Jean Michel Bonvin, Stephan Dahmen (Hrsg.): Reformieren durch Investieren?
Rezensiert von Prof. Dr. Catrin Heite, Dr. Anna Schnitzer, 23.02.2018
Jean Michel Bonvin, Stephan Dahmen (Hrsg.): Reformieren durch Investieren? Chancen und Grenzen des Sozialinvestitionsstaats in der Schweiz.
Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen
(Zürich) 2017.
160 Seiten.
ISBN 978-3-03777-148-8.
D: 22,00 EUR,
A: 22,70 EUR,
CH: 28,00 sFr.
Band mit Aufsätzen auf Französisch und auf Deutsch. Das Buch besitzt zwei ISBN-Nummern. Franz. Titel: Investir dans la protection sociale - atouts et limites pour la Suisse. ISBN 978-2-88351-075-3.
Thema
Im Mittelpunkt des von Jean-Michel Bonvin und Stephan Dahmen herausgegebenen Sammelbandes steht das sozialinvestive Sozialstaatsmodell mit Blick auf den Schweizer Kontext. Ausgangspunkt des Bandes und der zugrundeliegenden Jahrestagung der Schweizerischen Vereinigung für Sozialpolitik zum Thema Sozialinvestitionsstaat sind die Kritiken wohlfahrtsstaatlicher Arrangements, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven an vermeintlich passivierende Effekte sozialstaatlicher Interventionen, Gerechtigkeitsdefizite und arbeitsmarkt- sowie familienpolitische Blindstellen wohlfahrtsstaatlicher Settings richten.
Aufbau und Inhalt
Nach einer kurzen inhaltlichen Einführung der Herausgeber, die den Entstehungskontext des Sozialinvestitionsstaatskonzeptes in seinen Grundzügen umreisst und einen Überblick über die Texte des Bandes gibt, macht Gøsta Esping-Andersen mit einem Aufsatz zu «Chancengleichheit in einer zunehmend feindlichen Welt» den Auftakt des Sammelbandes. In diesem diskutiert er den angeblichen Widerspruch zwischen dem sozialstaatlichen Gleichheitsversprechen und dem Streben nach wirtschaftlicher Effizienz. Dieser Widerspruch sei empirisch nicht belegbar – vielmehr sei das Gegenteil der Fall: «ein gut ausgebautes Wohlfahrtssystem [trägt] zu einer Stärkung der Volkswirtschaft bei» (S. 19). Vor diesem Hintergrund entwickelt Esping-Andersen seine Argumentation, die Kinder als «positives kollektives Gut» und ihren «volkswirtschaftlichen Wert» – also nicht ihren Wert und ihre Würde als Mensch an sich – in den Mittelpunkt stellt. Die Argumentation konzentriert sich dann auf Annahmen sozialer Vererbung von Armuts- und Benachteiligungssituationen und diskutiert einige Aspekte:
- die Bedeutung der sozioökonomischen Positionierung einer Familie,
- die Rolle elterlicher Zeitinvestition in die kindliche Entwicklung und Bildung sowie
- den Einfluss der familiären Lernkultur.
Damit müsse es darum gehen, «den Wohlfahrtsstaat neu [zu] denken» und dies erfordere vor allem Maßnahmen, die Familien – und insbesondere Frauen, deren Verhandlungsmacht es zu stärken gelte – darin unterstützen, in ihre Kinder zu investieren. Als wesentliche sozialstaatliche Aufgabe kristallisiert sich im Horizont u.a. erziehungswissenschaftlicher, psychologischer und ökonomischer Argumente heraus, eine finanziell solide abgesicherte einjährige Elternzeit mit einem qualitativ hochstehenden professionellen Kinderbetreuungsangebot auch vor dem Kindergarteneintritt zu kombinieren, um die dreifache Aufgabe von Betreuung, Erziehung und Bildung wohlfahrtsproduktiv zu gewährleisten.
