Freerk Huisken: Erziehung im Kapitalismus
Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, 31.05.2017

Freerk Huisken: Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten. VSA-Verlag (Hamburg) 2016. 469 Seiten. ISBN 978-3-89965-691-6. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
Bei dem Band handelt es sich um eine grundlegend überarbeitete Neuauflage des 1998 erschienenen und inzwischen als Klassiker einzustufenden Buches „Erziehung im Kapitalismus“. Die Überarbeitungen beziehen sich nicht nur auf einzelne Kapitel, in denen auf neue Herausforderungen des Bildungssystems eingegangen wird, sondern in der Hinzufügung neuer Themen, wie sie sich beispielsweise aus der Verarbeitung des PISA-Schocks oder der ADHS-Problematik ergeben.
Das Buch erhebt den Anspruch einer systematischen Darstellung aller Grundfehler der Erziehungswissenschaft (erster Teil) und einer Erklärung der kapitalistischen Volksbildung (zweiter Teil), die – so Huisken – nicht als Berufsberatung mißverstanden werden sollte, sondern sich als Kritik des bürgerlichen Schulwesens und seiner Zwecksetzungen versteht.
Aufbau
Auf der Verlagshomepage findet sich das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Zu Teil 1: Die Grundlügen der Pädagogik
Teil 1 des Buches hat die „Grundlügen der Pädagogik“ zum Gegenstand. Freerk Huisken geht dabei der Frage nach, warum die Pädagogik aus der Existenz von Erziehung eine bedingungslose Zustimmung zu dieser verfertigt. Aus dieser grundsätzlichen Parteinahme für Erziehung folgt, dass deren Programm sich aus dem Wesen des Menschen ergibt und ihren Maßstab darin hat, die gelungene Anpassung des Menschen an die gesellschaftlichen Erfordernisse (Normen) als dessen Entfaltung zu behaupten. Dabei werden gesellschaftliche Gewaltverhältnisse dem menschlichen Wesen ebenso zugesprochen wie gesellschaftliche Gegensätze als dem menschlichen Wesen entspringend idealisiert werden, um auf diese Weise dem „Mängelwesen“ Mensch eine umfassende Erziehungsbedürftigkeit zu attestieren.
In Teil B dieses Abschnitts des Buches werden die verschiedenen Abteilungen der Erziehungswissenschaft behandelt, beginnend mit den Erziehungszielen, an denen Huisken kritisiert, dass sie die Vernunft pädagogischer Ziele nicht an ihnen, sondern an ihrer Übereinstimmung mit demokratischen Normen messen. Diesen „Moralismus der konservativen Anpassung“ (S. 36) analysiert der Text an unterschiedlichen Zielsetzungen (Lebenstauglichkeit; Gottesfürchtigkeit; Wahrhaftigkeit) und der Autor kontrastiert ihn mit dem „pädagogischen Moralismus der fortschrittlichen Mündigkeit“, den er in Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Solidarität, Emanzipation, Selbstständigkeit untergliedert.
Der zweite Abschnitt dieses Buchteils thematisiert das Verhältnis von Erziehung und Individuum, wobei Grenzen und Möglichkeiten der Erziehbarkeit ausgelotet werden. Neben der Anlage-Umwelt Kontroverse ist hier von Begabung und Intelligenz die Rede und im 5. Kapitel wird das „Lernen“ einer systematischen Betrachtung unterzogen. Huisken lässt kein gutes Haar an der behavioristischen Lerntheorie, der er vorwirft, mit der Abstraktion Verhalten jeden Sinn und Zweck menschlichen Handelns zu tilgen und Lernen als Verhaltensänderung zu bestimmen, eine Definition, die von allen Inhalten des Lernens ebenso Abstand nimmt wie von der Leistung des Lernenden, sich ein bestimmtes Wissen anzueignen.
Abschnitt III des Buches befasst sich mit dem Thema Erziehung und Gesellschaft (Pädagogische Soziologie und Sozialisationstheorie).
Auch hier, so die fundamentale Kritik von Huisken, führt die Entdeckung der Gesellschaft nicht dazu, sich mit dieser und ihren jeweiligen Zwecksetzungen zu befassen, sondern sie dient dazu, Sozialisationsinstanzen zu kreieren, die allesamt ihre Funktion darin haben, Einfluss auf den zu Erziehenden auszuüben. Dies hat nicht nur theoretische Folgen, sondern mündet in einer neuen Sichtweise der Pädagogik auf schulische Selektionsresultate, die nun (auch) auf herkunftsbedingte Sozialisationsdefizite zurück geführt werden. In der schulkritischen Wendung wird dieser vorgeworfen als Sozialisationsinstanz zu versagen, weil sie vorschulische Defizite nicht ausgleicht, sondern bestätigt und verstärkt.
