Sabine Grosser, Katharina Köller et al. (Hrsg.): Ästhetische Erfahrungen
Rezensiert von Dr. Torsten Mergen, 09.06.2017
Sabine Grosser, Katharina Köller, Claudia Vorst (Hrsg.): Ästhetische Erfahrungen. Theoretische Konzepte und empirische Befunde zur kulturellen Bildung. Peter Lang Verlag (Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2017. 220 Seiten. ISBN 978-3-631-67329-4. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 58,00 sFr.
Thema
Ästhetische und kulturelle Bildungsprozesse sind seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt. Aus unterschiedlichen Disziplinen (v.a. Theaterpädagogik, Anglistik, Germanistik, Deutsch- und Mediendidaktik, Pädagogische Psychologie, Grundschulpädagogik, Ästhetik) beleuchten 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in zehn Aufsätzen wesentliche Perspektiven auf die Leitfragen, was ästhetische Erfahrungen sind und wie sie beschrieben, erhoben und nachhaltig gefördert werden können.
Der Sammelband ist durch eine methodische Vielfalt geprägt, die verdeutlicht, wie sich etwas Latent-Fluides wie ästhetische Erfahrungen empirisch erfassen und im Kontext von Bildungsinstitutionen anbahnen und vermitteln lässt. Dazu finden sich in dem Band neben theoretisch-konzeptionellen Beiträgen zu begrifflichen Grundlagen auch solche zu ausgewählten (zumeist außerschulischen) Lernorten, zu intermedialen Projekten und kreativen Schreibprozessen, um Menschen verschiedenen Alters zur Reflexion und kritischen Prüfung eigener Wahrnehmungsmuster zu motivieren.
Herausgeberinnen
Die drei Herausgeberinnen Sabine Grosser, Katharina Köller und Claudia Vorst arbeiten als Hochschullehrerinnen an deutschen Hochschulen: Sabine Grosser ist Professorin für Ästhetische Bildung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Kiel. Katharina Köller ist Oberstudienrätin im Hochschuldienst für Germanistische Sprachwissenschaft und -didaktik an der Universität Paderborn. Claudia Vorst ist Professorin für deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch-Gmünd.
Autorinnen und Autoren
Unter den 20 Autorinnen und Autoren des Sammelbandes befinden sich auch zahlreiche Nachwuchswissenschaftler verschiedener Disziplinen.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband ist als Band 22 der Reihe „Studien zur Germanistik und Anglistik“ im Peter Lang-Verlag erschienen, welche von Juliane Eckhardt, Rüdiger Hillgärtner und Claudia Vorst herausgegeben wird.
Der Band „ist Juliane Eckhardt zum 70. Geburtstag gewidmet“ (S. 11) und geht zurück auf das seit 2001 bestehende interdisziplinäre Forschungskolleg „Ästhetisches Lernen“ an der Universität Paderborn, welches sich „die Erarbeitung interdisziplinärer und zugleich institutionenübergreifender Perspektiven auf ästhetische Bildung und ihre Implikationen zum Ziel“ setzt mit der „Absicht, Synergien für Forschung, Lehrerausbildung und pädagogische Praxis zu schaffen“ (S. 10). Mit dem vorliegenden Sammelband liegen in der genannten Reihe inzwischen drei Bände aus dieser Forschungs- und Arbeitsgruppe vor.
Aufbau
Der Band besteht neben einem Vorwort der Paderborner Professorin Petra Büker vom Arbeitskreis „Ästhetisches Lernen“ und der Einleitung der drei Herausgeberinnen aus zehn Aufsätzen zu verschiedenen Dimensionen des Themas:
- Diskurse über Kulturelle Bildung
- Ästhetisch-kulturelle Erfahrungsräume materialgestützten Schreibens
- Schulische und außerschulische literarische Bildung im Vergleich
- Ästhetische Erfahrungsfelder in der intermedialen Arbeit
- Literarisches Leben in Paderborn
- Per Drehtür in die Praxis und zurück
- Zum ästhetischen Erfahrungspotential von Bilderbüchern
- Eine qualitative Studie zur Erfassung ästhetischer Transformationsprozesse
- Vom Bild zum Text
- Empirische Befunde zur Identitätsbildung in einem performativen Theaterprojekt mit Vorschulkindern
Er wird abgerundet durch ein Autoren- und ein Abbildungsverzeichnis.