Die Konzeption des Sozialinvestitionsstaates im Schweizer Kontext nimmt der Beitrag «L´investissement social dans la politique sociale suisse» von Giuliano Boboli in den Blick. Nach einer einführenden Bündelung der Überlegungen zum Sozialinvestitionsstaat, wie er insbesondere in Schweden und Dänemark in der Zeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs verstanden wird, identifiziert er grundsätzlich drei Bereiche, in denen Sozialinvestitionen getätigt werden müssen:
- die professionelle Wiedereingliederung,
- kinderfördernde Familienpolitik sowie
- Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Für Sozialinvestitionen, die in Zeiten des allgegenwärtigen Sparzwangs bzw. -drangs über ihren Ertrag für die Allgemeinheit legitimiert werden müssen, macht er zwei Ausprägungen sozialpolitischer Umsetzung aus: eine ‚harte‘ Variante und eine ‚light‘-Variante. Während erstere stärker in Familienpolitik und die frühe Förderung von Kindern investiert ist letztere eher auf arbeitsmarktbezogene Maßnahmen fokussiert. Aber welche Perspektive macht er nun für die Schweiz aus? Dieser Frage widmet sich Boboli ganz am Ende seines Artikels in einem kurzen Fazit. Aktuell lägen die Entwicklungen vor allem
- im Bereich der Förderung der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, aber auch einer
- Förderung der institutionellen Betreuung im frühkindlichen Bereich.
Beide stießen jedoch an deutliche institutionelle und ideologische Grenzen, die ein sehr langsames Voranschreiten sozialinvestiver Politiken in der Schweiz bedingen.
Eine andere, deutlich kritischere Analyseperspektive nimmt Eva Nadai in ihrem Beitrag «Investitionen in Ungleichheit» ein. Ausgehend von der Aufteilung in – scheinbar – «lohnenswerte» Investitionen in Kinder, Familien, Bildung und Erziehung und «nicht lohnenswerte» Investitionen in «die Gescheiterten der Gegenwart – die Arbeitslosen, Armen und Überflüssigen des Arbeitsmarkes» (S. 79) – nimmt sie eine Analysefigur auf, die u.a. auch Robert Castel in den «Metamorphosen der Sozialen Frage» anlegt: die historische und aktuelle normative Differenzierung zwischen guten, würdigen und schlechten, unwürdigen Armen. Aus einem ethnographisch angelegten Forschungsprojekt nimmt Nadai in intersektionalitätsforscherischer Perspektive die Lebenssituation gering qualifizierter Frauen in den Blick und zeigt Prozesse der Selektion der Adressatinnen in lohnenswerte und nicht lohnenswerte Investitionsobjekte, in denen Geschlecht und Migration die stärksten Zuschreibungsdimensionen sind. In Kritik an dieser Zuschreibungs- und Ausgrenzungspraktik bezieht sich die weitere Argumentation auf den Capability Approach, um der empirisch aufzeigbaren Reproduktion von Ungleichheit und Diskriminierung etwas entgegenzusetzen und Menschen nicht als Investition, sondern als Rechtssubjekte zu denken sowie auch so zu behandeln.
Eine historische Verortung des Konzepts der «Sozialinvestition», die die Problematik eines rein wirtschaftlichen Verständnisses des Sozialinvestitionsstaates aufzeigt, sowie dessen Implementation nimmt Jean-Pierre Tabin in seinem Aufsatz «Une nouvelle doxa: l´investissement social» vor. Diese Überlegungen bündelt er abschließend am Beispiel der 4. Revision der Arbeitslosenversicherung in der Schweiz. Mit Bezug auf Bourdieu breitet er dabei die persistente Kosten-Nutzen-Orientierung in Ansätzen sozialinvestiver Politiken als eine «amnésie de la genèse» aus (S. 96 f.), also als eine, die die Entstehungsgeschichte sozialpolitischer Maßnahmen außer acht lässt. Des weiteren verortet Tabin das später von Esping-Andersen weiterentwickelte Konzept der «Sozialinvestition» (vgl. auch ders. in diesem Band) mit Giddens als hervorgehend aus der Politik des dritten Weges, die in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung eine Angebotsorientierung der Sozialpolitik aufweist und sowohl auf Aspekte des lebenslangen Lernens als auch auf solche der Aktivierung fokussiert. Diese Politik, die er deutlich als eine kritisiert, die einzig Frauen auferlegt, ihre Haltung in Bezug auf Reproduktionsarbeit zu verändern sowie ab dem frühesten Alter Chancengleichheit fördern will, – und dies alles unter Festhalten an einem eingefahrenen normativen und ideologischen Grundverständnis – ist nach Tabin in der Schweiz bereits weit verbreitet, wie er an der 4. Revision der Arbeitslosenversicherung in den Jahren 2009 und 2010 festmachen kann. So biete der Investitionsdiskurs die Möglichkeit, Leistungskürzungen zu legitimieren, die gerade junge Menschen dazu bringen könnten, jede Arbeit anzunehmen, die ihnen angeboten wird (S. 102). So werde Sozialpolitik zu einer Angelegenheit der Buchhaltung und des Börsenhandels statt einer der sozialen Rechte und eines Lebens in Würde.
