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Tina Denninger, Lea Schütze (Hrsg.): Alter(n) und Geschlecht

Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 10.07.2017

Cover Tina Denninger, Lea Schütze (Hrsg.): Alter(n) und Geschlecht ISBN 978-3-89691-247-3

Tina Denninger, Lea Schütze (Hrsg.): Alter(n) und Geschlecht. Neuverhandlungen eines sozialen Zusammenhangs. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2017. 242 Seiten. ISBN 978-3-89691-247-3. D: 28,00 EUR, A: 30,80 EUR.
Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Band 47.

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Thema

Dieser 47. Band aus der Schriftenreihe der „Sektion Frauen- und Geschlechterforschung“ in der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ hat ein anspruchsvolles Ziel: Er will die Theorielosigkeit der Alterssoziologie und die Altersvergessenheit der Frauen- und Geschlechterforschung überwinden.

Aufbau

Die beiden Herausgeberinnen gliedern die zehn Beiträge unter drei Schlagworten:

  1. Theoretische Konzepte
  2. Neue Erkenntnisse zur Intersektionalität und
  3. Verkörperung von Alter(n) und Geschlecht

und fügen selbst eine Einleitung und eine auswertende Schlussbemerkung hinzu.

Zu 1. Theoretische Konzepte

Silke van Dyk kritisiert in ihrem Beitrag die herrschende Forschung, die sich relativ theoriefrei zwar der Verschränkung von Geschlecht und Alter widmet, letztlich aber nur bei der Benachteiligung älterer Frauen stecken bleibt. Sie schlägt dagegen erst einmal eine konzeptionelle Erkundung der Konstruktion von „Alter(n)“ vor, die, weiterführend durch feministische Analysen inspiriert, dann das leisten könnte, was notwendig ist: die Hinterfragung der wirkmächtigen Norm eines vermeintlich alterslosen und autonomen Erwachsenenlebens. Weiterhin setzt sie sich kritisch mit der politisch beliebten Figur der „jungen Alten“ auseinander, die zu altruistischen Retter_innen des Sozialen hochgejubelt werden.

Irmhild Saake stellt die Kategorien Alter und Geschlecht als solche in den Focus ihrer Überlegungen. Sie weist darauf hin, dass hinter diesen Kategorien Stereotype stecken. Eine Forschung, die (alte) Männer und (alte) Frauen als Gruppen vergleicht (Symmetrisierung), tappt in eine Falle, weil an den Stereotypen angesetzt wird, die aber eigentlich erst mal zu hinterfragen wären. Am Beispiel der „Erkenntnisse“ über karrierelose alte Frauen, sich der Pflege verweigernder Söhne oder gebrechlicher alter Damen zeigt sie auf, wie inhaltlich verkürzt die Forschungsergebnisse sind, die auf dieser Symmetrisierung beruhen. Irmhild Saake vermutet, dass die Altersforschung im Gegensatz zur Geschlechterforschung noch nie eine emanzipatorische Theorie ihres Gegenstandes entwickelt hat. Forschungspraktisch schlägt sie vor, den unvermeidbaren Entstehungskontext der Stereotypen in die Analyse mit einzubeziehen. Nur das ermöglicht, auch potentielle Veränderungen zu benennen.

Alex Rau analysiert Alter(n) und Geschlecht auf der Folie feministischer Kapitalismuskritik und nutzt dabei das Potential der Prekarisierungsdebatte. Ausgehend von der These, dass im gegenwärtigen Kapitalismus Prekarität die Norm ist, fragt sie nach den Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Alters- und Geschlechterverhältnisse. Dazu zeichnet sie zunächst die Verwobenheit von Geschlecht, dann von Alter mit den ökonomischen Strukturen und Mechanismen der Prekarisierung nach und anschließend die Verwobenheit der beiden Kategorien. Ihrer Ansicht nach sollte das Forschungsinteresse auf folgende Fragen gelenkt werden: wie wird die Hierarchisierung der als alt und weiblich konstruierten prekären Körper subjektiv erfahren, wie wird diese Hierarchisierung in und durch Alltagspraxen reproduziert oder potentiell durchbrochen und wie können neue Machtverhältnisse entstehen, die auch kapitalistische Logiken durchbrechen?