Inhalt
Im Einleitungskapitel benennen die Herausgeberinnen Sabine Grosser, Katharina Köller und Claudia Vorst die erkenntnisleitenden Fragen des Sammelbandes, „nämlich 1. welcher theoretisch explizierte Begriff ästhetischer Erfahrung jeweils verwendet wird, 2. wie ästhetische Erfahrungen konkret, insbesondere bei projektartigen Vorhaben, vermittelt bzw. initiiert werden können, und 3. wie sich diese ästhetischen Erfahrungen, die die beteiligten Personen, z.B. Schülerinnen und Schüler, (konkret) machen, fassen und beschreiben lassen.“ (S. 16)
Eckart Liebau stellt dazu unter der Überschrift „Diskurse über Kulturelle Bildung“ das damit korrespondierende grundlegende Begriffsverständnis dar und zeigt Facetten in deutschen und internationalen Kontexten, Diskursen und Traditionen auf. Während er für den deutschen Kulturraum den Begriff „Kulturpädagogik“ und die geisteswissenschaftliche Pädagogik als maßgeblich konstatiert, besonders aber die Rolle der Schule als „die entscheidende Stätte der Kulturtradierung in der Gesellschaft“ (S. 21) hervorhebt, skizziert er die internationale Debatte um den Begriff der „arts education“. Damit würden, so Liebau, vorrangig ästhetische Ausdrucks- und Erscheinungsformen assoziiert: „Bildung zielt auf die Entwicklung der Persönlichkeit, zielt auf die Anreicherung der Biographie durch die Erfahrung der Künste.“ (S. 25)
In der Folge fokussieren drei Beiträge die Frage nach der Ermöglichung und Vermittlung von ästhetischen Erfahrungen im schulischen Kontext.
- Dazu stellen Sara Rezat und Katrin Lehnen das neue Aufgabenformat des materialgestützten Schreibens im Deutschunterricht vor. Sie beleuchten, „in welcher Weise materialgestütztes Schreiben im Kontext des Lesens und Schreibens besondere Potentiale für die ästhetisch-kulturelle Bildung eröffnet“ (S. 31). Dazu modellieren sie mehrere Teilkompetenzen poetischer Kompetenz, die besonders durch das Erschließen unterschiedlicher Texte (z.B. Sachtexte, literarische Texte, nicht-lineare Texte, Bilder) und die Wahrnehmung der spezifischen ästhetischen Eigenarten der Materialien begünstigt werden.
- Juliane Eckhardt und Claudia Kukulenz wenden sich dem „Umgang mit Kinderliteratur in Literaturunterricht und Literaturmuseum“ zu. Sie stellen die Bedeutung der Lernumgebung im Allgemeinen und des Literaturmuseums als Erfahrungs- und Denkraum im Besonderen vor und gehen auf die Wirkung museumsspezifischer Bildungselemente ein.
- Elke Düsing referiert Erkenntnisse des Kooperationsprojekts „Domino-Internetsoap“ zwischen dem Landestheater Detmold und der Universität Bielefeld mit verschiedenen Schülergruppen und zeigt, welche intermedialen Arbeits- und Lernprozesse geeignet sind, um ästhetisches Lernen zu initiieren: „Die vergleichende Analyse einzelner Szenen im Film und auf der Bühne soll helfen, die medial bedingten Differenzen herauszuarbeiten und die Überführung des semiotischen Zeichensystems des Films in das der Bühnenfassung (…) zu skizzieren.“ (S. 99)
Daran schließen sich drei Beiträge an, die ästhetische Erfahrungen im Kontext der Lehrerbildung beleuchten.
- Claudia Kukulenz, Simon Tewes und Cornelia Zierau fokussieren den schulischen Literaturunterricht als Ort der Kulturvermittlung aus Sicht von Lehramtsstudierenden im Rahmen des Projektseminars „Paderborn – Literarisches Leben an den (Pader-)Quellen“ und gelangen zu einem positiven Resümee: „Ästhetische Bildung wurde dabei für die Einzelnen greifbar und nicht nur die Lehramtsstudierenden erhielten wertvolle Anregungen, wie diese im weiteren Kontext der Schule vermittelbar ist.“ (S. 123)
- Claudia Vorst und Eva-Maria Dichtl beschreiben ein hochschuldidaktisches Modell, „welches Studierende mit ungewohnten ästhetisch komplexen Gegenständen konfrontiert, sie für Facetten der literarästhetischen Kompetenz von Grundschülern sensibilisiert (…) und ihnen ästhetische und didaktische Erfahrungen ermöglicht, welche sie im Kontext eines hochschuldidaktischen ‚Drehtür-Modells‘ in der hochschuleigenen Bilderbuchwerkstatt machen.“ (S. 125) Ausgehend von einem Theorie-Praxis-Problem, das in vielen Lehramtsstudiengängen anzutreffen ist – die Dichotomie von persönlichen Bildungserfahrungen angehender Lehrkräfte und der professionellen Sicht auf didaktische Prozesse und Medien –, vermittelt die Studie Einblicke in die Vermittlung von literarischen Kompetenzen durch Vorlesegespräche sowie deren Auswertung mittels Videografie- und Dokumentenanalysen, ferner via Interviews. Ein wesentliches Resultat lautet, „dass die Hochschuldidaktik in der Verantwortung steht, eine forschende Haltung der Studierenden anzubahnen“ (S. 142).
- Marina Iakushevichs Beitrag untersucht das Bildungspotential von Bilderbüchern für einen Sprachunterricht, der auf linguistischer Analyse und Expertise beruht: Der Erkenntnisschwerpunkt basiert auf dem Einsatz von Bilderbuchklassikern von Mario Ramos („Ich bin der Schönste im ganzen Land!“, 2009, und „Ich bin der Stärkste im ganzen Land!“, 2006) mit dem Fokus auf der „Kombination von phantastischen und komischen Elementen, die die symbolischen Wirkungsaspekte (…) mit unterhaltsamen Wirkungsaspekten (…) verbindet.“ (S. 162)
Die drei letzten Beiträge thematisieren nicht-intentionale Lernorte mit den Schwerpunkten Tanz, Schreiben und Theater.
