Stephen Weber Long: Herausforderndes Verhalten
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 31.05.2021

Stephen Weber Long: Herausforderndes Verhalten. Herausfordernde Situationen mit alten Menschen meistern. Hogrefe AG (Bern) 2021. 261 Seiten. ISBN 978-3-456-85737-4. 39,95 EUR. CH: 48,50 sFr.
Thema
„Herausforderndes Verhalten“ als recht allgemeiner Begriff hat sich u.a. in der Pflege alter Menschen und vor allem dabei in der Demenzpflege erst in den letzten Jahrzehnten herausgebildet. Überwiegend sind damit stressbedingte Verhaltensweisen wie Unruhe, verbale und tätliche Aggressionen nebst Pflegeverweigerung gemeint, die Ausdruck der Überforderung mit inneren und auch äußeren Reizgefügen bei den Erkrankten sind. Dieses Verhalten stellen auch für die Pflegenden und Betreuenden eine große Belastung dar, fehlt doch oft die Zeit und auch der ausreichende Personalbesatz, um auf dieses Verhalten, das letztlich Ausdruck eines massiven Leidens darstellt, angemessen eingehen zu können. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Begrifflichkeit „herausforderndes Verhalten“ in der Demenzpflege gegenwärtig teils als zu unspezifisch bezogen auf die verschiedenen Krankheitssymptome eingeschätzt wird. Als Alternative wird vorrangig die englische Abkürzung BPSD (Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia) vorgeschlagen und auch schon verwendet.
Die vorliegende Publikation behandelt diese Thematik aus der Sicht eines Psychologen mit den Schwerpunkten Training, Fortbildung und Beratung der Mitarbeiter in stationären Langzeitpflegeeinrichtungen.
Autor und Herausgeber
Stephen Weber Long ist ein promovierter Psychologe und Psychoanalytiker, der 15 Jahre u.a. als Personalpsychologe und Trainer für die Mitarbeiter und als Berater für die Bewohner in einer Einrichtung des Betreuten Wohnens für ehemalige Armeeangehörige in Northport (USA) tätig war.
Jürgen Georg ist Pflegefachmann, -lehrer und -wissenschaftler (MScN), der als Programmleiter Pflege und Dementia Care beim Hogrefe Verlag in Bern tätig ist.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sieben Kapitel nebst Einleitung und Anhang untergliedert. Am Ende der Kapitel werden Merkblätter und Übungen zur Vertiefung der Inhalte angeführt.
In Kapitel 1 (Warum pflegebedürftige Menschen tun, was sie tun, Seite 21 – 34) wird anhand von kurzen Fallbeispielen aufgezeigt, wie Bewohner einer stationären Wohnanlage mit verschiedenen Krankheitsbildern auf Belastungssituationen mit den Pflegenden und auch mit den Mitbewohnern reagieren. Es werden die verschiedenen Aspekte innerer Auslöser herausfordernder Verhaltensweisen beschrieben: u.a. Medikamente, Krankheit, Verwirrtheit und Schmerzen. Als äußere Auslöser werden u.a. angeführt: Inaktivität, Forderungen Dritter, Missverständnisse und zu viel Lärm und belastende Beleuchtung.
In Kapitel 2 (Fördern positiven Verhaltens, Seite 35 – 58) skizziert der Autor ebenfalls wieder anhand von Fallvignetten das Spektrum an Umgangsstrategien zur Förderung eines „positiven Verhaltens“: u.a. aktives Zuhören, Auswahlmöglichkeiten anbieten, Lob, Komplimente und Anerkennung und den Einsatz von Entspannungstechniken. Als nichtsprachliche Verstärker eines positiven Verhalten werden u.a. genannt: Lächeln, Nicken, Umarmungen, Winken und auf den Rücken klopfen. Ergänzend führt er Vorgehensweisen an, die es hierbei tunlichst zu vermeiden gilt: u.a. Nörgeln, Streiten, Tadeln, Bestrafen und Auslachen.
