Karen Glistrup: Sag mir die Wahrheit. Helfende Gespräche mit Kindern (...)
Rezensiert von Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle, 30.04.2018
Karen Glistrup: Sag mir die Wahrheit. Helfende Gespräche mit Kindern bei Krankheit oder Krise der Eltern. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2017. 273 Seiten. ISBN 978-3-407-86408-6. D: 18,95 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 26,80 sFr.
Autorin
Karen Glistrup lebt und arbeitet in Ry, Dänemark. Als Sozialarbeiterin, Einzel-, Paar- und Familientherapeutin hat sie über zwei Jahrzehnte hinweg psychisch kranke Menschen und deren Familien begleitet. Als Supervisorin, Beraterin und Dozentin hält sie Vorträge, gibt Weiterbildungen und berät Fachleute darin, wie sie unterstützende Beziehungen zu gefährdeten Kindern und deren Familien aufbauen können. Sie ist gemeinsam mit der Illustratorin Pia Olsen Autorin weiterer Bücher für die Arbeit mit Kindern (Glistrup & Olsen 2015a). Auf Deutsch ist erschienen: „Was ist bloß mit Mama los?“. (Glistrup 2014).
Thema und Hintergrund
Psychische Erkrankungen zählen heute zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre, dabei gehören Angst- und affektive Störungen sowie Suchtkrankheiten zu den häufigsten Erkrankungen. In Deutschland ist nach Angaben psychiatrischer Fachverbände ca. ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen; für die Schweiz wird von ca. 18 % psychisch mittel- und schwerbelasteten Personen ausgegangen, die potenziell unter einer psychischen Störung leiden (Schuler et al. 2016; Wassiliwizky 2018). Beachtlich ist dabei, dass nur etwa ein Fünftel der betroffenen Personen – das gilt für Deutschland – Kontakt zu behandelnden Einrichtungen aufnimmt (Wassiliwizky 2018). Diese Zahlen, auch wenn sie je nach Untersuchung doch stark differieren, weisen auf ein großes Ausmaß an unbehandeltem psychischem Leid hin.
Besonders für Kinder sind schwere psychische Krisen und psychische Krankheiten ihrer Eltern eine große Belastung. Sie sind problematischer als schwere körperliche Erkrankungen, denn sie treffen den Persönlichkeitskern der Eltern, verändern diese psychisch und sind so für die Kinder schwerer verarbeitbar. Zusätzlich schaffen Vernachlässigung, Gewalt oder Bindungsprobleme für die Kinder Mangel- und Verlusterfahrungen, Ängste, Scham- und Schuldgefühle, und diese sind wiederum Ausgangsbedingungen für Verhaltensstörungen und spätere psychische Störungen der Kinder.
Was die Behandlungskonzepte psychisch kranker Eltern betrifft, fokussierten psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionen viele Jahre primär auf die erkrankten Personen selbst. Kindern von psychisch erkrankten Eltern wurde nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, sie galten zu lange als die «vergessenen Kinder» (Gurny et al. 2007). Noch Mitte der 1990er Jahre, lange nach dem Boom der System- und Familientherapien, war das Thema noch kaum in der Fachöffentlichkeit präsent (Remschmidt & Mattejat 1994) und es ging Jahre, bis es die angemessene Aufmerksamkeit erhielt.
Die Versorgungssituation für die betroffenen Kinder hat sich seither verbessert. Das Bewusstsein für die Situation der Kinder ist gewachsen und heute steht ein breites Spektrum von Früherkennungs-, Präventions- und Behandlungskonzepten für Familien, Kinder und Kindergruppen zur Verfügung (Brockmann & Lenz; Lenz 2008, 2012, 2014; Lenz & Brockmann 2013; Schmoranz & Müller), zu deren ein offener, stützender und ressourcenorientierter Umgang mit der Krankheit der Eltern gegenüber den Kindern gehört.
Das Sprechen mit den Kindern über die psychische Erkrankung von Eltern scheint aber für Betroffene wie Fachkräfte nach wie vor eine große Herausforderung zu sein: Fehlannahmen, Scheu, Sprachlosigkeit oder die Angst, Kinder zu überfordern, hemmen das offene Gespräch und schaffen Tabus, Schweigen und Familiengeheimnisse. Hier setzt Karen Glistrup mit ihrem Buch an.