- Verena Freytag und Inga Pohlmeier erfassen qualitativ Transformationsprozesse „eines Gedichts in Tanz“ (S. 169) im Rahmen eines Seminars für Lehramtsstudierende: „Die Studierenden hatten die Aufgabe literarische Texte (hier: Gedichte) in Bewegung zu übertragen.“ (S. 173) Mittels Fragebogenerhebung wurde die (letztlich positive) Wirkung des körperlichen Zugangs zu Gedichten untersucht.
- Sabine Grosser und Katharina Köller beschreiben die Seminare zum kreativen Schreiben an der Universität Paderborn und der Fachhochschule Kiel in den Jahren 2013 bis 2016, die vorrangig im Lern- und Handlungsort Museum stattfanden. Dieses Schreiben im Museum wurde durch die Methode des „Lauten Denkens“ und durch Reflexionsgespräche untersucht mit dem Ergebnis, dass sie ein „Modell des Schreibprozesses“ minutiös konstruieren können und in diesem Kontext ästhetisch-kulturelle Praktiken nachweisen.
- Katharina Gefele, Sabrina Wiescholek, Marguerite Windblut und Ilka Zänger stellen die Ergebnisse des performativen Theaterprojekts „Heldenmaterial 3.0“ vor. Das Ziel des Kooperationsprojektes von Theater und Universität Paderborn zielte auf die „Wirkung von theatralen ästhetischen Prozessen auf die Identitätsbildung“ (S. 207) von Kindern im Übergang von der Kita in die Grundschule. Ihr empirisch durch Interviews gewonnenes Ergebnis lautet, dass die „Kinder in Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Helden Teile ihres eigenen Selbstkonzepts objektiviert und der Selbstreflexion zugänglich gemacht haben.“ (S. 225)
Diskussion
Im Einleitungskapitel haben die drei Herausgeberinnen präzise den Fokus des Sammelbandes hervorgehoben: „Was sind ästhetische Erfahrungen? Wie lässt sich etwas derart Flüchtiges, der Subjektivität Verhaftetes empirisch fassen und in Bildungskontexten gezielt initiieren?“ (S. 13)
Alle Beiträge des Sammelbandes gehen methodisch versiert und wissenschaftlich äußerst fundiert vor, sodass der Band eine solide Anlaufstelle für weitere Forschungen zur kulturellen Bildung sein wird. Zugleich dokumentiert er das Voranschreiten der empirischen Untersuchungen in pädagogisch-didaktischen Kontexten, da die meisten Beiträge mittels Fragebögen oder Interviews qualitativ bzw. quantitativ orientiert sind.
Im Aufsatz von Sabine Grosser und Katharina Köller zum kreativen Schreiben nach der Erfahrung einer Begegnung mit Originaldokumenten bzw. Kunstwerken in Museen zeigt sich, dass auf diesem Weg sukzessive Instrumente erprobt und verifiziert werden, um „ästhetische Erfahrungen greifbar zu machen und durch die qualitative Auswertung (…) zu einem Modell zu generieren“ (S. 204).
Alle Aufsätze folgen einem klassischen Aufbau, welcher dem Charakter der Fallstudie bzw. der Projektbeschreibung und -auswertung angemessen ist. Die Literaturverzeichnisse sind auf dem neuesten Stand und eröffnen Zugänge für weitere, sicherlich lohnende Forschungsanstrengungen. Zahlreiche Abbildungen illustrieren die beschriebenen Sachverhalte und unterstützen den Gehalt der Aussage, sodass der Sammelband selbst – trotz aller wissenschaftlicher Seriosität und Akribie – die ästhetische Dimension des Lesens nicht aus dem Blick verliert.
Fazit
Der Sammelband zum Forschungskomplex „Ästhetische Erfahrungen“ und „Kulturelle Bildung“ bietet neben einer Diskursschärfung der Leitbegriffe neun Detailstudien zu Teilaspekten wie dem ästhetisch-kulturellen Potenzial von Aufsatzformen (u.a. dem materialgestützten Schreiben oder dem kreativen Schreiben) im schulischen Kontext, zur Rolle außerschulischer Lernorte sowie zur Bedeutung von Medien für kulturelle Lernprozesse (u.a. Bilderbücher, Bilder als Schreibimpulse). Die Detailstudien sind empirisch orientiert und stellen für Lehrende und Forschende in den Bereichen Pädagogik, Medien und Didaktik zahlreiche instruktive Erkenntnisse zur Verfügung. Als Impulsgeber für die kulturell-ästhetische Praxis und die Vermittlungsarbeit in Schulen, Hochschulen und außerschulischen Bildungsstätten ist der Band mit großem Nutzen zu konsultieren.
Rezension von
Dr. Torsten Mergen
Universität des Saarlandes, Fachrichtung 4.1
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