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Miriam Meuth (Hrsg.): Wohn-Räume und pädagogische Orte

Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 11.07.2017

Cover Miriam Meuth (Hrsg.): Wohn-Räume und pädagogische Orte ISBN 978-3-658-15804-0

Miriam Meuth (Hrsg.): Wohn-Räume und pädagogische Orte. Erziehungswissenschaftliche Zugänge zum Wohnen. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2017. 311 Seiten. ISBN 978-3-658-15804-0. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, 16.

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Thema

Die Wohnung ist zum zentralen gesellschaftlichen Ort geworden, der Privatheit und Öffentlichkeit voneinander scheidet. Wohnen ist eine zentrale Voraussetzung für sozialräumliche Integration; wer keine Wohnung hat, kann sich auch nicht sozial verorten, weiß vielleicht auch nicht, wo er hingehört. Die Wohnung und ihr Umfeld sind für Kinder wichtige soziale Räume, die ihre Entwicklung prägen und auch bestimmen. Wir kennen privilegierte und benachteiligte Quartiere und wir wissen, wie man dort jeweils wohnt und können Rückschlüsse auf das Leben und Aufwachsen ziehen.

  • Was aber bedeutet Wohnen in institutionellen Kontexten, in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in Wohnheimen oder in Altersheimen?
  • Gelten dort die gleichen Maßstäbe, die wir an das Wohnen in einer privaten Wohnung anlegen, wo die Wohnungstür quasi zur Grenze zum öffentlichen Raum verstanden werden kann?
  • Und messen wir dem Wohnen in solchen Einrichtungen die gleiche Bedeutung bei, die wir der Wohnung und ihrer Funktion als Schutzraum gegen Zugriffe von Staat und Gesellschaft beimessen?

Herausgeberin

Miriam Meuth ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kompetenzzentrum Soziale Räume am Institut für Soziale Arbeit der Fachhochschule St. Gallen.

Autorinnen und Autoren

Das Verzeichnis der Autorinnen und Autoren enthält lediglich die Namen und die jeweiligen Dienst- oder Wohnorte.

Aufbau und Inhalt

Das Buch enthält zwölf Beiträge, die im Folgenden vorgestellt werden.

Zu: Wohnen – Gegenstand pädagogischer Praktiken, erziehungswissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung (Miriam Meuth)

In ihrem Beitrag, der wohl als Einleitung und Hinführung zum Thema durch die Herausgeberin verstanden werden darf, entfaltet M. Meuth den Gegenstand dieses Bandes und gibt einen kurzen Überblick über die einzelnen Beiträge. Darin bedauert sie zunächst, dass trotz der Problematisierung öffentlicher Erziehungseinrichtungen – zu denken ist an die Heimkampagne Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts – die Erziehungswissenschaft die entsprechenden Wohnformen weder analytisch noch theoretisch als Formen des Wohnen aufgegriffen hat.

Was aber macht Wohnen (sozial)pädagogisch und damit theoretisch für die Erziehungswissenschaften interessant? fragt die Autorin. Es ist nicht so, dass das Thema Wohnen in der erziehungswissenschaftlichen Literatur nicht vorkäme. Es wird unter dem Aspekt der Wohnungsnot und des mangelnden Zugangs zu Wohnungsmärkten thematisiert; es taucht auch als Nebenprodukt in empirischen Forschungen auf, wenn es sich nicht vermeiden lässt, das Wohnen von Jugendlichen oder anderen Gruppen mit einzubeziehen; die Heimkampagne drehte sich um die das selbstbestimmte Wohnen als Voraussetzung für Inklusion und schließlich findet man in der Literatur unterschiedliche inhaltliche Ausrichtungen des Themas, die die Autorin in den folgenden zehn Punkten zu systematisieren versucht.

