Markus Gerber, Uwe Pühse: Sport, Migration und soziale Integration
Rezensiert von Dr. Daniel Schönert, 27.12.2017
Markus Gerber, Uwe Pühse: Sport, Migration und soziale Integration. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2017. 280 Seiten. ISBN 978-3-03777-153-2. D: 29,00 EUR, A: 29,00 EUR, CH: 38,00 sFr.
Thema
Die soziale Integration von Menschen mit Migrationshintergrund stellt eines der dringlichsten gesellschaftlichen Herausforderungen dar und ist obendrein im Zuge der aktuellen Flüchtlingskrise ein brisantes Thema. Nicht verwunderlich, dass sich auch unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen mit dieser Thematik und den damit einhergehenden Problematiken, Phänomenen und Begrifflichkeiten beschäftigen.
Das Potenzial des Sports – als soziales Handlungsfeld – wird in dieser Debatte, im wissenschaftlichen wie im öffentlichen Raum, kaum beachtet. Dies ist verwunderlich, zumal hinlänglich bekannt ist, dass der Sport als gesellschaftliches Teilsystem, eine wichtige Rolle im Integrationsprozess von bestimmten Gruppen, oder auch ganz allgemein für die Gesellschaft, einnimmt. Die Autoren dieses Buches widmen sich dem Themenkomplex – Sport, Migration und Integration – und überprüfen auf empirischem Wege die Integrationsmöglichkeiten von Migranten durch den Sport. In der sogenannten SSINC-Studie (Sport and Social Inclusion) wurden hierzu Schweizer Schülerinnen und Schüler in den Fokus genommen. Dabei will die Studie der Frage nachgehen, ob sportliche Aktivität zur sozialen Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund beiträgt und ob sich Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund in Abhängigkeit von ihrem Geschlecht hinsichtlich ihrer Sportantizipation, ihren Einstellungen zum Sport und ihren im Sport erlebten Erfahrungen unterscheiden.
Autoren
Prof. Dr. Markus Gerber ist Leiter der Abteilung Sport und Psychosoziale Gesundheit am Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit (DSBG) der Universität Basel. Der Einfluss von Bewegung und Sport auf die psychosoziale Gesundheit bei Jugendlichen und Erwachsenen ist eines seiner zentralen Themen.
Prof. Dr. Uwe Pühse leitet den Bereich Sportwissenschaft am Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit (DSBG) der Universität Basel. Sein besonderes Interesse gilt den sozialen und speziell den sozialintegrativen Funktionen des Sports und des Sportunterrichts.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch liefert nach der Veröffentlichung von Teilergebnissen der empirischen SSINC-Studie in Einzelpublikationen nun eine Gesamtschau der Studie zur Bedeutung des Sports für die Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Aufbau
Mit dem Vorwort (S. 7-10) und der Einführung (S. 11-14) enthält das Buch, welches insgesamt 262 Seiten umfasst, 14 weitere Kapitel, dich sich in vier Teile gruppieren lassen.
- Soziokultureller Kontext der SSINC-Studie (Kapitel 1 bis 3)
- Theoretischer Hintergrund (Kapitel 4 bis 8)
- Zur Basler SSINC-Studie – ein Mixes Method-Projekt (Kapitel 9 bis 13)
- Zusammenfassung, Diskussion und Ausblick (Kapitel 14)
Zu Teil 1
Das erste Kapitel (S. 17-28) liefert einen Überblick über demografische Entwicklungen und Veränderungen der Bevölkerungszusammensetzung in der Schweiz infolge von Migration. Dabei wird der Reihe nach (a.) Migration als zunehmendes und globales Phänomen, (b.) die Berücksichtigung ethnischer Minderheiten, (c.) die Migrationsbewegung weltweit, in Europa und in der Schweiz, (d.) die Phasen der Migration in der Schweiz sowie (e.) der Wandel der Schweizer Bevölkerungsstruktur näher beleuchtet.
