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Lotte Rose, Friedrich Schorb (Hrsg.): Fat-Studies in Deutschland

Rezensiert von Prof. Dr. Bettina Schmidt, 26.09.2017

Cover Lotte Rose, Friedrich Schorb (Hrsg.): Fat-Studies in Deutschland ISBN 978-3-7799-3464-6

Lotte Rose, Friedrich Schorb (Hrsg.): Fat-Studies in Deutschland. Hohes Körpergewicht zwischen Diskriminierung und Anerkennung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 228 Seiten. ISBN 978-3-7799-3464-6. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.

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Thema

In diesem Buch wird die vielfältige Lebenswelt dicker Menschen dargelegt, und zwar jenseits der üblichen Denkschablonen und Zielperspektiven, denen zufolge sich übergewichtige Menschen unbedingt in normalgewichtige Menschen wandeln sollen. Analog zu den international etablierten Fat Studies befasst sich dieser Sammelband aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und berufspraktischen Perspektiven mit den Ursachen und Folgen der Stigmatisierung von Menschen mit hohem Körpergewicht. Das Buch zeigt deutlich, dass trotz Gleichstellungsgesetz, Behindertenrechtskonvention und Inklusionsanstrengungen offenbar längst nicht alle Bevölkerungsgruppen frei von Diskriminierung und Benachteiligung leben können.

Herausgeberin und Herausgeber

Prof. Dr. Lotte Rose ist Professorin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt University of Applied Sciences, ihre Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. in den Bereichen Genderforschung und Pädagogik des Essens.

Dr. Friedrich Schorb ist am Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen tätig, seine Arbeitsschwerpunkte liegen u.a. im Bereich der gesundheitlichen Ungleichheit, insbesondere mit Fokus auf Ernährung und Adipositas.

Entstehungshintergrund

Der Sammelband wurde inspiriert durch die Entwicklung der Fat Studies im englischsprachigen Raum, die sich seit ca. 15 Jahren u.a. mit Fragen der Skandalisierung hochgewichtiger Körper, der Diskriminierung dicker Menschen, der Pathologisierung adipöser Kinder und Erwachsener und den Lebensweisen dicker Menschen beschäftigen. Vor diesem Hintergrund versammeln sich in diesem Sammelband AutorInnen aus dem deutschsprachigen Raum, die sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven (z.B. Medizin, Recht, Kunst) mit den Bedürfnissen und Bedarfen hochgewichtiger Menschen befassen.

Aufbau

Das Buch ist in vier Teilabschnitte gegliedert.

  1. Nach dem einführenden Kapitel zum Thema „Fat Studies“ werden im ersten Hauptabschnitt verschiedene Politiken beschrieben, die sich zum Auftrag gemacht haben, gegen Gewichtsdiskriminierung einzutreten.
  2. Der zweite Abschnitt befasst sich mit dem subjektiven Erleben hochgewichtiger Menschen, etwa mit Fragen zur Fremd- und Selbstwahrnehmung bzw. -stigmatisierung.
  3. Im dritten Abschnitt wird Dicksein in Kunst und Medien dargestellt, und
  4. der vierte Abschnitt untersucht das Dicksein unter der Perspektive der helfenden Berufe, etwa in der Wahrnehmung von Sozialer Arbeit oder den Gesundheitsberufen.

Abgeschlossen wird das Buch mit Informationen zu den 15 Autorinnen und dem einen Autor. Diese Differenz ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass rund zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland als übergewichtig gelten. Schon allein um herauszufinden, ob man nach dem Lesen des Buchs über diese Genderdifferenz weniger überrascht ist, lohnt die Lektüre.

Inhalt

Der Sammelband besteht aus 15 Kapiteln, die – abgesehen vom Einführungskapitel – vier übergeordneten Themenfeldern zugeordnet sind.