Im vierten Abschnitt widmet sich der Autor dem Thema Bildung und damit dem Lehrplan und seinem Bildungsinhalt. Dabei behandelt Freerk Huisken zunächst die Frage, warum die Lehrpläne und ihre staatliche Verantwortung prinzipiell skeptisch mit Bezug auf ihre Bildungsfunktion betrachtet werden und die Bildungstheorie von einer Transformation des „Stoffs“ in „Bildung“ spricht. Anhand des Konzepts der „kategorialen Bildung“ zeigt er, dass die dort angestrebte Vermittlung von „Grunderfahrungen“ in einer ideellen Überhöhung des Unterrichtsstoffs besteht, der diesem den Charakter eines „Kraftentfaltungsprogramms“ (S. 121) verleiht, allerdings nur dann, wenn die Bildungstheorie die entsprechenden Transformationsleistungen staatlicher Stoffe in Bildungsleistungen vollzogen hat. Auch hier – so das kritische Fazit – mündet die Bildungsleistung wieder in die wünschenswerten Moralismen und Gesinnungen, die in der staatlichen Lehrplanvorschrift schon verankert waren und vor deren stofflicher Unmittelbarkeit die Didaktik gewarnt hat.
Der Abschnitt V des Buches ist der Unterrichtstheorie und Methodenlehre gewidmet. Hier geht es Freerk Huisken darum, ein Urteil über den Unterricht zu kritisieren, dass diesen als eine Anhäufung von Schwierigkeiten für den unterrichtenden Lehrer charakterisiert. In den Bebilderungen dieser Darstellung des Unterrichts ist der Schüler immer ein „Faktor“, der den Unterricht erschwert oder auch unmöglich macht. Mit diesem Willen des Schülers als „Störung“ (S. 138) befasst sich die Pädagogik unter dem Stichwort „Methodik“ oder „Theorie der Erziehungsmittel“. Hier gibt es motivationstheoretische Bemühungen, die – so Huisken – darauf hinauslaufen, das generelle Lernen-Wollen zu lernen. Die Absehung von den bestimmten Interessen des Schülers blamiert sich regelmäßig in der Praxis des Unterrichts, so dass neben dem stummen Zwang der Noten weitere Motivationsstrategien ins Spiel kommen: Befehl und Gehorsam; Strafen und Loben; Frontalunterricht; Gruppenunterricht; Schüler- und handlungsorientierter Unterricht und dergleichen mehr.
Was leistet also die Pädagogik? Sie ist – so die entsprechenden Überschriften über die Einzelkapitel „unzuständig für die Erziehungspraxis“, „aber zuständig für die Einbildungen über die Praxis“. Im Fazit bedeutet das, dass die Pädagogik das theoretische Material dafür bereit stellt, dass der Gegensatz zwischen dem Schulzweck und dem Schüler als Dienst am Menschen, Dienst an der Gesellschaft fehlinterpretiert wird und jede Erziehungstat „als gut gemeinte Tat“ geadelt wird.
Zu Teil 2: Die Leistungen des bürgerlichen Schulwesens
Teil 2 des Buches befasst sich mit den Leistungen des bürgerlichen Schulwesens.
In Teil A wird die Schule als ein Instrument der Volksbildung vorgestellt, wobei zunächst das staatliche Ausbildungsmonopol, die daraus abgeleitete Schulpflicht und die Schulhoheit einer Analyse unterzogen werden. Die Volksbildung (Abschnitt II) zeichnet sich durch ein Wissen aus, in der alles, was es gibt, funktionell zur Kenntnis genommen wird. Dieses „Funktionswissen“ (S. 188) hat mit der Wahrheit über die Lebensumstände im Kapitalismus nichts zu tun. Das Denken hat sich vorausgesetzten Zwecken zu unterwerfen, statt diese zu prüfen und zu bestimmen. Huisken bezeichnet dies als geistigen Instrumentalismus, der als Wahrheit nur gelten lässt, was der Sicherung der Funktionstauglichkeit der Bürger dient (in einer Fußnote auf Seite 192 erläutert der Autor, warum jenseits einer unmittelbar praktischen Nützlichkeit das Wissen über das Funktionieren von Arbeitsmarkt, Grundeigentum und Lohnarbeit einen Nutzen hat: es liefert Gründe über gesellschaftliche Tatbestände und Gegensätze, die im Lehrplan der Volksbildung nicht vorgesehen und deren Konsequenzen nicht erwünscht sind).