Ebenfalls kritisch und mit theoretisch-analytischem Bezug auf den Capability Approach argumentiert Hans-Uwe Otto in seinem Beitrag «Der soziale Investitionsstaat – Wohlfahrt zwischen Humankapitalproduktion und Wohlergehen» gegen die Verobjektivierung von Menschen als Investitionsobjekte. Bildung als politischer Begriff sei eben breiter zu verstehen denn als Investition in Humankapital zur Produktivitätssteigerung. Vielmehr gelte es, «Verwirklichungschancen als alternativen Interpretationsrahmen» zu formatieren (S. 111), um menschliche Bedürfnisse, Rechte und Vorstellungen vom guten Leben auch sozialpolitisch angemessen zu berücksichtigen.
Der Frage nach der Wertorientierung einer zukünftigen Sozialpolitik geht Claudia Kaufmann in ihrem Text nach. Er sticht insofern aus den Beiträgen hervor, als er die verschriftlichte Version des Abschlusskommentares anlässlich der oben erwähnten Jahrestagung darstellt und sowohl auf die Aufsätze des Bandes als auch auf nicht veröffentlichte Tagungsbeiträge Bezug nimmt. Auch Jean-Michel Bonvin und Stephan Dahmen nehmen in ihrem abschließenden Aufsatz eine Bündelung der im vorliegenden Band vorgetragenen Perspektiven vor, indem sie nach der Umsetzbarkeit einer Sozialinvestitionspolitik und deren Hürden bzw. Herausforderungen in der Schweiz fragen.
Diskussion und Fazit
Entgegen der in der Schweiz ansonsten weit verbreiteten Sprachentrennung versammelt der vorliegende Band sprachenübergreifend für die Diskussion möglicher (Weiter-)Entwicklungen und Problematisierungen des Sozialinvestitionsstaates relevante französisch- und deutschsprachige Beiträge. Dabei werden kritische Argumente wie der ausschließlich in Bezug auf Frauen formulierte Anspruch der Orientierung an «männlichen» Erwerbsformen bei gleichzeitiger Missachtung unentgeltlicher Reproduktionsarbeit ebenso angeführt wie die Errungenschaften der skandinavischen Länder etwa in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Im Anschluss daran lässt sich für den schweizerischen Kontext die begründete, u.a. von Esping-Andersen formulierte Forderung nach finanziell solide abgesicherter einjähriger Elternzeit in Kombination mit einem qualitativ hochstehenden professionellen Kinderbetreuungsangebot für unter vierjährige Kinder hervorheben, was einen erheblichen geschlechter-, familien-, bildungs- und sozialpolitischen Fortschritt darstellen würde. Dabei erweist sich der Capability Approach als die Kosten-Nutzen-Rentabilität erweiternder Formatierungsrahmen, den schweizerischen Wohlfahrtsstaat als Arrangement zu gestalten, dessen Interesse sich nicht lediglich auf produktives Humankapital, sondern auf die Realisierung eines guten Lebens für alle Menschen richtet.
Rezension von
Prof. Dr. Catrin Heite
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Dr. Anna Schnitzer
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Es gibt 1 Rezension von Catrin Heite.
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Zitiervorschlag
Catrin Heite, Anna Schnitzer. Rezension vom 23.02.2018 zu:
Jean Michel Bonvin, Stephan Dahmen (Hrsg.): Reformieren durch Investieren? Chancen und Grenzen des Sozialinvestitionsstaats in der Schweiz. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen
(Zürich) 2017.
ISBN 978-3-03777-148-8.
Band mit Aufsätzen auf Französisch und auf Deutsch. Das Buch besitzt zwei ISBN-Nummern. Franz. Titel: Investir dans la protection sociale - atouts et limites pour la Suisse. ISBN 978-2-88351-075-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22762.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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