  1. Wohnen im Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit
  2. Unterkunft statt Wohnung bzw. Aufenthalt statt Wohnen
  3. Paradoxien professionellen Handelns am Wohn-Ort
  4. Wohnen als Teil der Biographie von Adressat/innen
  5. Wohnen als Gegenstand sozialrechtlicher Regellungen
  6. Wohnen als Gegenstand (sozialpolitischer) Zugangs und Verteilungsfragen
  7. Das Phänomen Wohnen im Zuge pädagogisch-fachlicher Konzepte
  8. Kritik an einer pädagogisierenden Perspektive auf Wohnen
  9. Wohnbezogene pädagogische Orts und Raumgestaltung
  10. Idee eines „idealen“ (Wohn-)Orts der Erziehung

Diese zehn Punkte werden ausführlich entfaltet, mit Literatur unterlegt und begründet.

Weiter geht die Autorin auf das Konzept des pädagogisch institutionellen Wohnens ein, das das Phänomen des Wohnens im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement konzeptionell begründen soll. Sie setzt sich dann mit dem Wohn-Setting, dem heterotopen Wohnen und den totalen Institutionen auseinander und diskutiert die gängigen Konzepte und deren Begründungen. Zum Schluss stellt sie den Band und seine Beiträge kurz vor.

Zu: Wege der Wohn-Forschung – Leben an Orten (Jürgen Hasse)

Im Mittelpunkt des Interesses des Autors steht der phänomenologische Zugang zum Wohnen als Ausdruck situierten Lebens im Spiegel des gelebten Raums und der gelebten Zeit. Es geht zunächst um den Begriff und die soziale Wirklichkeit des Wohnens, weiter um Formen des institutionalisierten Wohnens und um das Wohnen in Einrichtungen wie Seemannsheimen und Haftanstalten.

Die phänomenologische Annäherung wird am Beispiel von Martin Heidegger, Otto Friedrich Bollnow und Hermann Schmitz versucht. Wohnen ist bei Heidegger eher eine Sache des Denkens und Lebens. Der Raum hat zunächst keine grundsätzliche Bedeutung. Anders bei Hermann Schmitz, der Wohnen mit Umfriedung identifiziert; der Raumfriede gilt als Raum innerhalb der Bewohner sich bewegt. Wir kennen den Haus- oder Dorffrieden, das Haus und das Dorf als begrenzte Friedensbezirke. Wohnen bedeutet indes bei Otto F. Bollnow die räumliche Verortung des Menschen in seinem Haus, seiner Wohnung und seinem Wohnumfeld. Dies wird für alle Autoren ausführlich erörtert und begründet.

Weiter geht es um andere Räume – um Heterotopien, um Räume und Orte die nicht nur anders sind, sondern auch nicht „passen“. An diesen Orten verläuft die Zeit anders und die sozialen Beziehungen sind anders als in den Räumen außerhalb von ihnen. Der sachlich-thematische Zusammenhang, warum sie anders sind, folgt einer anderen Begründung. Das Gefängnis als Resozialisierungsort ist z.B. insofern ein Widerspruch, als dass dort nicht auf „draußen“ vorbereitet werden kann, weil „draußen“ anders ist. Der Autor beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit dem Protagonisten der Heterotopien, Michael Foucault. Dann zeichnet der Autor Bilder situierten Wohnens ausführlich nach, wie das Wohnen in Seemannsheimen und das Wohnen im Gefängnis.

Zu: Soziale Arbeit und Wohnen: Gefangen in einer funktional-industriekapitalistischen Raumordnung und darüber hinaus blind für Praktiken pädagogischer Ortsgestaltung? Eine sozialgeographische Spurensuche (Christian Reutlinger)

Der Autor setzt sich zunächst mit den Positionen auseinander, die Soziale Arbeit einnimmt, wenn Wohnen thematisiert wird. Wohnen ist demnach eine menschliche Angelegenheit. Über den Schutz vor den Unbillen der Natur hinaus, bildet die Wohnung auch eine Möglichkeit lokaler Verortung, die Einbettung in lokale Lebenszusammenhänge. Wohnen ist also auch immer ein soziales Wohnen. Dies macht der Autor an einer Reihe von Autorinnen und Autoren fest.