Kapitel 3 (Lösungen für herausforderndes Verhalten finden, Seite 59 – 88) thematisiert die Methode und den „kooperativen Problemlösungsansatz“ des ABC-Modells praxisnah anhand von Beispielen. Das Modell besteht aus den Faktoren A (vorausgehende Gegebenheit), B (das darauf folgende Verhalten) und C (die Konsequenzen dieses Verhaltens für die Beteiligten). Ein konkretes Beispiel: A (eine Pflegende hilft einem Bewohner beim Auskleiden und Zubettgehen), B (der Bewohner legt die Hand auf Brust und Gesäß der Pflegenden), C (die Pflegende: „Bitte hören Sie auf, mich so anzufassen.“) (Seite 67). Empfohlen wird bei diesen äußerst belastendenden Verhaltensweisen für die Betroffene Strategien zur Vermeidung dieser Situationen zu entwickeln (u.a. Dokumentation, Analyse des Verhaltens und der Reaktionen und hierauf folgend veränderte Umgangsformen).
In Kapitel 4 (Stress und die Rolle des Denkens und Fühlens, Seite 89 – 108) geht es um das „ABC des Fühlens und Denkens“. Gemeint ist hierbei der Sachverhalt, wie eine unangemessene pflegerische oder betreuerische Handlung mit der Folge eines Belastungsverhaltens bei dem Bewohner emotional verarbeitet wird. Damit steht die Selbstwahrnehmung der Mitarbeiter u.a. auch bezüglich ihres eigenen Stresserlebens im Fokus. Empfohlen werden hierbei neben atemzentrierte Entspannungsübungen die Selbstreflektion und das Innehalten zwecks Bearbeitung und Verarbeitung der eigenen Emotionen (Relativierung, Abstand gewinnen u.a.).
Kapitel 5 (Vorausverfügungen und die Praxis der Vergebung bei psychischen Gesundheitsbedürfnissen, Seite 109 – 145) beinhaltet die Funktion und Wirksamkeit von Vorausverfügungen anstelle von Verhaltensverträgen zwecks Verhinderung bzw. Verminderung von störenden Verhaltensweisen seitens der Pflegebedürftigen. Des Weiteren werden Überlegungen angestellt, wie durch „Vergebung“ bei massivem Problemverhalten der Pflegebedürftigen das Belastungsniveau bei gestressten Mitarbeitern deutlich gesenkt werden kann.
Kapitel 6 (Hindernisse beim Einsatz effektiver Techniken, Seite 147 – 163) listet die verschiedenen Störfaktoren bei der Umsetzung der empfohlenen Umgangsformen und Bewältigungstechniken in der Pflege und Betreuung in stationären Einrichtungen der Langzeitpflege auf. Dabei werden sowohl persönliche Hindernisse wie die Einstellung der Pflegenden zu den störenden Verhaltensweisen und die damit verbundenen Bewältigungsstrategien und des Weiteren auch die institutionellen und gesellschaftlichen Hindernisse benannt. Zur Lösung der Problembereiche wird eine Reihe von vertrauten Stressmanagementstrategien vorgeschlagen: u.a. selbstsichere Kommunikation und Grenzen setzen.
In Kapitel 7 (Behandlungsplanung, Seite 165 – 179) wird das Modell einer Behandlungsplanung in mehreren Schritten aufgeschlüsselt in Individual- und Teammethoden aufgezeigt: u.a. Suche nach Auslösern und Verstärkern des Problemverhaltens, Modifizierung der Auslöse- und Verstärkungsfaktoren, Stressmanagement und die Zusammenarbeit mit Kollegen.
Nachwort
Der Anhang (Seite 191 – 213) besteht aus Blankoformularen und Infoblättern (u.a. Beobachtungsbögen, Top-Ten-Liste angenehmer Ereignisse). Angefügt ist des Weiteren ein Beitrag des Herausgebers Jürgen Georg Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz (Seite 215 – 250).