Das erste Kapitel „Fat Studies“ von Esther D. Rothblum im ersten Abschnitt „Politiken gegen Gewichtsdiskriminierung“ liefert einen überaus erhellenden Einblick in das Forschungs- und Handlungsfeld der Fat Studies, also derjenigen Aktivitäten, die sich weniger für das unterschiedliche Körpergewicht von Individuen oder Gruppen interessieren als dafür, wie Individuen und die Gesellschaft damit umgehen, dass Menschen unterschiedliches Köpergewicht aufweisen. Seit Ende der 1960er Jahre gibt es in den USA eine Size-Acceptance-Bewegung, die wie auch andere soziale Bewegungen, z.B. die Schwarzen- oder Schwulenbewegung, langsam nach Europa und Deutschland diffundierte. Die Bewegung verwehrt sich gegen strikte/schlanke Körpernormen und die implizite und explizite Diskriminierung z.B. am Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und in den Medien. Die interdisziplinär aktive Bewegung kämpft für die Akzeptanz hochgewichtiger Menschen als Teil menschlicher Diversität und gegen die Vorstellung, dass Dicksein Ausdruck persönlichen und moralischen Versagens sei.

Das folgende Kapitel „Dick ist kein Schimpfwort! Kollektive Strategien gegen Gewichtsdiskriminierung“ von Friedrich Schorb beschreibt das Diskriminierungsphänomen gegenüber Dicken und seine gesellschaftlichen Ursachen. Außerdem werden in diesem Kapitel die kollektiven Anstrengungen dargestellt, um sich gegen solche Diskriminierungen zu verwehren, etwa mittels dicker Kunst und Kultur, mittels Kampf gegen Diät- und Schlankheitswahn, mittels kontraintuitiver Gesundheitsforschung – überraschenderweise sind dicke Menschen gar nicht alle krank. Die Vielschichtigkeit des Themas wird gründlich beleuchtet, exemplarisch dargestellt wird z.B. die belastende Ambivalenz, mit der manche Size-Acceptance-AktivistInnen zwischen offensivem Dicksein und Diätversuchen balancieren.

Stephanie von Liebenstein stellt im vierten Kapitel „Dickenaktivismus in Deutschland“ die Entstehung und die Aktivitäten der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung e.V. (GgG) vor. Gestartet ist die GgG vor über zehn Jahren durch das Engagement weniger Ehrenamtlicher, und im Laufe der vergangenen Jahre hat die GgG substanziellen gesellschaftlichen Einfluss hinzugewonnen, z.B. weil sie erfolgreich gegen die gängige Rechtspraxis, übergewichtige Menschen nicht zu verbeamten gekämpft hat. Susanne Dern vertieft in ihrem Beitrag „Schutz vor (Über-)Gewichtsdiskriminierung – ein Thema im deutschen Recht?“ die rechtliche Perspektive auf Übergewicht. Der Beitrag beschäftigt sich mit Fragen der Diskriminierung im rechtlichen Sinne, die Autorin untersucht sowohl die deutsche als auch die europäische Gesetzeslage im Hinblick auf Diskriminierungsschutz.

Der zweite Abschnitt ist überschrieben mit „Wie (er)geht es Menschen mit hohem Körpergewicht?“. Zwei Beiträge werden hier subsummiert. Zunächst schreibt Claudia Luck-Sikorski über „Stigmatisierung und internalisiertes Stigma bei Adipositas. Interventionsmöglichkeiten“. Dargestellt wird, dass hochgewichtige Menschen zahlreichen Stigmatisierungserfahrungen von außen ausgesetzt sind, z.B. werden dicke Menschen kollektiv als faul und willensschwach abgestempelt. Damit einher geht die Gefahr, dass hochgewichtige Menschen solche externen Stigmata internalisieren, etwa indem sie in Grübel-Fallen tappen und dort schuld- und schamhaft ihre Unfähigkeit abzunehmen oder ihre Unwilligkeit zu körperlicher Bewegung reflektieren. Solche Teufelskreise gilt es zu durchbrechen, z.B. mit Hilfe von akzeptanzorientierten Interventionen, die allerdings nicht nur die Stigmatisierten, sondern auch die Stigmatisierer zu mehr Akzeptanz befähigen müssen.