Die Rolle der Sozialen Arbeit bei der Bearbeitung von Wohnungsfragen, Wohnungsproblemen und dem Wohnen als sozialer Tatbestand ist dabei völlig ungeklärt. Selbst bei der Klientel der Sozialen Arbeit ist die Frage randständigen Wohnens oder das Wohnen in deprivierten Verhältnissen nicht immer klar.

Der Autor möchte in seinem Beitrag vor dem Hintergrund dieser Diskussion mit seinem sozialgeographischen Selbstverständnis nach dem Verhältnis von Sozialräumlichkeit, Wohnen und Sozialer Arbeit fragen, und das in zwei Richtungen.

  • Einmal geht es um den historischen Blick auf das Wohnen in der Stadt im 19. Jahrhundert, also um das Wohnen in den sich entwickelnden industriellen Ballungszentren im Zuge industrieller Verstädterung.
  • Zum anderen geht es dem Autor um das Verhältnis von Wohnen und Sozialer Arbeit, das nicht ohne den Bezug auf die historische Verortung gesellschaftlicher Leitvorstellungen und Raumvorstellungen in einer industrie-kapitalistisch verfassten Bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts möglich ist.

Zunächst ist es die funktionale Trennung von Arbeit und Wohnen und der Wohnung als Ort der Nicht-Arbeit. Dann geht es um das Wohnen in der Kleinfamilie mit zwei Generationen und der Auflösung des Hauses als Einheit von Leben und Arbeiten. Dabei werden andere Personen aus dem Haushalt auch ausgeschlossen, weil sie keine Funktion mehr haben und der Begriff der Familie löst den Begriff des Ganzen Hauses ab.

Weiter geht es Reutlinger um das für die Großstadt typische Spannungsverhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, womit die Wohnung ein Ort der Intimität wird. Der Autor diskutiert dann Probleme sozialräumlicher Entmischung der Wohnorte mit negativen Folgen sozialräumlicher Segregation.

Nach einer ausführlichen Diskussion dieser Dimensionen fragt der Autor in einem Zwischenfazit, wie Integration durch Wohnen gelingen kann, bevor er zum zweiten Teil seines Beitrags kommt, der nach der Erziehung durch Wohnen fragt. Was bedeutet es, in lokale Lebenszusammenhänge kommunaler Gemeinschaftlichkeit und Nachbarschaften verortet zu sein, also dort jeweils Anerkennung und Zugehörigkeit zu erfahren, zu wissen, dass man für andere von Bedeutung ist und Vertrauen in die unmittelbaren Kommunikations- und Beziehungsstrukturen im Rahmen sozialräumlicher Kontexte zu haben? Dabei stellt er ein Projekt gemeinschaftlichen Wohnens in Zürich Kalkbreite vor. Liegt die Lösung in der lokalen Gemeinschaft? In der Stadt sicher nicht! Der Autor geht kritisch mit der Entkoppelung von Sozialem und Räumlichen um und exemplifiziert dies an der Nachbarschaft. Die Nachbarschaft ist keine lokale Gemeinschaft wie wir sie vom Dorf her kennen. Die vom Autor aufgeführten Kritikpunkte teilt auch der Stadtsoziologe!

Zum Schluss geht der Autor auf die Rolle der Sozialen Arbeit beim Wohnen ein. Kann man Wohnen lernen und verlernen und braucht es der Sozialen Arbeit, um Wohnen (wieder) zu lernen? Ist der soziale Wohnungsbau auf Grund seines Attributs „sozial“ bereits ein Ansatzpunkt, wo Soziale Arbeit tätig werden könnte? Und welche Rolle könnte Soziale Arbeit als Akteur dort spielen? Diese Fragen berühren Reutlinger, wenn er die Erziehungs- und Disziplinierungsfunktion und die sozialpolitische Rolle des Wohnens anspricht und kritisch bedenkt.

