Priem und Frederik Herman befassen sich in ihrer Studie „Hautnah. Materialität der Moderne und sensomotorische Ansätze der Berufsbildung im ‚Zeitalter des Stahles‘“ (213-239) mit den konkreten Werkstoffen Eisen und Stahl. Sie zeichnen einen „wichtigen Beitrag zu berufsbildenden Maßnahmen eines der weltweit wichtigsten Stahlkonzerne“ (215) nach, der die Berufsausbildung in einem psychophysiologischen Labor konzentrierte, um individuelle Kapazitäten für die spezifischen Beschäftigungskategorien zu ermitteln. Dabei wird die Lungenkapazität, Pulsfrequenz, Aufmerksamkeitsspanne, Reaktionszeit und anderes ermittelt. Im Hintergrund steht offensichtlich die Vorstellung einer möglichen Formbarkeit der Lehrlinge. Seit 1919 wurde das auf einem positivistischen Ansatz beruhende Labor institutionalisiert. Fortan wurde unter anderem der Tastsinn im Feil-Experiment trainiert. Das Zeigen von Fotografien ermöglichte die Elimination negativer Gefühle und das Entstehen eines verborgenen Wissens, das sich aus den beeindruckenden Maschinen und Maschinenteilen ergab.

Martin Viehhauser beschäftigt sich in „‚Lebt und arbeitet in…‘. Zur erzieherischen Materialität heimatlicher Bauformen im kommunalen Siedlungsbau um 1900“ (241-262) mit der Städtebaugeschichte um 1900. Sozialreformerische Maßnahmen unterstützen Formen erzieherischen Handelns in und durch Materialität. Der kommunale Siedlungsbau erweist sich als Ausweg aus der Dominanz von Mietskasernen, die Fantasie der Kinder und Jugendlichen gar nicht erst aufkommen lassen. Die Schweizer Siedlung „Riedtli“, zwischen 1912 und 1919 errichtet, bot 300 Wohnungen in dezentral verstreuten Hausgruppen. Sie orientierte sich am Gartenstadt-Konzept, gleichwohl blieben die einzelnen Wohnungen funktional. Dabei zeigt sich, dass Raumarrangements Vermittler von Werten sein können. Akzente verschieben sich, insofern nicht länger gefragt wird, was Erziehung ist, sondern problematisiert wird, wie Erziehung möglich ist (248). Architektur bietet eine spezifische Perspektive. Dabei geht es Viehhauser nicht um Wirkungen, sondern um Planungsstrategien: so geriert sich die Frage nach den Ursachen von Erziehung als Frage nach Ermöglichung und wohl auch nach Planung von Erziehung.

Martin Nugel thematisiert „Die Erziehungswissenschaft als Raumwissenschaft. Herausforderungen durch den spatial turn“ (263-278). Er benennt Herausforderungen und ungelöste Probleme dieser Forschungsrichtung und zeigt methodische Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Theorie des Raumes (Bodys, Places, Territorien und Netzwerke) auf. Der spatial turn basiert auf der Annahme, dass sich nach der von Kant vorausgesetzten Raum-Zeit-Äquivalenz, eine historische Schwerpunktbildung ergeben habe, der gegenüber der Raum aktuell neu in den Blick zu nehmen sei. Das zwischenzeitliche Verschwinden des Raumes wird einerseits aus der technologischen Entwicklung heraus erklärt, andererseits aus den immer schneller überwindbaren räumlichen Distanzen, die subjektiv zu schrumpfen scheinen. Hinzu kommt, dass die nationalsozialistische Propaganda den Raum ideologisierte und funktionalisierte. Demgegenüber habe die Erziehungswissenschaft einen qualitativen Sprung vollzogen, insofern sich ihr Raumverständnis durch den spatial turn verändert habe. Auch wenn sich Pädagogik schon zuvor mit theoretischer Reflexion des Raumes befasst habe, sei die Wiederentdeckung des Raums als theoretische Kategorie Ausdruck der Internationalisierung von Erziehungswissenschaft. Sie ist darüber hinaus Folge von Entwicklungen in der Bildungspolitik und sie ist schließlich Ausdruck von Verwissenschaftlichung. Internationalisierung, Bildungspolitisierung und Verwissenschaftlichung führen zu einer Pluralisierung des Raumbegriffs und zur Heterogenität der Beobachterperspektive. Dies eröffnet die Chance, räumliche Praktiken als Ordnungs- und Deutungsmöglichkeiten zu verstehen. Dabei besitzt raumbezogene Forschung konstitutiven Charakter, insofern sich Forscher_innen spezifisch und bewusst positionieren. Im Zentrum steht dann nicht mehr allein die Positionierung der anderen, sondern auch das Wahrnehmen der eigenen Position.