Auf der Basis des Ansatzes von Jesper Juul, Kinder als «gleichwürdige» Partner ernstzunehmen und ihnen die Wahrheit über ihre Eltern zuzutrauen und zuzumuten, sensibilisiert und instruiert Glistrup dazu, mit Kindern ins Gespräch über die Krankheit ihrer Eltern zu kommen und durch kindgemäße Offenheit zum Abbau kindlicher Ängste und Schuldgefühle und zur kindlichen Bewältigung und Resilienz in schwierigen familiären Situationen beizutragen – die Grundhaltung dazu nennt Glistrup im Klappentext: «Alles Verdrängte verliert an Schrecken, sobald es kindgerecht ausgesprochen ist».
Aufbau
Nach einem Vorwort von Jesper Juul führt das erste Kapitel «Was Kinder nicht wissen, tut ihnen weh» (der dänische Originaltitel) in gängige Vorurteile über Kinder ein, welche zu Lügen, Familiengeheimnissen und Stillschweigen über die Krankheit von Eltern führen. Glistrup erläutert ihre Grundhaltungen und Anliegen mit dem Buch. Danach folgen vier Teile.
Zu Teil I «Wir sind alle Teil des Ganzen»
Teil I «Wir sind alle Teil des Ganzen» macht das systemische und familienorientierte Verständnis von Glistrup deutlich. Zuerst geht sie auf «Die Welt der Kinder» ein – wie sie die Krankheit der Eltern wahrnehmen, wie sie ihr eine Bedeutung geben, im Chaos navigieren und sich zu schützen versuchen. Sie unterscheidet dabei drei Bewältigungsstrategien von Kindern:
- Die «unsichtbaren Kinder» wirken rein äußerlich unbeschwert und geben niemandem Anlass zur Sorge. Sie werden durch Lob, wie gut sie alles bewältigen, im Verleugnen bestärkt.
- Die «auffälligen Kinder» beschwören durch Wut, Provozieren und Unzufriedenheit viel Tadel herauf und erleben sich durch dauernd negatives Feedback mit der Zeit selbst als gestört.
- Die «resilienten Kinder» entwickeln besondere Fähigkeiten, im Umgang mit anderen Kindern, aber auch in der Schule, bleiben aber dennoch belastet.
«Wenn ein Familienmitglied krank oder überfordert ist», beschäftigt sich mit psychisch kranken Eltern und Geschwistern und dem Nicht-mehr-sich-selbst-sein, der Scham, Isolation und Selbstverachtung, die oft mit psychischen Erkrankungen einhergeht. Fallbeispiele beschreiben eindrücklich das Erleben der Betroffenen und die Auswirkungen der Krankheit. Weiter geht Glistrup auf die Situation des gesunden, häufig überforderten Elternteils ein, der selbst belastet ist, den Partner, die Partnerin und die Kinder stützen möchte und dabei doch selbst Unterstützung und Entlastung bräuchte. Die Beschreibung der Situation in Scheidungsfamilien beschließt diesen Teil.
«Die Familiendynamik» in betroffenen Familien weist häufig eingefahrene Rollenmuster wie Verkindlichung oder Parentifizierung auf und sehr häufig eine Dynamik des Verschweigens.
«Wenn zuhause woanders ist», mussten Kinder «fremdplatziert» oder «untergebracht» werden – schon die Ausdrücke missfallen Glistrup. Fremdplatzierte Kinder wissen oft nicht, wieso sie aus der Familie genommen wurden und das Nichtwissen von Kindern oder auch Fachkräften schafft die der Jugendhilfe bestens bekannten Schuldgefühle, Dilemmata und Loyalitätskonflikte von Eltern und Kindern zwischen Betreuungseinrichtung und Familie.
Im nächsten Abschnitt hinterfragt Glistrup die «Hilfe von Fachleuten», die trotz aller Bemühungen um guten Kinderschutz belastete Kinder zu oft im Stich lassen, weil wichtige Signale übersehen werden oder auf die falschen geachtet wird. Sie geht dabei auf die besonderen Situationen für Hebammen, Kitas, Schulen und schulpsychologische oder soziale Dienste ein. Ihre Hauptkritik ist dabei, dass viele involvierte Fachpersonen zwar mit ihresgleichen und mit Eltern gut kommunizieren, aber die Kinder viel zu lange darauf warten, das jemand mit ihnen spricht. Sie kritisiert die Akademisierung der sozialarbeiterischen Ausbildung und konstatiert, dass v.a. junge Fachkräfte der Sozialen Arbeit für Gespräche nur schlecht gerüstet seien und mit zunehmendem Wissen Berührungsängste einhergingen, die die es vielen Fachleuten erschwerten, Kindern in einer natürlichen und förderlichen Weise zu begegnen.