Zu: Theoretische Perspektiven auf Wohnen: Ein mehrdimensionales Wohnverständnis in erziehungswissenschaftlicher Absicht (Miriam Meuth)

Es geht um Wohnen in begleiteten Einrichtungen für junge Erwachsene, in denen gleichzeitig auch Erziehung stattfindet; es geht um Wohnen und seiner Einbettung in ein wohlfahrtstaatliches Arrangement. Im Fokus steht die Frage, welche Bedeutung das Phänomen Wohnen für die jungen Erwachsenen in solchen Einrichtungen hat. Die Autorin setzt sich zunächst mit interdisziplinären Zugängen zum Phänomen Wohnen auseinander, diskutiert wohnsoziologische und philosophisch-phänomenologische Annäherungen ausführlich und kommt dann zum Wohnen aus einer raum(re)produktionstheoretischen Perspektive. Der Wohnraum wird zu einem sozialen Raum. Sie erörtert dabei die Räumlichkeit der Wohneinrichtungen, das Wohnen als ein gesellschaftlich konstituiertes Phänomen, um (Status)Positionen und Raum(re)produktion und Materialität und um Produktion und Reproduktion räumlicher Praktiken.

Weiter diskutiert die Autorin Grenzen und Ausblendungen der verschiedenen erörterten theoretischen Zugänge zum Wohnen, um dann ein heuristisches Modell eines mehrdimensionalen Wohnverständnisses zu entwickeln. Die Dimensionen des Wohnens sind demnach die Wohnbeschaffenheit (physisch materielle Dimension), der Haushalt (sozialstrukturelle Dimension), das Zuhause (emotional-kognitive Dimension) und die Wohn-Tätigkeit (Handlungsdimension). Diese Dimensionen werden ausführlich erläutert.

Zum Schluss diskutiert die Autorin die Konsequenzen des Modells für die Forschung.

  • Der heuristische Stellenwert des Modells ist hervorzuheben.
  • Nicht alle Dimensionen des Phänomens Wohnen werden in jeder Forschung vorkommen.
  • Mehrdimensionalität bedeutet auch, dass nicht nur Perspektiven einer Akteursgruppe berücksichtigt wird.
  • Eine Differenzierung des Wohnens ist mit dem Modell möglich; es geht nicht nur um die Reduktion auf ein Zuhause als emotional-kognitive Dimension, sondern um Unterbringung und Aufenthalt.

Zu: Die stationäre Mutter-Kind-Einrichtung als pädagogisch institutionalisierter Wohnraum (Anna Hontschik, Marion Ott)

Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Wohnen im Rahmen einer Leistung der Kinder- und Jugendhilfe nach § 19 SGB VIII. Im Fokus stehen stationäre Mutter-/Vater-Kind-Einrichtungen. Die Autorinnen wollen deutlich machen, wie Wohnen, als Leistung in ihrer Doppelfunktion von Wohnen und Betreuung organisiert ist und für pädagogische Zwecke eingesetzt wird. Dazu wird diese Einrichtung in ihrer Komplexität der Leistungen auch in ihren gesetzlichen Rahmen vorgestellt und analysiert, bevor die Autorinnen dann zu theoretisch-analytischen Perspektiven kommen. Dabei wird zunächst auf den Begriff der sozialstaatlichen Institution „Schwäche & Fürsorge“ zurückgegriffen, um deutlich zu machen, dass mit der Kategorisierung „Schwäche & Fürsorge“ auch eine Diskreditierung verbunden ist und institutionalisiert wird. In Rekurs auf das Modell von Meuth in diesem Buch wird die Mehrdimensionalität des Wohnens für diese hier untersuchte Einrichtung betrachtet. Dabei stellt sich die Frage, ob beim institutionalisierten Wohnen mit Kind Wohnen auch Gegenstand der pädagogischen Betreuung ist und inwiefern der Wohnraum ein Zugang für die pädagogische Einflussnahme ist.

