Siegfried Frech, Dagmar Richter (Hrsg.): Der Beutelsbacher Konsens
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 30.06.2017

Siegfried Frech, Dagmar Richter (Hrsg.): Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung, Kontroversen.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2017.
206 Seiten.
ISBN 978-3-7344-0436-8.
D: 22,90 EUR,
A: 23,60 EUR.
Didaktische Reihe Beutelsbacher Gespräche.
Thema
Der Beutelsbacher Konsens wurde 1976 im Protokoll einer Tagung formuliert, die von der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg veranstaltet worden war, und an der namhafte Didaktiker der politischen Bildung teilgenommen hatten. Man sah sich angesichts damaliger Konflikte um Lehrpläne und kontroverse Gesellschaftsvorstellungen veranlasst, Grundprinzipien für den pädagogischen Umgang damit zu formulieren. Drei Prinzipien wurden als „Beutelsbacher Konsens“ (BK) festgehalten:
- das „Überwältigungs-“ oder Indoktrinationsverbot,
- das Gebot der Kontroversität und
- die Förderung der Partizipationskompetenz der Lernenden.
Entstehungshintergrund
Aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums führte die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg im Februar 2016 eine Tagung durch, auf der Bedeutung und Aktualität des BK diskutiert werden sollten. Daraus sind die Beiträge der vorliegenden Publikation hervorgegangen.
Herausgeber/innen
Prof. Siegfried Frech ist Publikationsreferent der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
Dagmar Richter hat eine Professur für Sachunterricht und seine Didaktik an der TU Braunschweig.
Autor/innen
Die Autor/innen vertreten alle bis auf eine Ausnahme die Didaktik der politischen Bildung als Lehrstuhlinhaber/innen, in einem Fall im Rahmen eines Lehrauftrags. Dr. Siegfried Schiele hat damals die Tagung in Beutelsbach initiiert und war Leiter der Landeszentrale für politische Bildung B-W.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist nicht in Kapitel gegliedert, was sich wegen des eindeutigen thematischen Fokus erübrigt. Nach einem Vorwort des Direktors der Landeszentrale beleuchten die Beiträge das Thema von verschiedenen Seiten.
Siegfried Frech und Dagmar Richter betonen, dass der BK für Lehrer/innen bei strittigen Themen einen Schutz biete (13), was gerade deshalb wichtig ist, weil der BK keineswegs Neutralität verlange oder ein verschwommenes „anything goes“ (17). Die Lehrperson solle vielmehr Position beziehen (14). Überlegt wird, ob die Forderung nach Mehrperspektivität eine andere oder ergänzende Zugangsweise impliziert, und welche Konsequenzen der vielfältige Medienzugang heutiger Schülergenerationen für die politische Bildung hat (18).
Siegfried Schiele erzählt vom Zustandekommen der Tagung im Jahr 1976 und bilanziert die nachträglichen Entwicklungen. Er ist wie die beiden Herausgeber/innen und wie die Autor/innen der nachfolgenden Beiträge um die Klarstellung bemüht, dass der BK nicht Standpunktlosigkeit der Lehrperson impliziert (29).
Georg Weißeno versucht, „die Kontroversen (über den BK, G.A.) in den Zeithorizont zu stellen“ (35). Die Vermischung von Politik und Wissenschaftstheorie, von Wissenschaft und Unterrichtspraxis, für die er Unterrichtsmodelle und die frühere Diskussion über den BK anführt, sieht er im heutigen Kompetenzansatz überwunden.
Wolfgang Sander stellt die wissenschaftstheoretische Frage nach dem Ort des BK zwischen Theorie und Praxis. Seine Antwort: „In seinen Prinzipien werden konsensuelle Theorieaspekte in Handlungsmaximen für die politische Bildung überführt“ (63).
Tilmann Grammes stellt im ersten Teil Vergleiche an – mit der Diskussion über staatsbürgerliche Erziehung in der Weimarer Republik und mit der didaktischen Diskussion in den USA. Die Übereinstimmungen in den „transatlantischen Diskursen“ (74), die er dort entdeckt, kontrastiert er mit der sozialistischen Erziehung in der ehem. DDR. Im zweiten Teil prüft er den Ertrag des BK für die Praxis an zwei Unterrichtsbeispielen. Sein Fazit: Der BK „zwingt dazu, Legitimationen und die Rahmungen des Wissens kriterienorientiert offen zu legen“ (81).
Andreas Brunold fragt, ausgehend von der empirischen Beobachtung der Unterrichtspraxis nach der eigentlichen Intention des Überwältigungsverbots und nach dem Stellenwert der drei Prinzipien im BK. Dabei findet er die politische Partizipation und Aktion zu wenig gewichtet (94), was zugleich politische Neutralität in Frage stellt. Ihre Grenze findet die Neutralisität auch bei nicht aufgebbaren Grundwerten, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben sind. Der Autor expliziert dies exemplarisch am Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung, der nicht verhandelbar sei (99). Leitbild sind für ihn „interventionsfähige Bürger und Bürgerinnen“ (101).