Das letzte Kapitel des ersten Teils geht dann auf die «Einbeziehung der Familie bei psychiatrischer Behandlung» ein und beschreibt dänische Erfahrungen und Konzepte zum Kontakt mit Kindern psychisch Kranker, zu Familiengesprächen und zur interprofessionellen Kooperation. Der Grundtenor ist auch hier Offenheit im Umgang mit Krankheit, stützend-klärende Haltung in Gesprächen und Ernstnehmen der Kinder als «kleine, aber vollwertige Angehörige».
Zu Teil II «Was Kinder stark macht»
Teil II des Buchs geht darauf ein, «Was Kinder stark macht». Er sei nur kurz resümiert. Glistrup skizziert ein Bild des «Social Brain» (Fink & Rosenzweig; Schmitt 2008), das sich durch das Lernen in Beziehung und Aktivität entwickelt. Sie geht auf die Bindungsforschung ein, betont die Bedeutung tragfähiger Bindungen und stellt Bezüge zu Antonovsky (1997) und dem Konzept der Salutogenese her: Besonders für Kinder psychisch kranker Eltern sei das bei Antonovsky zentrale Kohärenzgefühl wichtig. Und dieses entwickle sich vor allem dadurch, dass Kinder ihre familiäre Situation verstehen, ihr eine Bedeutung geben und etwas tun können. Weiter gibt sie einen Überblick über einige relevante neurobiologische Basics wie die Dreiteilung des menschlichen Gehirns (altes, mesolimbisches und Grosshirn) und das Phänomen der Spiegelneuronen, das psychische Krankheiten «ansteckend» macht. Anschließend skizziert sie erste Hilfen für Kinder, die sich mit gutem Gewissen schützen und die eigene innere Ruhe wieder herstellen können sollen, wenn sie bedroht ist.
«Kinder wollen Herausforderungen», davon ist Glistrup überzeugt und zeigt auf, wie aus «Curling-Kindern», denen man alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumt (oder eben vorenthält!), Kinder werden, die an angemessenen Herausforderungen wachsen und Widerstandskraft entwickeln. «Das Fundament für Vertrauen», um diese Herausforderungen zu meistern, sieht die Autorin darin, dass Kinder von den sie umgebenden Menschen
- als gesunde Kinder betrachtet, ernstgenommen und respektiert werden,
- über relevantes Wissen zur Situation verfügen,
- lernen, wie man sich abgrenzt und gelassen bleibt und
- warme zwischenmenschliche Begegnung erfahren.
Zu Teil III «Familiengespräche»
Teil III erläutert das Konzept der «Familiengespräche», dieser Teil gibt Anregungen und Hilfestellungen zu deren Durchführung.
«Familiengespräche ohne professionelle Begleitung» werden beschrieben als Institutionen der familiären Zufriedenheits-Vorsorge; Glistrup empfiehlt sie so regelmäßig wie den jährlichen Zahncheck oder die wiederkehrenden TÜV-Vorführungen des Familienfahrzeugs zu machen. Für Eltern gibt sie einige einfache Tipps, die bei den Gesprächen in Eigenregie helfen sollen. Sie geht auf Haltungsfragen (Respekt, Offenheit, Anerkennung, Fürsorge) ein und gibt umsetzbare Tipps zum Arrangement und der Durchführung diese Familiengespräche.
«Familiengespräche im therapeutischen Umfeld» beschreiben Glistrups Modell für die professionelle Arbeit mit Familien, sie startet mit den drei Perspektiven von Therapeuten, Eltern und Kindern auf Familiengespräche. Sie beschreibt das nötige Vertrauen als Basis, zeigt die Haltung gegenüber Kindern nochmals auf. Selbstkenntnis und persönlichen Eigenschaften Empathie, Courage und Gelassenheit gewichtet sie höher als das für sie eher fakultative Fachwissen.
