Renate Gutmann: Professionelle Hilfe aus der Sicht von Müttern mit einer psychischen Erkrankung
Rezensiert von Deborah Metz, 13.10.2017

Renate Gutmann: Professionelle Hilfe aus der Sicht von Müttern mit einer psychischen Erkrankung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 284 Seiten. ISBN 978-3-7799-3602-2. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema
„Wenn es der Mutter gut geht, geht es der Familie gut.“ Mit dieser alten Weisheit beginnt Gutmann die Einleitung ihres Buches. Sie weist darauf hin, dass es vielen psychisch erkrankten Müttern jedoch nicht gut geht und sie mit einer Vielzahl an Problemlagen konfrontiert sind. Wenn Mütter ihre Rolle in der Familie nicht mehr in vollem Maße ausfüllen können, leiden darunter oftmals auch die Kinder. Daher ist es notwendig, dass betroffene Familien geeignete Unterstützungsmöglichkeiten erhalten. Bezugnehmend auf das zitierte Sprichwort ist hierbei für die Autorin der Ansatzpunkt zuallererst die Mutter.
Mütter mit einer psychischen Erkrankung befinden sich häufig in einer Zwickmühle von Unterstützung und Kontrolle. Sie machen sich Sorgen darum, dass ihre Erziehungsfähigkeit in Frage gestellt und ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen werden könnte. Daher meiden viele psychisch kranke Mütter professionelle Hilfen für sich und ihre Familien.
Eine gelingende Unterstützung für Familien mit einer psychisch erkrankten Mutter hängt daher maßgeblich von der Kommunikation der professionellen Hilfe und den betroffenen Müttern ab. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wie psychisch erkrankte Mütter die Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem erleben und deuten und welche Hinweise für eine gelingende Hilfe für Familien mit einer psychisch erkrankten Mutter sich aus diesen Erkenntnissen ergeben.
Gutmann beschränkt sich in ihrer Untersuchung auf psychisch erkrankte Mütter, weil mehr Mütter als Väter mit minderjährigen Kindern von einer psychischen Erkrankung betroffen sind. Außerdem leben von den betroffenen Müttern mehr mit ihren Kindern in einem Haushalt und haben keinen die Erziehung stabilisierenden Partner zur Seite.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Autorin ist Erziehungswissenschaftlerin und als Lehrbeauftragte an verschiedenen Fachhochschulen für Soziale Arbeit in der Schweiz tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Nutzerforschung, Methoden und Angebote der Sozialen Arbeit, Unterstützung von belasteten Familien und psychische Gesundheit.
Die vorliegende Arbeit wurde an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Dissertation eingereicht.
Aufbau und Inhalt
Das insgesamt 284 Seiten umfassende Werk ist in zehn Kapitel gegliedert.
Nach einer kurzen Einleitung zur Relevanz der Thematik werden im 2. Kapitel die theoretischen Grundlagen in drei Perspektiven auf Familien mit einem psychischen kranken Elternteil dargestellt (Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil, Elternschaft und psychische Erkrankung und Unterstützung von Familien mit einem psychisch kranken Elternteil durch das professionelle Hilfesystem). Anschließend wird die zentrale Fragestellung der Untersuchung formuliert: Wie deuten Mütter mit einer psychischen Erkrankung die Kommunikation mit den Vertretenden des professionellen Hilfesystems, unter spezieller Berücksichtigung der familiären Belastungen und der Beziehung zu ihren Kindern?
Daraus ergeben sich folgende Unterfragestellungen:
- Wie deuten Mütter mit einer psychischen Erkrankung ihre Belastungen und Problemlagen? Wie beurteilen sie ihre soziale Integration?
- Wie werden die Kinder im Kontext des professionellen Hilfesystems beschrieben? Welche Folgerungen lassen sich daraus im Hinblick auf die Mutter-Kind-Beziehung ziehen?
- Welche Strategien setzen die Mütter mit einer psychischen Erkrankung in der Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem ein? Welche Hoffnungen und welche Befürchtungen verbinden sie mit dem professionellen Hilfesystem? Wie werden die Unterstützungen, Maßnahmen und Reaktionen der Vertretenden des professionellen Hilfesystems gedeutet?
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, aus der Beantwortung der Fragestellung Hinweise für eine verbesserte Unterstützung von Familien mit einer psychisch erkrankten Mutter zu erhalten.
Im 3. Kapitel wird die Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand dargelegt und damit eine theoretische Rahmung der empirischen Untersuchung beschrieben.