Das zweite Kapitel „What´s wrong with beeing fat?“ von Eva Tolasch erörtert die Arrangements von Menschen mit hohem Körpergewicht in ihrer Lebenswelt, die in der Regel von deutlicher Dicken-Feindlichkeit geprägt ist. Diesem Beitrag zugrunde liegt eine qualitative Studie mit 37 hochgewichtigen Menschen. Die Studie zeigt, wie überaus differenziert das Erleben und Verhalten der Menschen changiert zwischen „Ich will gar nicht aussehen wie Barbie“ und „Ich esse eben gern“ bis hin zu „Mein Mann ist irgendwann aus dem Schlafzimmer ausgezogen und hat gesagt, dass ich erst abnehmen soll, und solange schläft er auf der Couch“.

Der dritte Abschnitt befasst sich mit der „Dickleibigkeit in Kunst und Medien“. Kristina Kulicova schreibt über „Fette Kunst“ und stellt u.a. fotographische Kunst, eine Tanzperformance und die Ausstellung „Fat Pig“ vor. Es sind Kunstereignisse, die sich dezidiert dem Dicksein widmen. Der Beitrag „Über die gesellschaftliche Undenkbarkeit von Fat Sex und die Lust am dicken Körper“ von Natalie Rosenke schildert anschaulich, wie undenkbar dicker lustvoller Sex offenbar für die Mehrheit der Gesellschaft zu sein scheint – dicker Sex wird z.B. im Kino fast ausschließlich in Form grotesken Klamauks inszeniert. Schon Kinder werden per Film, Funk und Fernsehen auf die Schlankheitsnorm eingeschworen, darum mussten Biene Maja und Bob der Baumeister nach und nach Gewicht verlieren. Das Kapitel „‘Dicke Körper‘ – eine Theaterproduktion über Körperbilder“ von Nora Graupner beschreibt Ziel und Inhalt eines Theaterstücks, das Frauen einen Raum öffnen will, in dem sie den gesellschaftlichen Anforderungen nach Maß und Mitte trotzen können.

Der vierte und letzte Abschnitt befasst sich mit „Dickleibigkeit in helfenden Berufen“. Es ist das umfangreichste Teilkapitel des Buchs und besteht aus fünf lesenswerten Beiträgen, die informative Einblicke in das Sozial- und Gesundheitssystem unter Dicken-Perspektive gewähren.

Paulina Schmitt und Lotte Rose schildern in ihrem Beitrag: „Wie spricht Soziale Arbeit über Übergewicht?“, wie Studierende der Sozialen Arbeit über das Thema Übergewicht kommunizieren. Erwartungsgemäß werden kaum dezidiert stigmatisierende Äußerungen getätigt, doch die grundlegende Akzeptanz der Studierenden gegenüber Diversity hat dann ihre Grenze, wenn das Körpergewicht zu hoch ist, wobei diffus bleibt, was „zu hoch“ ist. Implizit gehen alle Befragten davon aus, dass zu dicke Menschen einerseits krank und andererseits unglücklich sein müssen und um ihrer Gesundheit und ihres Glückes willen abnehmen sollten.

Katharina Avemann und Linda Kagerbauer schreiben über „Dicke Körper und Macht. Lookismus und Bodyismus in der Sozialen Arbeit“. Dieser Beitrag befasst sich mit Übergewicht unter neoliberaler Perspektive, unter der jeder seines Glückes Schmied ist und alle Menschen dazu aufgerufen werden, sich dem schlanken Leistungsträger-Ideal zu beugen. Aufgabe von Sozialer Arbeit ist es, diesem Ideal kritisch politisch entgegenzutreten und die dahinter liegenden Machtverhältnisse offenzulegen. Es gilt eine diskriminierungskritische Haltung einzunehmen und gesellschaftliche Räume zu vermehren, in denen kein Normierungsdruck, sondern Solidarität herrscht.

Katharina Schuckmann und Lotte Rose machen am Thema „Übergewicht als Thema der Jugendhilfe“ deutlich, wie in der beruflichen Praxis – hier am Beispiel des Allgemeinen Sozialen Dienstes – Fachkräfte eines Jugendamtes mit dem Thema Übergewicht umgehen, etwa in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe. Auch in diesem Beitrag zeigt sich eine zunächst akzeptanzorientierte Haltung gegenüber dicken Menschen, die jedoch Grenzen hat, wenn Betroffene „zu dick“ sind. Deutlich wird, dass SozialarbeiterInnen, obwohl geschult in Inklusion und Diversity, ab einem gewissen Grad an Übergewicht unhinterfragt dem gängigen Übergewichtsnarrativ folgen: „Der dicke Marvin muss auf Diät gesetzt werden!“.