«Wer sollte teilnehmen?» – das wird im nächsten Kapitel geklärt: Natürlich die Kinder (auch kleinere), die Eltern, wenn möglich beide, mindestens aber der gesunde Elternteil, sowie ggf. weitere Personen wie Groß- oder Pflegeeltern. Zwei Therapeuten (wie teils in der systemischen Familientherapie üblich) hält sie für unnötig, sie empfiehlt im Gegenteil, die Anzahl Erwachsener klein zu halten, um den Kindern die Öffnung zu erleichtern. Im Weiteren thematisiert sie Einzelgespräche von Therapeuten und Kindern.
«Was sind die Rahmenbedingungen?» Glistrup empfiehlt eine bewusste Wahl des Orts und Ambientes, einen Zeitrahmen von ca. einer Stunde und eine bewusst gestaltete Einladung, gegebenenfalls ein Vorgespräch, hier geht sie besonders auf den Umgang mit Vorbehalten der Eltern gegenüber Familiengesprächen ein. Einige Abklärungen im Vorfeld sollten vor dem Familiengespräch getroffen werden: Gegenseitige Information, Vorstellung und sich-vertraut-machen schaffen die Basis für das Gespräch, auch um zu klären, ob es für die Eltern No-go-Themen, Risiken oder Grenzen der «ganzen Wahrheit» im Gespräch gibt. Ebenso geht sie darauf ein, wie man die Kinder zum Gespräch bewegt.
Der folgende Teil beschreibt das Gespräch – die persönliche Vorbereitung der gesprächsführenden Fachperson, die zentrale Gelingensbedingung eines guten Kontakts und persönlicher Präsenz sowie eine Atmosphäre der Gastfreundschaft. Es folgt kein prototypischer Gesprächsverlauf, sondern eher lockere Empfehlungen zum Fragen, zum Aufbrechen von Tabus, zum Erklären der Krankheit der Eltern für die Kinder, dies erfolgt ausführlich mit Fallbeispielen und Formulierungsvorschlägen zu einzelnen Krankheitsbildern.
Im Kapitel «das Herz ist Ihr drittes Auge» sensibilisiert Glistrup für vor- und nichtsprachliche Wirkungen empathischen, nichtwertenden An- und Aussprechens schwieriger Erfahrungen der Kinder. Weiter leitet sie zur Entlastung der Kinder («Du bist normal, es ist nicht deine Schuld») und zur Thematisierung von Scham und Wut oder zum Umgang mit emotionalen Abspaltungen («sich selbst verlassen») bei den Kindern an. Wichtig ist ihr dabei, dass die Kinder zwar gesehen werden sollen, aber nicht quasi-therapeutisch in den Fokus gerückt werden.
Das Kapitel «Regeln und Grenzen der Kinder» gibt Empfehlungen zum Umgang mit Schweigen und Skepsis der Kinder, mit Klammern an die Eltern oder mit Loyalitätskonflikten der Kinder sowie mit der Aufarbeitung von Lügen oder Tabuisierungen der Eltern. Bezüglich der Atmosphäre im Gespräch legt Glistrup nahe, durch Hoffnung schöpfende Gedanken und kreativ-spielerische Elemente die Stimmung gut zu regulieren, sollte sie zu doch schwer werden.
«Die drei Säulen eines gelungenen Kontakts» (Vertrauen, Deutlichkeit und Aufmerksamkeit) werden nach diesen Ausführungen nochmals fokussiert und schließlich der Abschluss des Gesprächs mit einigen Anregungen beschrieben.
Zu Teil IV «Gruppen für Kinder und Jugendliche»
Teil IV stellt die Arbeit mit «Gruppen für Kinder und Jugendliche» vor, ich fasse die Beschreibung des Kapitels kurz: Glistrup orientiert sich in der Arbeit mit Kindergruppen am Konzept der sozialen Gruppenarbeit von Heap (1977) – die Eckdaten dieser Form von Gruppenarbeit seien nur kurz skizziert:
- Der institutionelle Kontext kann sehr verschieden sein, Psychiatrie/Kinder- und Jugendpsychiatrie, Beratungsstellen oder sozialpädagogische Einrichtungen.
- Die Leitung kann von (empfohlen: zwei) Fachkräften aus Psychiatrie, Psychotherapie oder Sozialer Arbeit übernommen werden; Glistrup findet auch für die Arbeit in Gruppen eher persönliche als fachliche Kompetenzen relevant.