Das 4. Kapitel gibt einen Überblick über die methodologische Verortung und den methodischen Zugang der Studie. Die vorliegende Untersuchung basiert auf elf Leitfadeninterviews mit psychisch erkrankten Müttern und wurde in den Jahren 2011 und 2012 in der Schweiz durchgeführt. Die Interviews wurden mit Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung ausgewertet. Dabei wurden in einem ersten Schritt das soziale Umfeld und die Belastungen der Mütter und ihrer Familien analysiert.
Im 5. Kapitel werden drei detaillierte Fallkonstruktionen als Ankerfälle dargestellt. Dabei werden jeweils individuelle Formen der Kommunikation von Nutzerinnen mit dem professionellen Hilfesystem herausgestellt. Die acht weiteren Fälle werden zusammenfassend beschrieben. Um ihre je eigenen Besonderheiten herauszuarbeiten, wurden alle elf Fälle zunächst fallimmanent ausgewertet. Das Herzstück der Arbeit bildet die Deutung der Kommunikation zwischen den psychisch erkrankten Müttern und den Professionellen aus der Sicht der Mütter. Die Ergebnisse der Untersuchung geben Aufschluss über die Sichtweisen von Müttern mit einer psychischen Erkrankung auf die Hilfeleistungen und Kontrollmechanismen des professionellen Hilfesystems.
Im 6. Kapitel werden alle Fälle aus der Logik übergreifender Perspektiven verglichen und diskutiert. In der kontrastierenden Analyse stellten sich insbesondere drei Dimensionen heraus, die die Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem aus Nutzerinnensicht beeinflussen. Es handelt sich dabei um das Vertrauen ins Hilfesystem, die Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten im Hilfesystem und die sozialen Netzwerke der Nutzerinnen. Neben den Voraussetzungen für eine gelingende Unterstützung wurde auch die Ebene der Kinder analysiert. Abschließend werden die Ergebnisse hinsichtlich dieser vier Aspekte zueinander in Beziehung gesetzt.
Aus den Erkenntnissen der kontrastierenden Analyse werden unterschiedliche Strategien im Umgang mit dem professionellen Hilfesystem herausgearbeitet und im 7. Kapitel in vier Nutzertypen zusammengefasst:
- Aktiv-gestaltende Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem
- Ambivalente Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem
- Passiv-dankbare Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem
- Passiv-orientierungslose Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem
Im Anschluss an die Darstellung der vier Nutzertypen wird der Einfluss der verschiedenen Nutzertypen auf die Kinder erörtert. Lediglich die Nutzerinnen des aktiv-gestaltenden Nutzertyps (in der vorliegenden Untersuchung zwei Fälle) verfügen über gute Möglichkeiten in den nutzenstrukturierenden Dimensionen Vertrauen, Orientierung und unterstützende soziale Netzwerke. Daher haben aktiv-gestaltende Nutzerinnen die besten Voraussetzungen für eine gelingende Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem und wurden in der vorliegenden Arbeit als Orientierungspunkt für eine kompetente Nutzung des Hilfesystems verwendet. Die anderen drei Nutzertypen zeigten jeweils Unterstützungsbedarf in einer oder mehreren nutzenstrukturierenden Dimensionen.
Im 8. Kapitel wird aufgezeigt, wie ambivalente, passiv-dankbare und passiv-orientierungslose Nutzerinnen zu einer aktiv-gestaltenden Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem befähigt werden können.
Darauf aufbauend werden im 9. Kapitel Konzepte für eine gelingende Kommunikation zwischen Nutzerinnen und professionellem Hilfesystem erläutert, die sowohl auf Organisations- und Netzwerks- als auch auf Interaktionsebene verortet sind. Es handelt sich dabei um Konzepte für einen gelingenden Beziehungsaufbau, Konzepte für eine gelingende Organisation des professionellen Hilfesystems und Orientierungshilfen, Konzepte der ressourcenorientierten, sozialen Netzwerkarbeit sowie Konzepte für die Unterstützung von Kindern aus Familien mit einem psychisch kranken Elternteil.
Abschließend wird im 10. Kapitel ein Fazit gezogen und einige weiterführende Gedanken skizziert.