Das heißt aber nicht, dass dieser Instrumentalismus nicht einer dauerhaften staatlichen Supervision unterliegen würde. Staatliche Korrekturen an der Volksbildung sind gang und gäbe und die Bildungsanstalten sind das Instrument für diese Korrekturen.
Dies führt über zu Abschnitt III, der sich mit der Volksbildung als „Bewährung im schulischen Leistungsvergleich“ befasst. Die staatliche Sorge um den Nachwuchs an Führungskräften findet über die Herstellung von Unterschieden ihre Verlaufsform, die mittels Leistungsanforderungen, die in einer vorgegebenen Zeit erfüllt werden müssen, produziert werden. Die leistungsgerechte Sortierung ist als Eigenleistung der Lernenden organisiert, die den Stoff eben schneller oder weniger schnell kapieren und die ihre Leistung im Vergleich zu Anderen erbringen. Die Leistung ist damit allein das Resultat des lernenden Subjekts. Hieraus leiten sich wiederum Debatten über ein gleiches Bildungsrecht für alle, über Chancengleichheit, über Leistungslernen ohne Zeitdiktat usw. ab, die an dem Tatbestand, dass Lehrer „ihr gesamtes Unterrichten darauf abstellen, dass Schüler scheitern“ (S. 213), nichts ändern. In der Leistungsmessung als Leistungsvergleich wird das Verfahren, dass Resultate individuellen Lernens immer nur im Vergleich zu Anderen zählen und es damit auf das persönlich Gelernte gar nicht ankommt, mehr als deutlich. Huisken fasst dies im dritten Kapitel dahingehend zusammen, dass in der Schulkonkurrenz für ein Leben in der Konkurrenz gelernt wird. Die von vornherein feststehende Sortierung des Schülervolks in Sieger und Verlierer beinhaltet – so der Autor – den Skandal kapitalistischer Gesellschaften, dass die Konkurrenz-Veranstaltung des Lernens nicht als Resultat von Menschen gemachter Zwecksetzungen, sondern als Phänomene, auf die man keinen Einfluss haben kann, wahrgenommen werden. Die Notengebung ist eine Abstraktion von der individuellen Leistung, Klassenarbeiten produzieren ein ganzes Spektrum von Wissenslücken und die Offenlegung der von der Schule hergestellten Unterschiede im Wissensstand müssen benotbar gemacht werden. So wird das Lernen ein permanenter Leistungstest, der schließlich im Zeugnis als Qualitätsurteil über die Schülerpersönlichkeit seinen Ausdruck findet.
Im Abschnitt IV wird die daraus folgende erziehungswissenschaftliche Problematisierung der Leistungen der Notengebung einer kritischen Betrachtung unterzogen, bevor in Abschnitt V die Volksbildung als Auslese und Ausschluss zugleich zum Thema gemacht wird.
Die Sortierung nach höherer und niedrigerer Bildung erfolgt nach den Bedarfen und Interessen des Schulträgers: dabei hängt von der bildungspolitisch begründeten Festsetzung einer Übergangsquote ab, bei welcher Durchschnittsnote sich die Wege der Schüler trennen. Was eine Gesamtnote für die weitere Schulkarriere bedeutet, steht erst dann fest, wenn von der Kultusbehörde entschieden ist, wie viele Schüler zum Gymnasium zugelassen werden sollen. Es ist offenkundig, dass diese Form der Auslese zum Ausschluss durch Leistungsvergleich führt. Diesem werden alle Schüler gleichermaßen unterworfen und gerade hierdurch – so Huisken – erweist sich der Klassencharakter des demokratischen Bildungswesens. Es sollte nicht verwundern, dass bei dieser Form von Chancengleichheit immer wieder davon die Rede ist, dass die Schüler aus Haushalten mit weniger „Lebenschancen“ zu den Ausgesonderten gehören, die mit dem Lernen für den Rest ihres Lebens Schluss machen.
Die Leistungen eines dreigliedrigen Schulsystems lassen sich in eine Schule für die Gewinner (Gymnasium), eine Schule für die Verlierer (Hauptschule) und eine Schule als reale Alternative für die Verlierer (Realschule) zusammen fassen. In einem ausführlichen Kapitel behandelt Huisken dabei auch aktuelle Tendenzen, unter dem Stichwort Inklusion bislang ausgesonderte Schüler in die Regelschule einzugliedern, ohne dass an den Gründen für die Ausgliederung irgendwelche Korrekturen vollzogen würden.