Auch Cornelia Hellferich arbeitet heraus, dass sich die biologisch argumentierenden Diskurse um die Geschlechterhierarchie aus dem 19. Jahrhundert auch heute noch finden lassen: Noch heute wird „Weibliches“ mit „Jung-sein“ und die patriarchale „Männlichkeit“ mit dem „Älteren“ verknüpft. Altern ist somit für Frauen ein Verlust, für Männer ein Gewinn. In der Aufteilung von sogenannter Produktions- und Reproduktionsarbeit, die bekanntlich die Altersarmut von Frauen und ihre schlechtere Versorgungssituation bei Pflegebedürftigkeit bedingen, sieht sie ein Fortwirken dieser alten Ideen. Sie führt an zwei Beispielen aus, wie durch die Überlagerung von Alters- und Geschlechtsklassifikation die Hierarchie der Geschlechter verfestigt wird: erstens die Akkumulation gesellschaftlicher Macht über Männlichkeitsbilder und das höhere Alter von Männern im beruflichen Bereich und zweitens der Alters- und Erfahrungsvorsprung des Ehemannes in heterosexuellen Paarbeziehungen, der Frauen in der Position von Abhängigen belässt.

Zu 2. Neue Erkenntnisse zur Intersektionalität

Miranda Leontowitsch fasst den Forschungsstand zu Männern und Männlichkeit im Alter zusammen. Kritisch setzt sie sich mit dem üblichen Gebrauch des Modells der hegemonialen Männlichkeit auseinander (Cornell u.a. 1982), das als „alterslos“ erscheint. Neuere Befunde, die die „erlebte“ Männlichkeit älterer Männer in den Blick nehmen, zeigen eine Neujustierung und Veränderungen von Männlichkeit an: Empirische Erkenntnisse zu Großvaterschaft, Pflegetätigkeit älterer Männer und zu Verwitwung verweisen auf eine große Bandbreite von Erfahrungen für Männer und ihre erlebte Männlichkeit.

Lea Schütze widmet sich einer anderen, seltener beforschten Verknüpfung: Alter und homosexuelles Begehren. Mit dem Konzept der „Subjektordnung“, das sowohl strukturelle Benachteiligungen als auch ihre subjektive Aneignung umfasst, interpretiert sie ihre Daten aus einem Projekt zur Selbstbeschreibung älterer schwuler Männer. Ihre These: Erst die Analyse tatsächlicher sozialer Zusammenhänge kann die jeweilige Relevanz bestimmter Kategorien belegen. (Hier stimmt sie mit Josefine Heusinger- vgl. unten- überein). Ihre Konsequenz für die Forschung: zunächst müssen zwar die Kategorien als Strukturkategorien gesetzt werden, sie müssen aber später in dem Prozess der Analyse des Materials auch wieder „über den Haufen geworfen werden“ können. Damit belegt sie auch den Mehrwert, der aus einer intersektionalen Analyse erwächst.

Dieser Mehrwert findet sich auch in den von Anna Sarah Richter präsentierten Ergebnissen aus ihren Interviews mit alten Frauen und Großmüttern aus Ostdeutschland. Dabei wird sowohl die oft kritisierte Addition von Benachteiligungen sichtbar als auch das Phänomen, dass höheres Alter und Weiblichkeit in den subjektiven Deutungen unverbunden bleibt. So scheint es wohl verschiedene Formen zu geben, in denen sich die intersektionalen Verschränkungen und die damit verbundenen Ungleichheitsverhältnisse zeigen.

Josefine Heusinger hat die Sicht älterer Bewohner_innen auf ihren Alltag im Pflegeheim untersucht und fragt danach, ob und welche geschlechtsbezogenen Unterschiede sich dabei finden lassen. Sie stößt auf solche Unterschiede z.B. bei der Beurteilung der Beschäftigungsangebote im Heim oder bei der Bedeutung, die sozialen Beziehungen beigemessen wird. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass in einer „totalen Institution“ wie in einem Pflegeheim die Position als Pflegebedürftige(r) im Vordergrund steht und individuelle und erst recht geschlechtsbezogene Unterschiede in den Hintergrund drängt.