Diskussion

Vorliegender Sammelband befasst sich mit einem Thema, das in den letzten Jahren unter dem Eindruck des material turn auch in die Pädagogik Eingang findet. Dabei zeichnen sich neue Wege ab: Die Frage nach dem Verhältnis von Materialität und Raum hilft, traditionelle Konzepte wie Bildungstheorie und Subjektzentrierung zu problematisieren (Witte). Es ergeben sich mitunter erstaunliche Zusammenhänge: Die Stillstellung von Macht zu Herrschaft lässt sich als Verdinglichung interpretieren (Gelhard). Die Unterscheidung im Denken deckt totalitäre Selbst- und Weltbezüge auf (Milbradt). Dinge eröffnen Resonanzräume jenseits sprachlicher und konkreter Festlegungen (Nohl). Auch käufliche Dinge sind „Sachen der Bildung“ (Knobloch/Schütte).

Die jüngere Geschichte der Abituraufsätze spielt im zweiten Teil eine nicht unerhebliche Rolle. Die Erkenntnis, dass sich bereits im Nachdenken über Formen der Bewertung formale Kriterien abbilden, lässt jüngste Unterrichtsentwicklungen in neuem Licht erscheinen (Reh). Die Kritik an einer rein formal orientierten empirischen Bildungsforschung setzt die Sache der Bildung erneut in Szene (Gruschka). Historische Rekonstruktionen machen deutlich, dass mit der Sache auch die Subjekte verloren gehen (Breithausen). Religion und Ethik werden zur Sache der Bildung, sofern sie sich einer Transformation unterziehen (Harant).

Die materialen Überlegungen im dritten Teil nehmen auf je ihre Weise ganz unterschiedliche Dinge in den Blick: Dreiräder, Berufslabor, Städtebau und spatial turn.

Die Abkehr von einer subjektzentrierten Bildungstheorie setzt nicht etwa die Systemtheorie in Szene, sondern präferiert eine an Hegel orientierte Haltung des Einspruchs. Diese hat den Vorteil, starre Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt im Nachdenken über die Beziehungen zu Sachen zu modellieren und zu transformieren. In der Auseinandersetzung mit idealistischen Grundlagen wird insbesondere der Einspruch gegen kantianisches Denken von Seiten Herbarts, vor allem aber Hegels deutlich. Insofern ließe sich fragen, ob eine Theorie der Bildung durch Sache(n) gut beraten wäre, bei Hegel ihren Ausgang zu nehmen. Die theoretischen Beiträge des ersten Teils legen diesbezüglich interessante Überlegungen vor.

Die Sachen der Bildung werden im zweiten Teil auf einer mittleren Ebene diskutiert. Dies geschieht unter Einbeziehung höchst differenter Konzepte, die sich mit Transformationen befassen. Dabei kann es um das Verschwinden der Sachen, eine (Re-)Transformation des Bildungsbegriffs, direkte sprachliche Perspektiven (Komposition), aber auch die Transformation von Metabegriffen gehen. Ausgehend von diesen Ansätzen wird man konkrete Konzepte einer pädagogisch tragfähigen (Bildungs-)Theorie der Sache(n) erwarten dürfen.

Im dritten Teil hätte sich eine stärkere Bezugnahme auf die theoretischen Ansätze des ersten Teils angeboten. In der Durchführung fehlen entsprechende (Rück-) Bezüge, gelegentlich werden noch einmal neue, von der Differenzierung in der Sache her begründete Ansätze (Foucault, Latour) erprobt.

Fazit

Ein hoch interessantes Buch, das verschiedene Aspekte des Umgangs mit Materialität in der Pädagogik auf unterschiedliche Weise anspricht. Das von den einzelnen Beiträgen evozierte Phänomen der „Sache(n)“ verlangt nach einer umfassenden Orientierung.

Die einzelnen Überlegungen tragen nicht nur dazu bei, den material turn auch in der Pädagogik zu verankern, sie können ihrerseits neue Forschungsdiskussionen eröffnen. Die Sachen der Bildung scheinen mir insofern allemal wert, weiterer Tagungen, entsprechender Dokumentationen, aber auch spezieller Studien gewürdigt zu werden.

Rezension von
Prof. Dr. Antje Roggenkamp
Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Es gibt 11 Rezensionen von Antje Roggenkamp.

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Zitiervorschlag
Antje Roggenkamp. Rezension vom 11.12.2017 zu: Christiane Thompson, Rita Casale, Norbert Ricken (Hrsg.): Die Sache(n) der Bildung. Verlag Ferdinand Schöningh (Paderborn) 2017. ISBN 978-3-506-78594-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22704.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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