Die im Kapitel 3 thematisierte pädagogische Legitimation des Schulwesens ist dadurch bestimmt, dass Auslese und Ausschluss eine Begründung erhalten. Sei es dass unterschiedliche Begabungen für die Auslese verantwortlich gemacht werden, die Selektion mit der Hierarchie der Berufe begründet wird oder der Mangel an attraktiven Plätzen für die Ausgrenzung verantwortlich gemacht wird – in jeder Variante wird die im Schulwesen voraus gesetzte Dreigliedrigkeit als Angebot an „unterschiedliche Interessen“ gehandhabt, die letztendlich aus dem unerfreulichen Tatbestand des Verteilens eine Förderung in einem differenzierten Schulsystem machen.
Abschnitt VI befasst sich mit der Berufsausbildung, in der jedermann auf eine bestimmte funktionelle Berufstätigkeit vorbereitet wird. Das Interesse, das der Staat mit der Berufsausbildung verknüpft, besteht – so Huisken – in einem Dienst an der kapitalistisch begründeten Sorte gesellschaftlicher Arbeitsteilung, deren funktionellen Zusammenhang er per Berufsausbildung betreut. Dabei taugt die erlernte Berufsqualifikation nur etwas, wenn sie auch ausgeübt wird. Nur so fungiert sie als Geldquelle und ob dies klappt, hängt wiederum von der staatlichen oder privaten Nachfrage nach bestimmten Berufsqualifikationen ab.
Das duale System ist deshalb auch als „Berufsausbildung für die Verlierer“ (S. 283) bestimmt. Das duale Anliegen resultiert aus den Kollisionen zwischen dem allgemeinen Anliegen, der Gesamtheit der Anforderungen der Arbeitswelt gerecht zu werden und dem partikularen Bedürfnis, bestimmten Arbeitsplatzanforderungen zu genügen. Die Inhalte der beruflichen Ausbildung im dualen System entsprechen den Anforderungen des Berufs und sind dementsprechend „borniert“. Wer einfache Tätigkeiten auszuführen hat, der hat seinen Lebensberuf gefunden, die Berufsausbildung für die Elite qualifiziert für naturwissenschaftliche oder geisteswissenschaftliche Aufgaben, die in einer akademischen Karriere ihren Abschluss finden soll – skandalös ist es, wenn dies den Absolventen der Elite-Ausbildung nicht gelingt.
Der Abschnitt B dieses Buchteils, der sich den Lerninhalten widmet, ist ein systematischer Durchgang durch die einzelnen Fächer und den dort vermittelten Inhalten. In der Neuauflage des Buches ist dies um ein Kapitel III erweitert worden, in dem sich Huisken dem „Schulfach Glück“ widmet. Dieses seit einiger Zeit von Schulen als Hit propagierte Fach macht sich an der Gleichung Glück = viel Geld zu schaffen und möchte diese in Frage stellen. Der moralischen sinnstiftenden Botschaft, dass Glück und Sinn zueinander passen, wird bis in die Feier von Leidensfähigkeit hinein nachgegangen und man kann bei dieser Betrachtungsweise noch im Scheitern einen Sinn erkennen, der so etwas wie Glück vermittelt.
In Teil C wird die Disziplin als schulpraktisches Problem noch einmal aufgegriffen, nachdem sie in Teil 1 B VI schon einmal als theoretisches Problem abgehandelt wurde. Anwesenheit, Respekt vor der Autorität und geistige Präsenz sind hier ebenso Themen wie die Sanktionsmittel, die gegen Störungen eingesetzt werden und die dazu führen, dass das Disziplinarische zu einem neuen Feld für Schülerberechnungen wird.
In Kapitel III wird am Beispiel von AD(H)S analysiert, wie Disziplinlosigkeit zur Krankheit gemacht wird und mit der Verabreichung von Pillen auch eine erwünschte Aufmerksamkeit durchgesetzt werden soll.
Im Abschnitt D werden drei Bildungskatastrophen thematisiert und ihre reformerischen Konsequenzen betrachtet. Die erste Bildungskatastrophe (zu wenig Abiturienten), die zu einer breiten Bildungsdebatte führte, mündete in die Folgen der erfolgreichen Bewältigung der alten Bildungskatastrophe, die zu viele Abiturienten zum Gegenstand hatte. Diese neue Bildungskatastrophe störte sich an der Akademikerschwemme, die nicht zu entsprechenden Berufen führte, sondern durch den Arbeitsmarkt einer Korrektur „nach unten“ unterzogen wurde. Schulische Auslese und gesellschaftliche Verteilungsfunktion gingen immer getrenntere Wege und damit wurde die Illusion zerstört, dass mit der durch das Bildungswesen attestierten Zertifizierung auch zugleich der Erfolg in der Konkurrenz der Berufe erledig sei. Huisken behandelt die daraus resultierende „Lösung“, das zweigeteilte Bildungswesen, indem neben dem Gymnasium ein weiterer, praxisbezogener Weg in die berufliche Konkurrenz gefunden werden soll.