Zu 3. Verkörperung von Alter(n) und Geschlecht

Grit Höppner bezieht in ihre Analyse sowohl theoretisch als auch forschungspraktisch den Körper ein: Die Interviews kreisen um die Frage, wie die Schlankheitsnorm für den Körper bei Frauen und Männern im Alter wirkt. Bei der Auswertung analysiert Gritt Höppner auch die non verbalen Praktiken der Interviewten wie die Art ihres Sprechens, ihre Gesten und ihre Körperhaltungen. Sie arbeitet drei verschiedene Selbsttechniken heraus, die den Umgang der Interviewten mit dem Schlankheitsideal erfassen: 1. Die Bewertung der (nicht mehr schlanken) Figuren der Gleichaltrigen, 2. Die Modifizierung der Vorstellungen vom Schlanksein (zu schlank sein ist ungesund) und 3. Legitimierungen für das Nichterfüllen des Imperativs zur Schlankheit. Gerade Frauen nutzen die dritte Selbsttechnik, und können damit der Körperoptimierungsdebatte mit einer selbstbestimmten Position begegnen.

Julia Feiler untersucht die reproduktionsmedizinischen Diskurse zu „Social Freezing“ auf die darin enthaltenen Wissensproduktionen und die Konstruktionen zu Geschlecht und Alter. Auf der medizinischen Ebene wird weibliches Geschlecht und Alter als „doppelter Verlust“ dargestellt: Weibliches Altern wird mit dem Verlust der Fruchtbarkeit und einem erhöhten Risiko bei Schwangerschaft verbunden. Das weibliche Altern wird als Prozess beschrieben, bei dem das „Risikokapital Eizellen“ immer knapper und qualitativ schlechter wird, während männlicher Samen als stets frisch erneuert markiert wird. Mindestens der Verlust dieses „Kapitals“ kann durch das Einfrieren („Jung halten“) der Eizellen umgangen werden. Auf der gesellschaftlichen Ebene wird der Konflikt zwischen Anforderungen im Berufsleben (Präsens und ständige Verfügbarkeit) und individuellen Wünschen (Mutter werden) definiert. Auch für diesen Konflikt soll Social Freezing die Lösung bieten. Weiterhin werden gesellschaftliche Strukturen der (Un)vereinbarkeit von Berufs- und Sorgearbeit in den Diskursen nicht thematisiert, vielmehr wird das autonome Individuum aufgerufen, diesen Konflikt mithilfe des Social Freezing selbst zu lösen. Solche Konstruktionen der weiblichen Person bewirken, dass sich der Verantwortungsdruck auf Frauen und nur auf sie enorm zu erhöht.

Diskussion

Der Anspruch des Sammelbandes ist hoch. Er will die wissenschaftliche Diskussion vorantreiben und die Theorielosigkeit der Alterssoziologie sowie die Altersvergessenheit der Frauen-und Geschlechterforschung beheben. Dazu werden theoretische Arbeiten, empirische Studien und Diskursanalysen vorgestellt, die sich diesem Anspruch stellen. Den Beiträgen ist gemeinsam, dass sie nicht nur von der Notwendigkeit der Verschränkung der Kategorien Alter und Geschlecht ausgehen sondern dass sie auch durch Dekonstruktionen der Kategorien aufzeigen, wie eine Neubestimmung und Zusammenführung von Geschlechterforschung und Altersforschung möglich sein kann. Die Herausgeberinnen formulieren in ihrer Schlussbemerkung neue Fragestellungen und Forschungsdesiderate für die Zukunft. Insofern könnte von diesem Sammelband ein „Ruck“ durch die wissenschaftliche Landschaft gehen, der zu neuen Erkenntnissen im Themenfeld Alter(n) und Geschlecht führt. Erkenntnisse, die nicht nur dem Forschungsgegenstand angemessener sondern vielleicht auch handlungsorientierender werden könnten.

Fazit

Neben dem wissenschaftlichen Impuls, der diesem Buch zu wünschen ist, bieten die Beiträge auch eine gute „Denkschule“ für diejenigen, die selbst nicht wissenschaftlich arbeiten. Historisierung und Dekonstruktion von Alter und Geschlecht sind spannende Vorgänge, die für die politische und soziale Praxis wichtig werden können. Auch wenn einige Beiträge etwas sperrig daherkommen, es lohnt sich, durchzuhalten, um von dem Mehrwert der hier präsentierten intersektionalen Analysen überzeugt zu werden. Wer vor theoretischen Herausforderungen nicht zurückschreckt und wer kritische und differenzierte Analysen schätzt, der und dem kann dieser Band nur empfohlen werden.

Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 48 Rezensionen von Barbara Stiegler.

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ISSN 2190-9245