Sabine Fischer debattiert in ihrem Beitrag „Gute Dicke – schlechte Dicke?“ die Tatsache, dass Gesundheitsprofis Unterschiede machen zwischen schlechten Dicken, die „selbstverschuldet“ (etikettiert mittels „fehlender Bereitschaft zur Lebensstiländerung“) dick sind und guten Dicken, die sich allen Forderungen der Profis therapietreu unterwerfen. Wer dick ist, hat gewisse Behandlungs-Erwartungen zu erfüllen: Er und sie sollten beständig um Gewichtsreduktion bemüht sein, sollten sich nicht über invasive Therapiemethoden beschweren etc. Wer diesen Erwartungen nicht genügt – und vor allem, wer kein Gewicht verliert –, gilt als enttäuschender Therapieversager. Alternative Therapieziele (z.B. gutes Körpergefühl, guter Gesundheitszustand, gute Lebensqualität) spielen im Grunde keine Rolle in den gängigen Behandlungsarrangements.

Christine Meyer erörtert in „Alternsprozesse zwischen erwartetem hohen Körpergewicht und drohender Unterversorgung“ u.a. die unterschiedlichen gesellschaftlichen Umgangsweisen mit Übergewicht in unterschiedlichen Lebenslagen. Auch wenn die Prävalenz des Übergewichts mit dem Alter steigt, steigt nicht in gleicher Weise die Problematisierung des hohen Körpergewichts. Im hohen Alter wird ein hoher BMI akzeptiert, und es ist zu wünschen, dass die geringere Dramatisierung des Übergewichts bzw. die größere Differenzierung der Chancen und Risiken von Übergewicht und Untergewicht im Alter auch für andere Altersgruppen modellhaft würde.

Diskussion

Das knapp 250 Seiten umfassende Buch ist unbedingt lesenswert, weil es vermutlich für alle LeserInnen einen deutlichen Erkenntniszugewinn bereithält. Obwohl ich die Debatte über Gewichtsdiskriminierung spätestens seit dem überaus interessanten Sammelband „Kreuzzug gegen Fette“ (Schmidt-Semisch & Schorb, 2008, VS/Springer) recht engagiert verfolge, hat das Buch „Fat Studies“ mir meine nichtsdestotrotz gravierenden Wissens- und Verstehenslücken aufgezeigt. Ich las dieses gut geschriebene Buch mit Vergnügen, und sicher wird jeder Leser und jede Leserin hier neue Informationen und neue Perspektiven auf Informationen finden, die allesamt erhebliches Aufklärungspotenzial bieten.

Fazit

Der Sammelband „Fat Studies“, den Lotte Rose und Friedrich Schorb herausgaben, leistet einen überaus aufschlussreichen Beitrag zur aktuellen Übergewichtsdebatte. Gegen den herrschenden Diskurs, demzufolge Übergewicht zwangsläufig mit Gesundheits- und Lebensqualitätseinbußen einhergeht, informiert das Buch in überzeugender Weise einerseits darüber, wie schädlich der herrschende Diskurs sein kann, und andererseits, wie unschädlich Übergewicht sein kann. Das Buch weitet in erhellender Weise den Blick auf das üblicherweise sehr schmal beleuchtete Thema Übergewicht und illustriert in überzeugender Weise seine tatsächliche Vielfältigkeit. Das Buch spannt einen weiten Bogen, es informiert u.a. über den internationalen Stand der Fat Studies und den Dickenaktivismus in Deutschland; es analysiert das Thema Übergewicht unter differenzierter Diskriminierungs- sowie ästhetischer Kunstperspektive; und es untersucht den Umgang der – nicht immer – helfenden Berufe mit hochgewichtigen Menschen.

Rezension von
Prof. Dr. Bettina Schmidt
Evangelische Hochschule Rheinland – Westfalen – Lippe; Professorin für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen
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Es gibt 3 Rezensionen von Bettina Schmidt.

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ISSN 2190-9245