Nach der ausführlichen Erörterung dieser Fragen geht es den Autorinnen um die Relevanz des Wohnraums bei der „Verselbständigung“ und „Kindeswohlsicherung“. Die allmähliche Hinführung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung bedeutet eigentlich allmählicher Rückzug aus dem Wohnraum und zu einer von Raumsouveränität. Diese Raumsouveränität muss im Spannungsfeld von Eigenständigkeit und „Kindeswohl“ sichergestellt werden können. Was in diesem Zusammenhang dann auch Verantwortlichkeit heißen kann, wird anschließend diskutiert. Dabei geht es um Deutungskonflikte. Das wird auch an Hand einiger Beispiele exemplifiziert. Zum Schluss werden dann noch Wirkungen individualisierender Problemzuschreibungen erörtert, die sich aus diesen Deutungskonflikten zwangsläufig ergeben müssen.

Zu: Fremdplatziertes Wohnen – Zwischen Möglichkeiten und Widersprüchen. Kindliche Perspektiven auf Aufwachsen am anderen Ort im Vergleich (Tanja Corleis, Samuel Keller)

Corleis und Keller machen einleitend zunächst ein theoretisches und analytisches Defizit aus, das trotz Anmahnungen immer noch besteht. Sie nähern sich dann dem fremdplatzierten Wohnen begrifflich an, um dann zu fragen, was Kinder und Jugendliche an pädagogischen Wohnorten machen, wenn sie dort fremdplatziert sind. Eignen sie sich den Wohnraum an? Diese Frage wird im Rückgriff auf die Protagonisten des Aneignungshandelns bearbeitet. Erwächst daraus nicht auch ein Widerspruch? Kann man sich Räume aneignen, in denen man sich als Fremder bewegt (Adoptivfamilie) oder bewegen muss (Heim). Dieser Fragen werden im Folgenden ausführlich diskutiert, um dann zu sozialpädagogisch hilfreichen Instrumenten zu kommen, die es ermöglichen, dem Raum eine Bedeutung abzugewinnen und Orte zu identifizieren, die Möglichkeiten der Aneignung bieten.

Auf der Basis von Forschungen kann gezeigt werden, wie Kindern über das Fotografieren einen Blick für das Wohnen und die Dinge bekommen und wie Wohnorte zu Orten des Zusammenseins, der Intimität und des Vertrauens werden. Es wird aber auch deutlich, wie widersprüchlich fremdplatziertes Wohnen als ein Wohnen an einem anderen Ort ist, wie aber auch Ermöglichungsräume geschaffen werden können.

Zu: Familienähnliche Hilfen zur Erziehung. Zur spezifischen Institutionalisierung des Privaten in pädagogischen Wohnräumen (Fabian Kessl)

Hilfen zur Erziehung sind der Kernbereich der Kinder- und Jugendhilfe. Das führt zunächst einleitend Kessl aus, bevor er zur „familialisierten“ Hilfe zur Erziehung kommt und die Institutionalisierung des Privaten in sozialpädagogischen Settings diskutiert. Das Private ist vom Öffentlichen getrennt und steht in einem spezifischen Spannungsverhältnis zum Öffentlichen. Gleichzeitig ist die Hilfe zur Erziehung im Rahmen öffentlicher Erziehung zu verstehen und die Privatheit der öffentlichen Einrichtung ist von der Privatheit der Herkunftsfamilie getrennt. Das Heim ist Schutzraum vor dem öffentlichen Zugriff und dennoch öffentlich. Das Private der Heimgruppe soll eine Wohnform bieten, die auch das Private einschließt. Und gibt es Türschwellen, die die Trennung der beiden Bereiche deutlich machen und auch Hindernisse darstellen können? An Beispielen verdeutlicht der Autor, wie Türschwellen nach Außen und ins Innere wirken. Diese Wirkungen werden an Hand von Interviewsequenzen sehr ausführlich erörtert.

In seinem Ausblick fragt Kessl, wie angemessen das Konzept „pädagogische Wohnräume“ ist. Mit dem Konzept des institutionalisierten pädagogischen Wohnens rückt eine systematische Bestimmung in den Vordergrund der erziehungswissenschaftlichen Diskurse über Wohnen in öffentlichen Einrichtungen.