- Die Kinder sollten grundsätzlich als gesund betrachtet, bzw. in ihrem gesunden Kern angesprochen werden, sie empfiehlt aber, Grenzen für ein allfälliges Maximalmaß persönlicher Belastetheit, sowie die Alters- und Geschlechtszusammensetzung der Gruppe zu klären.
- Die Ziele der Gruppenarbeit sollten klar im Bereich psychoedukativer Arbeit liegen: Die Kinder erleben in einer guten Atmosphäre Begegnung, Zuhören, Verstehen; sie erwerben Wissen zum Verstehen der Krankheit der Eltern und erfahren Unterstützung in der Abgrenzung und Selbstberuhigung; weiter erfahren sie Hilfe in der Bewältigung schwieriger familiärer Situationen.
- Die Gründe für die Gruppenarbeit sind eindeutig kindzentriert: Nicht die Beziehungen zwischen Leitern und Kindern stehen im Vordergrund, sondern die Begegnung der Kinder, die Reduktion von Einsamkeit, ihre gegenseitige soziale Unterstützung und ihr Kompetenzerleben sind im Fokus, die Arbeit ist eindeutig nichttherapeutisch konzipiert.
- Das Setting wird ausgeführt und es erfolgen Angaben zur Gruppengröße, zur Frequenz der Treffen und zu deren Gestaltung.
Im abschließenden Kapitel «Offenheit ist ansteckend», betont Glistrup nochmals ihr grundlegende Credo im Buch, sie resümiert einige Erfahrungen aus 15 Jahren ihrer Arbeit mit Familiengesprächen und appelliert ansteckend zu deren weiterer Verbreitung.
Ein kurzes Glossar erschließt für Laien die wichtigsten Fachbegriffe und das Literaturverzeichnis gibt vertiefendes Material. Angenehm für ein aus dem Dänischen übersetzten Buch ist, dass alle Quellen auf Deutsch verfügbar sind.
Diskussion
Das Buch beschreibt im Anschluss an die Arbeiten von Jesper Juul menschlich einfühlsam und theoretisch konsistent ein ermutigendes und Hoffnung machendes Bild von Kindern, denen viel mehr zugetraut werden darf, als viele Fachkräfte und Angehörige denken. Es fordert auf, sich mit eigenen Ängsten und Barrieren in der Arbeit mit Kindern auseinanderzusetzen und hat so ein großes Potenzial, Vorurteile und Befürchtungen zu Kindern zu revidieren und eine ermutigende Sicht von Kindern zu stärken.
Das Buch sensibilisiert einerseits für eine kindgemäße Haltung und gibt andererseits konkrete Anleitung nicht nur für Psychotherapeuten, sondern für alle Fachkräfte, die mit Kindern von psychisch kranken Eltern arbeiten, und ebenso für Laien. Es weist bedacht und mit der großen Erfahrung der Autorin auf Risiken hin, in die man auf diese Weise vorbereitet nicht ungebremst hineinläuft. So bereitet es Fachkräfte wie Angehörige sensibel, einfühlsam, persönlich und durch die vielen Fallbeispiele auch sehr anschaulich auf Gespräche mit Kindern vor. Teils sind die Ausführungen etwas redundant, man hätte einige Kapitel kürzen können, aber die Wiederholungen helfen, die ja nicht primär kognitiv-erwerbbaren haltungsbezogenen Elemente in verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen und sich auf sie einzulassen. Die gut verständliche und für die deutschsprachige Fachkultur sehr gut verständliche Übersetzung von Ulrike Brauns und Nora Pröfrock macht Freude und lässt ein genussvolles Lesen zu.
Ein einziger Kritikpunkt: Eine klarere Strukturierung und systematischere Aufbereitung von Gesprächsverläufen, -techniken und Arbeitsregeln würde Anfängern in dieser Form von Gesprächen helfen, sich die Gesprächsarbeit effizienter anzueignen – hier ist das Konzept von Glistrup sehr personzentriert – sehr viel Haltung – eher wenig Technik!