Diskussion
Die Auswirkungen einer elterlichen Erkrankung auf die kindliche Entwicklung und das erhöhte Erkrankungsrisiko der Kinder wurden in den letzten Jahren in vielen Studien untersucht. Dabei wurden jedoch psychisch kranke Mütter, vor allem in Bezug auf ihre Elternschaft, bislang nicht ausreichend wahrgenommen. Obwohl viele Mutter mit einer psychischen Erkrankung dringend professionelle Hilfe benötigen, fällt es ihnen oft nicht leicht, entsprechende Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Gutmann gelingt es auf eindrucksvolle Weise, die unterschiedlichen Sichtweisen der Nutzerinnen auf die Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem anschaulich darzulegen und in einer kontrastierenden Analyse vergleichend gegenüberzustellen. Auch die anschließende Einteilung der Fälle in vier Nutzertypen erscheint für den Leser plausibel.
Viele Vertretende des professionellen Hilfesystems haben die Erwartung, dass betroffene Mütter das Hilfesystem aktiv und im Sinne der Vorgaben nutzen. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass die meisten psychisch erkrankten Mütter dazu jedoch nicht in der Lage sind. Daher ist eine zentrale Erkenntnis dieses Werkes, dass Professionelle, neben der Bearbeitung der jeweiligen Problemlagen, die Nutzerinnen zur einer kompetenten Nutzung des professionellen Hilfesystems befähigen sollten. Es wird deutlich, wie komplex sich die Kommunikation zwischen den Nutzerinnen und den Professionellen des Hilfesystems darstellt. Um den sich daraus ergebenden Herausforderungen adäquat begegnen zu können, bietet Gutmann einen kurzen Überblick über einige praktische und gut verwertbare Konzepte für eine gelingende Kommunikation zwischen Nutzerinnen und dem professionellen Hilfesystem. Diese bieten vor allem für die psychosoziale und psychiatrische Arbeit mit der o.g. Zielgruppe wertvolle Anregungen. Zukünftig wird es darum gehen, diese Konzepte zu optimieren sowie weitere Konzepte zu entwickeln, um betroffene Mütter zu einer aktiv-gestaltenden Kommunikation mit dem professionellen Hilfesystem zu befähigen.
In der vorliegenden Untersuchung wurden nur die Perspektiven von psychisch erkrankten Müttern, die Angebote des professionellen Hilfesystems in Anspruch nehmen, dargestellt. Darüber hinaus wäre es interessant gewesen, auch Mütter, die keine Hilfen in Anspruch nehmen (wollen), bezüglich ihrer Wahrnehmung der Dienstleistungen des Hilfesystems zu befragen, um daraus entsprechende Implikationen für die Praxis ableiten zu können. Zudem wäre es auch spannend zu sehen, ob sich bei der Analyse der Kommunikation von psychisch erkrankten Vätern mit dem professionellen Hilfesystem dieselben Nutzertypen (sowie eine ähnliche prozentuale Verteilung) herausbilden oder sich ganz andere Nutzertypen herauskristallisieren.
Fazit
Obwohl viele psychisch erkrankte Mütter einen großen Bedarf haben, haben sie häufig Schwierigkeiten, entsprechende Angebote des professionellen Hilfesystems für sich und ihre Familien in Anspruch zu nehmen. In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie betroffene Mütter die Kommunikation mit den Vertretenden des professionellen Hilfesystems wahrnehmen und deuten und welche Aspekte zu einem gelingenden Hilfeprozess beitragen. Aus diesen Erkenntnissen werden unterschiedliche Strategien im Umgang mit dem Hilfesystem herausgearbeitet und in vier Nutzertypen zusammengefasst. Darauf aufbauend werden praxisorientierte Maßnahmen für die Unterstützung von Familien mit einer psychisch kranken Mutter abgeleitet.
Insgesamt ist das vorliegende Werk gut verständlich geschrieben und zeichnet sich durch eine hohe Praxisrelevanz aus. Es richtet sich an all jene, die im psychosozialen oder psychiatrischen Bereich mit psychisch kranken Menschen und ihren Familien arbeiten. Es eignet sich ebenfalls für Professionelle aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, da sie häufig in Kontakt mit betroffenen Familien treten, noch bevor eine psychiatrische Diagnose gestellt wird.
Rezension von
Deborah Metz
Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin (M.A.), Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin i.A.
Mailformular
Es gibt 2 Rezensionen von Deborah Metz.
Zitiervorschlag
Deborah Metz. Rezension vom 13.10.2017 zu:
Renate Gutmann: Professionelle Hilfe aus der Sicht von Müttern mit einer psychischen Erkrankung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2017.
ISBN 978-3-7799-3602-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22713.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.