Diskussion
Psychische Belastungen erleben und diese Belastungen verarbeiten sind Persönlichkeitseigenschaften. Und darin unterscheiden sich die Menschen anlagebedingt gemäß der Normalverteilung (siehe Gaußsche Glockenkurve). So gibt es z.B. die „Gemütsmenschen“, die nichts aus der Ruhe zu bringen scheint, ebenso wie die „Empfindlichen“ oder „Aufbrausenden“, die sehr schnell aus der Haut fahren. Diesen Verarbeitungsmodalitäten des Stresses gemäß unterscheiden sich auch deutlich die Verhaltens- bzw. Reaktionsmuster im Umgang mit den teils überfordernden Gegebenheiten im nahen Umfeld: Fluchtverhalten, tätliche und verbale Aggression, Apathie und im Extremfall die Schockstarre.
Wenn dann noch die Faktoren Alter, Pflegebedürftigkeit und chronische Erkrankungen hinzukommen, dann sind weitere Parameter in der Analyse des Verhaltens zu berücksichtigen. In den vom Autor angeführten Fallbeispielen handelt es sich u.a. um alte pflegebedürftige Personen mit unterschiedlichen neuropsychiatrischen Erkrankungen wie u.a. Demenz, Schizophrenie, Zustand nach einem Schlaganfall und Multiple Sklerose, die sich den Lebensbereich betreutes Wohnen in einer stationären Langzeitpflegeeinrichtung teilen. Den Ausführungen ist leider nicht zu entnehmen, ob das Milieu und damit die Lebenswelt der Betroffenen durch das Einzelwohnen in einer eigenen Wohneinheit oder eher durch das Gemeinschaftsleben in einem Wohnbereich bestimmt werden. Auch werden keine Informationen über den Grad der Pflegebedürftigkeit und damit den Grad der Gebrechlichkeit und Abhängigkeit der Bewohner gemacht. Es fehlen auch Informationen über die Mitarbeiter hinsichtlich Qualifikation, Personalbesatz und Arbeitsorganisation.
Die von dem Autor entwickelten Konzepte sind aus der Sicht des Rezensenten dem Umstand geschuldet, bei derart multifaktoriellen Gegebenheiten (unterschiedliche Erkrankungen) auf recht allgemeine und damit abstrakte Handlungsstrategien zurückgreifen zu müssen. Gilt es u.a. doch, das Gemeinsame von der Psychiatriepflege und der Demenzpflege zu extrahieren. Und das ist u.a. das Belastungserleben bei der Pflege seitens der Pflegebedürftigen und besonders auch seitens der Pflegenden selbst.
Die Kehrseite dieser Vorgehensweise besteht darin, mittels allgemeiner Handlungsempfehlungen, die in den diversen Merkblättern in den jeweiligen Kapiteln zusammengefasst sind, krankheitsspezifische Problemlagen im Umgang mit den Betroffenen lösen zu wollen. Und das kann aus der Sicht des Rezensenten nicht gelingen. Ohne das Wissen und die Erfahrungen über die krankheitsspezifischen Modalitäten in der Verarbeitung des zwischenmenschlichen Kontaktes bei den unmittelbaren Pflegehandlungen wird es demnach kein befriedigendes Zusammenwirken der Betroffenen geben.
Fazit
„Herausforderndes Verhalten“ ist wie bereits mehrfach erwähnt eine allgemeine Begrifflichkeit, die dem konkreten Sachverhalt krankheitssensibler Aspekte im Umgang mit den Betroffenen nicht gerecht zu werden vermag. Die Inhalte der vorliegenden Publikation verbleiben auf dieser recht abstrakten Ebene, die dadurch kein ausreichendes Rüstzeug als praxisorientiertes Handlungswissen für eine Pflege und Betreuung gebrechlicher alter Menschen mit verschiedenen neuropsychiatrischen Erkrankungen geben kann.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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