Ich habe das Buch mit großem Gewinn gelesen und fand meine persönliche Grundhaltung wie auch meine Erfahrungen zur Offenheit mit Kindern in schwierigen Lebenssituationen (gegenüber meinen eigenen wie auch Kindern in meinem Umfeld) sehr bestätigt:
Kindgemäße Offenheit mit und kindgemäßes Sprechen über psychische wie auch körperliche Erkrankungen lassen die «Monster der Krankheit», egal ob «der böse Knoten» vom Papa oder «die bösen Gedanken» von Mama wirklich schrumpfen – sie sind wie Herr Tur Tur in «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» von Michael Ende – «ein Scheinriese, der immer größer wird, je weiter er sich entfernt, und immer kleiner, je näher er kommt».
Fazit
Ein sehr empfehlenswertes Buch für alle, die mit Kindern von psychisch, aber auch schwerer körperlich erkrankten Eltern als psychosoziale Fachkräfte arbeiten oder in deren persönlichem Umfeld leben.
Literatur
- Antonovsky, Aaron & Franke, Alexa (1997). Salutogenese: zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT.
- Brockmann, Eva & Lenz, Albert (2016). Schüler mit psychisch kranken Eltern: Auswirkungen und Unterstützungsmöglichkeiten im schulischen Kontext. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Ende, Michael/Tripp, Franz Josef/Weber, Mathias (2015). Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Stuttgart: Thienemann.
- Fink, Helmut & Rosenzweig, Rainer (Hg.). (2015). Das soziale Gehirn: Neurowissenschaft und menschliche Bindung Münster: Mentis.
- Glistrup, Karen (2014). Was ist bloss mit Mama los? Wenn Eltern in seelische Krisen geraten – mit Kindern über Angst, Depression, Stress und Trauma sprechen. München: Kösel.
- Glistrup, Karen & Olsen, Pia (2015a). Indeni mig … og i de andre (dt.: In mir … und in den anderen: Ein Buch über Kinder und Gefühle). Kopenhagen: Gyldendal.
- Glistrup, Karen & Olsen, Pia (2015b). Far, mor... og børn – en bog om liv i famliien (dt.: Vater, Mutter … und Kinder: Ein Buch über das Leben in Familien). Kopenhagen: Gyldendal.
- Gurny, Ruth/Cassée, Kitty/Gavez, Silvia/Los, Barbara/Baumeister, Barbara & Albermann, Kurt (2007). Vergessene Kinder? Kinder psychisch kranker Eltern: Winterthurer Studie. Zürich: ZHAW. URL: www.zhaw.ch/. Zugriff am 10.04.2018.
- Heap, Ken (1977). Group theory for social workers an introduction. Oxford: Pergamon Press.
- Lenz, Albert (2008). Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern Grundlagen, Diagnostik und therapeutische Massnahmen. Göttingen: Hogrefe.
- Lenz, Albert (2012). Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
- Lenz, Albert (2014). Kinder psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe.
- Lenz, Albert & Brockmann, Eva (2013). Kinder psychisch kranker Eltern stärken Informationen für Eltern, Erzieher und Lehrer. Göttingen: Hogrefe.
- Remschmidt, Helmut & Mattejat, Fritz (1994). Kinder psychotischer Eltern mit einer Anleitung zur Beratung von Eltern mit einer psychotischen Erkrankung. Göttingen Bern etc.: Hogrefe.
- Schmitt, Thomas (2008). Das soziale Gehirn eine Einführung in die Neurobiologie für psychosoziale Berufe. Bonn: Psychiatrie-Verlag.
- Schmoranz, Martin & Müller, Julia (2016). Gruppenarbeit mit Kindern psychisch erkrankter Eltern. Freiburg/B.: Lambertus.
- Schuler, Daniela/Tuch, Alexandre/Buscher, Nathalie & Camenzind, Paul (2016). Psychische Gesundheit in der Schweiz: Monitoring 2016. Neuchâtel: Schweiz. Gesundheitsobservatorium.
- Wassiliwizky, Michael (2018). Aktuelle Zahlen und Fakten der Psychiatrie und Psychotherapie. Berlin: DGPPN. URL: www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html. Zugriff am 10.04.2018.
Rezension von
Dr. rer. soc. Wolfgang Widulle
Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten/Schweiz
Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement
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Zitiervorschlag
Wolfgang Widulle. Rezension vom 30.04.2018 zu:
Karen Glistrup: Sag mir die Wahrheit. Helfende Gespräche mit Kindern bei Krankheit oder Krise der Eltern. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2017.
ISBN 978-3-407-86408-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22738.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.
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