Das zweite Kapitel (S. 29-50) beschäftigt sich mit der Frage der Möglichkeit der Integration von Migranten durch Sport vor dem Hintergrund nationaler Migrations- und Integrationspolitik. In diesem Rahmen werden Maßnahmen des Landes vorgestellt – sowohl verschiedene öffentliche Behörden auf nationaler Ebene, zivilgesellschaftliche Institutionen als auch die Kantone und Städte sind für die Integration zuständig -, welche die Integration von Migranten in der Schweiz erleichtern sollen.
Kapitel drei (S. 51-68) thematisiert die Problematik und das Ungleichgewicht des Landes zwischen der einheimischen Bevölkerung und ethnischen Minderheiten, die im Sinne der sozialen Integration seitens des Staates reduziert oder möglichst beseitigt werden sollen. Anschließend wird auf diejenigen Problemfelder eingegangen, in denen in der Schweiz Handlungsbedarf besteht: in der sogenannten „Islam-Debatte“, der Sprache, der schulischen Bildung, der Berufsausbildung, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Sicherheit und im Gesundheitsbereich. Im weiteren Verlauf des Kapitels ergeben sich Anhaltspunkte, in welchen Feldern des Sport Integration eine unterstützende Wirkung zu erhoffen ist.
Zu Teil 2
Das vierte Kapitel (S. 69-77) – ab hier beginnt der theoretische Teil der Studie – liefert einen Überblick über das breite Spektrum an Integrationstheorien und -modelle, um darauf aufbauend ein Integrationsverständnis für den quantitativen Teil der Studie zu entwickeln.
In Kapitel fünf (S. 78-91) rückt der Sport, als gesellschaftliches Teilsystem, in den Vordergrund. Es wird erläutert wie Integration „in“ den Sport und Integration „durch“ den Sport funktionieren kann und welche nationalen Forschungstraditionen die Thematik angehen. So interessieren sich nordamerikanische Forscher vor allem für die Frage, wie sich bei Zuwanderern mit zunehmender Aufenthaltsdauer das Bewegungsverhalten verändert, während in der europäischen Sportwissenschaft die Debatte hinsichtlich der sozialintegrativen Wirkungen des Sports im Vordergrund steht. Weiter werden die Argumente für die sozialintegrativen Effekte des Sports dargelegt und Maßnahmen und Initiativen vorgestellt, mit denen die Schweiz versucht, durch Sport zur sozialen Integration von Personen mit Migrationshintergrund beizutragen. Argumente, mit denen sich das sozialintegrative Potenzial des Sports in Frage stellt, werden ebenso geliefert.
In Kapitel sechs (S. 92-98) wird anhand des aktuellen Forschungsstandes dargelegt, ob sich Migranten hinsichtlich ihrer Sportaktivität von der einheimischen Wohnbevölkerung tatsächlich unterscheiden. Zudem werden Geschlechtsunterschiede genauer in den Blick genommen und mögliche Gründe für die Differenzen im Bewegungsverhalten zwischen der einheimischen und ausländischen Bevölkerung diskutiert. Bisherige Forschungsarbeiten zeigen, dass Personen mit Migrationshintergrund, vor allem weibliche, im Durchschnitt weniger Sport treiben als die einheimische Bevölkerung. Zum Schluss des Kapitels wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich die Sportpartizipation vom Migranten im Laufe des Akkumulationsprozesses, also des Anpassungsprozesses an der hiesigen Kultur, verändert.
Kapitel sieben (S. 99-102) stellt den Forschungsstand zum Themenbereich „Soziale Integration durch Sport“ dar. Es wird deutlich, dass angesichts der mangelnden empirischen Evidenz politisch tragbare Aussagen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang von sportlicher Aktivität und sozialer Integration verfrüht zu sein scheinen, sodass nach den Autoren seitens der Sportwissenschaft verstärkte Forschungsbemühungen gefordert werden.
Kapitel acht (S. 103-116) nähert sich immer mehr dem Untersuchungsobjekt an. Hier wird das Potenzial der Schule allgemein und anschließend der Sportunterricht im Speziellen zur Förderung von interkultureller Kompetenz und zur Verbesserung der sozialen Integration ausländischer Schüler thematisiert. Um mit den Herausforderungen der Migration umzugehen, werden die Lösungsansätze Ausländerpädagogik und interkulturelle Pädagogik besprochen. Zum Abschluss des zweiten Teils des Buches wird die Situation der ausländischen Schüler in der Schweiz dargestellt sowie Aspekte der Integration aus Leitbildern von Erziehungssystemen vorgestellt.