Zu: Artefakte als empirischer Zugang zur Erforschung von Wohnräumen der stationären Erziehungshilfe (Patricia Keitsch, Marie-Theres Pooch)

Ausgehend von dem kritischen Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit bei der Analyse von Wohnräumen der stationären Erziehungshilfe schlagen Keitsch und Pooch zur Erforschung diese Wohnräume vor, die materiell-räumlichen Aspekte von untersuchten sozialen Welten in der Wohnforschung stärker zu berücksichtigen. Grundlage ist eine Studie, in der der Frage nachgegangen wurde, wie dicht zwei Außenwohngruppen der stationären Jugendhilfe derselben Einrichtung beschrieben werden können.

Zunächst wurden die strukturellen Bedingungen des Wohnraums stationärer Außenwohngruppen beschrieben und analysiert. Dabei spielt die Organisationskultur der Einrichtung eine entscheidende Rolle und der materielle Wohnraum sowohl der Mitarbeiter/innen als auch der Jugendlichen ist Ausdruck dieser Organisationskultur. Dies wird entfaltet, um dann Artefakte als empirische Schlüssel zur Organisationskultur zu beschreiben. Artefakte sind soziale Konstruktionen und stützen sich auf eine soziale Produktion. Die Bedeutung des Schreibtischs in seiner Funktion etwa als Esstisch wäre z.B. ein solches Artefakt. Die Autorinnen gehen dann auf die Erhebung und Analyse der Artefakte ein, bevor sie auf die beiden Außenwohngruppen kommen. Diese beiden Wohngruppen werden ausführlich beschrieben und analysiert. Sie plädieren für die Artefaktanalyse in der Wohnforschung, weil sie die Sensibilität für den materiellen Wohnraum betont.

Zu: WOHNgruppe – Durchgangspassage vs. Daheim-Sein (Katharina Mangold, Angela Rein)

Die Autorinnen befassen sich mit der Frage, wie das Phänomen Wohnen aus der Sicht ehemaliger Bewohner/innen der stationären Jugendhilfe betrachtet wird. Ihre These ist dabei, dass anhand von biographischen Interviews unterschiedliche Konstruktionen von Wohnen rekonstruiert werden können und auf diese Weise zur pädagogischen Gestaltung des Wohnorts Wohngruppe beitragen können. Zunächst wird das Wohnen in der Wohngruppe als Ort erfasst und diskutiert. Danach geht es um die Frage, wie Wohnen empirisch festgemacht werden kann. Dies wird an Hand einer Studie diskutiert, die auf das Wohnsetting stationärer Jugendhilfeeinrichtungen fokussiert ist. Weiter wird auf zehn biographische Erzählungen von Menschen zurückgegriffen, die in einer Wohngruppe oder Heimeinrichtung aufgewachsen sind.

Das Wohnen in der Wohngruppe wird von den interviewten Menschen als Abweichung erlebt, als Abweichung von den Peers, die in einer Familie aufwachsen oder die in anderen Institutionen untergebracht sind. Die Wohngruppe konstituiert zugleich verregelte Beziehungen; die Wohngruppe wird auch als Durchgangsbeziehung wahrgenommen, sie bietet aber auch Sicherheit und Halt und sie schafft eine Wohnkultur zwischen Zugehörigkeit, Anders-sein-wollen und zu-Anderen-gemacht-werden. Das Fazit ist die Forderung nach einer Entpädagogisierung des Heimalltags und das Ermöglichen von Wohnen in der Wohngruppe als normales Arrangement selbständiger Individuen.