Die dritte Bildungskatastrophe stellt der PISA-Schock und seine Folgen dar. Freerk Huisken bescheinigt den PISA-Studien, den besonders selektiven Charakter des deutschen Bildungswesens mit seinen Folgewirkungen im PISA-Ranking aufgedeckt zu haben, ohne dass die Gründe hierfür bildungspolitisch eine Rolle spielen mussten. Indem die PISA-Studie zutreffend die Resultate des Sortierungsauftrags und -verfahrens wieder geben, dem sich das deutsche Schulwesen verpflichtet fühlt, nimmt das deutsche Schulwesen im Ranking den ihm gebührenden Platz ein. Dies führte dazu, dass das Schulsystem als Standortressource genauer unter die Lupe genommen und eine Verbesserung im Ranking erzielt werden sollte. Dies führte wiederum zu einer Diskussion um den Leistungsgedanken und seinen möglichen Verlust im Schulsystem, so dass nationale Bildungsstandards und eine veränderte Schulkonkurrenz auf die Agenda gesetzt wurden. Dies wird durch eine Testindustrie veranschaulicht, in der die Sortierung innerhalb der Schülerschaft durch eine Konkurrenz zwischen Schulen, Schulgemeinden und Ländern ergänzt wird und die Typisierung von Schulen als „gute“ oder „schlechte“ planmäßig inszeniert wird. G8 und Ganztagsschulen sind weitere Maßnahmen zu einer verbesserten Selektion zu kommen, ohne dass die „Schule als Selektionsanstalt“ (S. 426) eine prinzipielle Veränderung erfährt.
Der letzte Abschnitt (E) des Buches befasst sich mit Alternativschulen, wobei Freerk Huisken insbesondere die Waldorfschulen einer ausführlichen Analyse unterzieht.
Diskussion und Fazit
Die überarbeitete und erweiterte Neuausgabe der „Erziehung im Kapitalismus“ ist eine grundlegende, systematische und umfassende Analyse des Bildungswesen und seiner wissenschaftlichen Grundlagen. Das Buch lässt kein gutes Haar am Schulwesen und seinen wissenschaftlichen Protagonisten – und dies ist keiner Einseitigkeit des Argumentierens oder selektiven Wahrnehmung des Autors geschuldet, sondern ein begründetes Urteil, dass über 450 Seiten sämtliche Erscheinungsformen aufnimmt, um sie mit ihrem inneren Zweck zu konfrontieren. Dass dieser in der kapitalistischen Gesellschaft zu verorten ist, für die Erziehung mit all ihrem Aufwand veranstaltet wird, ist nicht überraschend – aufklärend ist aber die Analyse der Konsequenzen, mit der sich diese Zwecksetzung in die Pädagogik und ihre Praxis einschreibt.
Freerk Huisken hat mit diesem Buch einen Maßstab gesetzt, der die von ihm so bezeichnete „bürgerliche Pädagogik“ herausfordert und zur Auseinandersetzung provoziert. Das Buch ist eine vehemente Kritik des Monstrums Schulwesen, seiner Verlaufsform und Differenzierungen und es ist dabei zugleich ein umfassender Überblick über das, was dort gelernt und gelehrt wird. Es ist als Lektüre für alle im Bereich der Pädagogik Tätigen zu empfehlen und ist für Wissenschaftler und Praktiker gleichermaßen lesenswert. Der Rezensent, dem als Schüler eine chronische Mathematikschwäche attestiert wurde, hat von der Analyse des Buches überaus profitiert und kann es allen mit den Selektionsleistungen des Bildungssystems und ihren wissenschaftlichen Begründungen Befassten und Konfrontierten vorbehaltlos zur Lektüre empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor i.R. für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation am Fachbereich Sozialarbeit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum
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Es gibt 42 Rezensionen von Norbert Wohlfahrt.
Zitiervorschlag
Norbert Wohlfahrt. Rezension vom 31.05.2017 zu:
Freerk Huisken: Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten. VSA-Verlag
(Hamburg) 2016.
ISBN 978-3-89965-691-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22736.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.
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