Anja Besand, seit 2009 an der Uni Dresden, knüpft ihre Reflexionen über den BK an Erfahrungen in ihrem neuen Umfeld an, wo sie in Reaktion auf PEGIDA eine Flucht in Neutralität oder „Professionalität“ bei der Landeszentrale für politische Bildung ebenso wie bei Lehrenden und Studierenden beobachtet hat. Sie wirft vier Fragen auf, unter anderem die nach dem „Verhältnis von Emotionalität und Professionalität“ (109 f.) und macht auf die politische Relevanz von Emotionen aufmerksam. Denn: „Emotionen strukturieren Zugangswege und Ausgangspunkte der Welterschließung“ (110). Das verlange eine offene Auseinandersetzung, auch unter Berücksichtigung emotionaler Anteile.
Im Beitrag von Monika Oberle wird zum wiederholten Mal das Missverständnis ausgeräumt, der BK verpflichte Lehrende zur Neutralität. Die Verf. untermauert die richtige Interpretation mit der Einordnung in Modelle der Lehrerkompetenz, wonach auch „handlungsleitende Überzeugungen“ ein Aspekt dieser Kompetenz sind.
Peter Krapf, als Gymnasiallehrer selbst noch in der Schulpraxis verankert, untersucht, was Referendare und Referendarinnen lernen müssen, um dem Implikationszusammenhang der drei Prinzipien im BK gerecht zu werden, wozu er exemplarisch die Mitschrift einer Unterrichtsstunde heranzieht. Als besondere Herausforderung deutet er die Befähigung zur „Reflexion in der Handlung“ wegen des oft überraschenden Unterrichtsverlaufs.
Peter Massing begründet in seinem Beitrag, warum Konfliktfähigkeit „eine zentrale Voraussetzung für politische Handlungskompetenz“ ist. Dazu klärt er, welche Bedeutung Konflikten in Politik und politischer Bildung zukommt und was unter Konfliktfähigkeit und Handlungskompetenz verstanden werden soll.
Tim Engartner wendet sich als erster im Kreis der Autoren der Hochschulausbildung zu. Dem BK muss nach ihm eine „Theorien-, Paradigmen- und Wertevielfalt“ entsprechen (164), was nicht nur sozialwissenschaftliche Multidisziplinarität verlange (Politik- u. Wirtschaftswissenschaft, Soziologie), sondern darüber hinaus auch die Reflexion der paradigmatischen Grundlagen (der Lehrbuchökonomie z.B.) bis hin zur „Dekonstruktion sozialwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe“ (167). Seine Vorstellungen verdeutlicht der Verf. an den Kategorien Markt, Geld und Wettbewerb.
Joachim Detjen möchte in seinem Beitrag mit dem Titel „Indoktrinationsverbot und Kontroversitätsgebot vor ‚Beutelsbach‘“ zeigen, dass die führenden Politikwissenschaftler in der Nachkriegszeit, die Gründergeneration dieses Fachs also, in ihren Konzeptionen von Demokratie bereits solche Postulate formuliert hätten.
Diskussion
Der Band dient der Klärung, was die richtige pädagogische Haltung von Lehrenden in der politischen Bildung betrifft. Welch wichtiger Beitrag zur Orientierung das ist, wird an den Erfahrungen von Anja Besand deutlich. Die Wiederholungen in den Texten kann man in Kauf nehmen; denn es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass politische Bildung Auseinandersetzung und damit Diskursfähigkeit verlangt.
Es überrascht etwas, dass die Nähe des BK zur Diskursethik von keinem Autor angesprochen wird. Georg Weißeno verkennt insofern m.E. die Grundintention des BK, wenn er auf Empirie setzt und auf „innerwissenschaftliche Evidenzen“ vertraut (51).
Hervorhebenswert sind die Beiträge von Anja Besand über die Relevanz der emotionalen Färbung politischer Zugänge und von Tim Engartner, der sozialwissenschaftliche Kontroversität inhaltlich konkretisiert.
Dass manche Frage offen bleibt, verwundert nicht, zum Beispiel die Frage, wo nachhaltige Entwicklung (Brunold) an Systemgrenzen stößt bzw. welche Zielkonflikte sich im Hinblick auf Nachhaltigkeit ergeben. Aber das schmälert nicht den Wert der Publikation.
Fazit
Eine wichtige Publikation zur pädagogischen Orientierung der Lehrer/innen im Bereich der politischen Bildung. Die Leser/innen können die Beiträge je nach Orientierungsbedarf selektiv heranziehen. Überflüssig, das Taschenbuch als Seminarlektüre für alle Phasen der Lehrerausbildung zu empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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