Zu: Zur bürokratischen Überformung der Subjekte. Wohnen in der stationären Alten- und Behindertenhilfe (Hendrik Trescher)

Was bedeutet Leben im Kontext kognitiver Beeinträchtigung? Das ist die zentrale Fragestellung dieses Beitrags. Der Autor führt zunächst zum Thema hin, indem er auf das Ausmaß und die Art dieser Beeinträchtigungen verweist und Zahlen nennt, die deutlich machen, wie viele Menschen inzwischen durch Demenz und geistiger Behinderung in stationären Einrichtungen untergebracht sind. Dann erläutert er das grundlegende Verständnis von Wohnen und geht auf das Wohnen in totalen Institutionen ein. Als in sich geschlossene Einrichtungen tragen sie in der Tat den Charakter totaler Institutionen weil „ihr allumfassender oder totaler Charakter…durch Beeinträchtigungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie der Freizügigkeit [symbolisiert wird]“ (Goffman). Der Autor klärt den Begriff der kognitiven Beeinträchtigung und kommt dann zum Leben im Wohnheim. Das Leben in institutionalisierten Kontexten ist durch Überwachung und Regulierung gekennzeichnet, was auch zu Objektivierungspraktiken führt. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind Versorgungsobjekte, denen damit auch das Subjekthafte ihrer Existenz abgesprochen wird. Weiter kommt es zur Infantilisierung der Patienten. Momente des Glücks nennt der Autor das Gefühl der Bewohnerinnen und Bewohner, wertschätzende und freundliche Begegnungen mit den Mitarbeiter/innen gehabt zu haben.

Eine bürokratische Überformung des Subjekts erkennt der Autor in der Praxis der Feststellung des Behinderungsgrades oder der Pflegestufe und der medizinischen Ausrichtung der Beurteilung dieser Fakten.

Zu: Multiprofessionalität und Wohn-Raum. Vorarbeiten zu einer komparativen (Berufs-)Gruppenforschung in der Sozialen Welt Altenheim (Nikolaus Meyer, Dana Steinberg, Günter Burkart)

Einleitend geht die Autorengruppe auf die Charakterisierung der totalen Institution ein, wie sie Goffman beschrieben hat. Danach fragt die Gruppe, ob die institutionell geprägten Kontexte wie Alten- und Pflegeheime totale Institutionen sind oder Züge solcher Institutionen tragen. Das Bild totaler Institutionen wird dabei gesellschaftlich reproduziert und auf Alten- und Pflegeheime übertragen und dementsprechend reagieren die Bewohner/innen auf dieses Bild. Sie fühlen sich als Teil einer totalen Institution, auch wenn Selbständigkeit, Teilhabe und Lebensqualität gefördert werden.

Weiter beschäftigt sich die Autorengruppe mit dem Altenheim als „soziale Welt“ in Anlehnung an Strauss. Soziale Welten sind demnach Räume, die zeitlich befristete Formen von Vergemeinschaftung bieten. Dementsprechend sind sie auch störanfällig und ambivalent, bedarf es doch für die Konstituierung von Gemeinschaft eines längeren und dauerhaften lokal gebundenen Lebenszusammenhangs. Dies wird ausführlich entfaltet und diskutiert. Wie also gelingt Wohnen in den sozialen Welten der stationären Altenhilfe? Die Autorengruppe diskutiert zunächst die im Altenheim dominierenden Wohndimensionen wie die materiellen Raumausstattungen, wie sie auch durch Gesetze und Verordnungen vorgeschrieben sind.

Sie stellen dann die Ergebnisse einer empirischen Forschung vor, die sich auf die Statusgruppen der Bewohnerinnen und Bewohner, des Sozialdienstes und der Pflege beziehen. Diese Ergebnisse lassen neuere Erkenntnisse zum Wohnen zu, die sich mit dem Modell von Meuth differenziert begründen lassen.

Zu: Die „häusliche Umgebung“ als Wohnraum und Setting. Konflikte um Raumsouveränität in der ambulant-aufsuchenden Palliativversorgung (Falko Müller)

Der Autor befasst sich in seinem Beitrag mit der aufsuchenden Sterbebegleitung, die es schwerstkranken Menschen ermöglichen soll, in ihrer vertrauten Umgebung zu Hause ihr Leben zu beschließen. Die leistungsrechtlichen Grundlagen einer palliativen Versorgung am Wohnort durch Hausbesuche, wie sie als Rechtsanspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung geschaffen wurde, sind der ideale Rahmen einer solchen Art der Sterbebegleitung. Dies führt der Autor einleitend aus, bevor er die gesellschaftspolitischen Begründungszusammenhänge diskutiert. Was etwa ist eine häusliche Umgebung? Diese und andere Fragen werden vor dem Hintergrund der gesetzlichen und versicherungsrechtlichen Regelungen diskutiert.