Zu Teil 3
Nachdem in Kapitel neun (S. 117-122) auf die methodischen Aspekte der Studie eingegangen wird, werden in Kapitel zehn (S. 123-178) die Hauptergebnisse des SSINC-Surveys vorgestellt. Dabei verfolgte die quantitative Teilstudie einen multiperspektivischen und interdisziplinären Ansatz, indem soziologische und psychologische Theorien zur Klärung der Forschungsfragen einbezogen wurden. 1.475 Jugendliche aus 76 Klassen nahmen an der Fragebogenerhebung teil.
Aufbauend auf die quantitative Erhebung wird in Kapitel elf (S. 179-207) die anschließende qualitative Teilstudie präsentiert, die auf über 50 teilstandardisierte Interviews mit Jugendlichen basiert. Ziel der qualitativen Studie war es zusätzliche Erkenntnisse zum Thema Sport durch Integration zu erhalten. Für die qualitative Datenanalyse wurden lebensweltliche und diskursanalytische Theorien angewandt.
Das zwölfte Kapitel (S. 208-223) beschreibt die Durchführung der dritten Teilstudie, einer schulbasierten 12-wöchigen Intervention. Diese hatte das Ziel, die soziale Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu fördern. Mit der Intervention – die Konzepte der „Sport Education“ und „critical pedagogy“ wurden als theoretischer Hintergrund aufgegriffen – sollten Inhalte und Methoden der interkulturellen Erziehung zu Grunde gelegt und auf das Feld des Sportunterrichtes angewendet werden. Für die Intervention wurde eine Unterrichtsreihe mit der Sportart Ultimate Frisbee entwickelt und durchgeführt.
Welche Wirkung die erarbeitete Unterrichtsreihe hat, darüber berichtet das 13. Kapitel (S. 224-250). Vor dem Hintergrund eines Modells der Intervention werden Design und Stichprobe der Studie (knapp 500 Heranwachsende und sieben Lehrkräfte) erläutert, ergänzende Informationen zur Intervention bereitgestellt, bevor die Ergebnisse aus der Evaluation der Programmwirksamkeit folgen.
Zu Teil 4
Das letzte Kapitel, Kapitel 14 (S. 251-260) zieht ein Fazit aus der SSINC-Studie und beantwortet die Frage, ob der Sport – hier unter Überprüfung einer mehrwöchigen Intervention – einen nachweislichen Beitrag zur sozialen Integration von Migranten leistet.
Diskussion
Die Teilhabe am Sport könne die Integration ausländische Jugendlicher erleichtern, so das grundlegende Fazit des Buches. Diese und auch weitere Erkenntnisse der Studie sind jedoch nicht allzu überraschend und bestätigen vorangegangene soziologische Untersuchungen zu diesem Thema. Auch die Ergebnisse zum Engagement im vereinsorganisierten und wettkampfmäßig betriebenen Sport stehen im Einklang mit bereits bekannten Befunden. Da empirische Studien zu dieser Thematik insgesamt jedoch Mangelware sind, schließt die Arbeit ein Stück weiter eine Forschungslücke, bekräftigt bisherige Erkenntnisse und gibt Anregungen für zukünftige Arbeiten. Hervorzuheben ist, dass auch in dieser Studie bestätigt werden konnte oder besser musste, dass Mädchen mit Migrationshintergrund im Sport unterpräsentiert sind.