Weiter stellt sich die Frage, wie das Setting häuslicher Palliativversorgung durch Hausbesuche als zentrale Praxisform aussehen soll. Dies wird auf der Basis einschlägiger empirischer Studien und Analyse gründlich erörtert. Der Autor kommt dann zu einigen empirischen Einsichten. Einmal geht um Konflikte um Raumsouveränität und zum anderen geht es um Deutungsansprüche über den Möglichkeitsraum würdigen Sterbens. Dies wird auch mit Zitaten aus Interviews unterlegt. Schließlich diskutiert der Autor den Eingriffscharakter aufsuchender Versorgung und die Widersprüche institutionell organisierten Sterbens zu Hause.

Diskussion

Wohnen in institutionellen Kontexten ist ein Thema, das nicht nur die Soziale Arbeit und die Sozialpädagogik betrifft. Die theoretischen Entwürfe und Ansätze betreffen auch ein Raumsoziologie, eine Wohnsoziologie und eine Kultursoziologie, die sich mit dem Wohnen als gesellschaftlicher Praxis und der Wohnung als einem gesellschaftlichen Ort auseinandersetzen. Kern der Analyse ist das Private im Verhältnis zum Öffentlichen, die Auseinandersetzung des Privaten mit der Öffentlichkeit, dem öffentlichen Raum. Die Wohnung als Schutz und Refugium gegenüber den Ansprüchen, Erwartungen, Widersprüchen, Ambivalenzen und Spannungen, die der öffentliche Raum allemal erzeugt.

Das ist die eine Dimension der Auseinandersetzung. Die andere Dimension, die den Kern der Beiträge ausmacht, ist mit der Frage verbunden, wie privat Wohnen in öffentlichen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Alten- und Behindertenhilfe sein kann, wie privat Wohnen unter den Bedingungen öffentlicher Ansprüche, Erwartungen und Regelungen sein kann.

Auch wenn es hier um erziehungswissenschaftliche Zugänge zum Wohnen geht, wird auch deutlich, dass diese Zugänge nur interdisziplinär erschossen werden können. Sicher hat die Erziehungswissenschaft ein spezifisches Interesse, wenn Wohnorte auch pädagogische Orte sind oder sein sollen. Aber in einigen Beiträgen wird dieses Interesse auch verlassen, wenn es nicht mehr um Erziehung gehen kann und trotzdem um Fragen der Abgrenzung öffentlicher Kontrolle und Versorgung gegenüber privaten Freiheiten. Gerade diese Beiträge machen deutlich, dass wir uns auch mit gesellschaftstheoretischen und -ethischen Fragen des Schutzes der Schwachen als Subjekte als Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft vor dem verobjektivierenden institutionellen Anspruch eines Wohlfahrtsstaates beschäftigen müssen.

Fazit

Das Buch ist eine Bereicherung der Debatte um Wohnen im Kontext öffentlicher Einrichtungen. Es problematisiert das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit als konstitutives Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Hintergrund öffentlicher Erziehung und des öffentlich-institutionellen Eingriffs in das Private. Die Beträge bieten auch Ansätze für eine Weiterentwicklung der theoretischen Ansätze und Entwürfe, die vor allem die Soziale Arbeit und die Sozialpädagogik interessieren sollte.

Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em. Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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Zitiervorschlag
Detlef Baum. Rezension vom 11.07.2017 zu: Miriam Meuth (Hrsg.): Wohn-Räume und pädagogische Orte. Erziehungswissenschaftliche Zugänge zum Wohnen. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2017. ISBN 978-3-658-15804-0. Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, 16. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22741.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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