Es ist natürlich richtig! Der Sport, ob Schul- oder Vereinssport, kann nur einen gewissen Beitrag für soziale Integration leisten. Vielmehr bedarf es, wie es auch die Autoren öfters erwähnen, einer Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Teilsysteme. Der Sport, zumindest der freizeitorientierte Breitensport, ist ein Lebensbereich, in dem sich Menschen für eine begrenzte Zeit aufhalten, dort agieren, spielen, kämpfen, lernen, Erfahrungen sammeln etc. Doch wie, ob und in welchem Grade dem Sport soziale und pädagogische Wirkungen zugeschrieben werden, und in diesem Fall heißt Wirkung „Integration“, und Integration ist Handeln und Verhalten, ist nicht zu pauschalisieren. Integration ist ein Prozess, der nicht einfach so passiert. Bis sich Menschen sozial integrieren, nicht nur äußerlich sichtbar durch Handeln und Verhalten, sondern erst recht in ihrem geistigen Habitus, sprich: wie sie denken, verstehen, glauben, eine Meinung bilden etc., vergehen Jahre oder Jahrzehnte. Für den Leser wäre es somit interessant zu erfahren wie aus soziologischer und psychologischer Sicht Verhaltensänderung überhaupt passiert, denn Integration durch Sport zielt genau darauf ab. Zwar weisen die empirischen, theoriegeleiteten Teilstudien darauf hin, aber bereits im theoretischen Teil wäre meiner Meinung nach eine genauere Auseinandersetzung mit der Thematik der Integration als Verhaltensänderung wünschenswert gewesen.
Fazit
Der Titel des Buches und seine 14 Kapitel ließen auf den ersten Blick vermuten, dass es sich um eine theoretische Abhandlung mit Beiträgen unterschiedlicher Autoren handelt. Dem ist nicht so. Und letztendlich hat sich diese Struktur mit über einem Duzend Kapiteln – für eine empirische Arbeit eher untypisch – als gelungen und angenehm lesbar erwiesen.
Die Arbeit hat einen klaren roten Faden. Dies ist umso bemerkenswerter, da das Buch mehrere in sich abgeschlossene Teilstudien vorstellt. Der Wechsel von der Darstellung theoretischer Modelle, von Forschungsständen, gesellschaftlichen Tatbeständen, wissenschaftlicher Methoden, eigener Ergebnisse etc. über die Kapitel hinweg, sorgt zu keinem Zeitpunkt des Lesens für Verwirrung. Die gut gestaltete Arbeit kann sogar als vorbildhaft betrachtet werden. Die Reihenfolge der Kapitel ist nachvollziehbar; sie haben eine Länge von sieben bis 55 Seiten und sind in sich abgeschlossen, sodass der Leser das Buch problemlos in mehreren Etappen abarbeiten kann und schnell den Einstieg wiederfindet.
Die Autoren weisen in der Einführung auch dankenswerterweise darauf hin, dass sich Leser, die sich ausschließlich für die Ergebnisse interessieren, die ersten beiden Buchteile überspringen und in Kapitel 9, also von der Seitenzahl her etwa auf der Hälfte des Buches, einsteigen können. Für mich sind aber alle Kapitel lesenswert. Eine ganze Reihe von Diagrammen (35 Abbildungen und 38 Tabellen) erhöht auch den Gebrauchswert der empirischen Kapitel. In diesen werden die Methodologie und Methoden der Datenerhebungen und -analysen detailliert vorgestellt und begründet. Sehr hilfreich sind auch die in das jeweilige Kapitel einsteigende und abschließende Textabschnitte. Während zu Beginn eine kurze Einführung in das jeweilige Kapitel erfolgt („Problemstellung“), schließt es mit einer Zusammenfassung ab („Das Wichtigste in Kürze“).
Das Buch ist mit seinem stark empirischen Gehalt vor allem an Sozialwissenschaftler, Sportsoziologen und -pädagogen gerichtet. Gelesen kann es aber auch von Praktikern in der Jugendarbeit und insbesondere von interessierten Sportlehrkräften, die durch die im Buch vorgestellte Interventionsmaßnahme Anregungen für die eigene Unterrichtskonzeption erhalten. Ebenso kann es für Entscheider im politischen Feld und in der Verwaltung, die sich mit dieser Problematik beschäftigen, Anstöße für Strategien und Programme zur Integration von Migranten geben.
Rezension von
Dr. Daniel Schönert
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Zitiervorschlag
Daniel Schönert. Rezension vom 27.12.2017 zu:
Markus Gerber, Uwe Pühse: Sport, Migration und soziale Integration. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2017.
ISBN 978-3-03777-153-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22743.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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