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Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.): Strategien gegen Altersarmut

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 20.07.2017

Cover  Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.): Strategien gegen Altersarmut ISBN 978-3-7841-3005-7

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.): Strategien gegen Altersarmut. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. - DV (Berlin) 2017. 96 Seiten. ISBN 978-3-7841-3005-7. 14,50 EUR.
Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2/2017.

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Thema

Spätestens seit der Enttäuschung über die angebliche Wohltat der Riester-Rente ist man mit prognostischen Maßnahmen in der Alterssicherung vorsichtiger geworden. Jede Generation wird neu vor der Aufgabe stehen, ihr überkommenes System der Alimentierung ihrer Altenpopulation neu zu justieren. Dazu gehört auch die Bekämpfung der Altersarmut, der der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge DV Heft 2 seines Archivs für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2017 in Herausgeberschaft von Gerhard Naegele gewidmet hat.

In neun Aufsätzen des 96seitigen Heftes „Strategien gegen Altersarmut“ mit Ausblicken über den deutschen Tellerrand auf die Nachbarn Schweiz und Österreich zeigt sich, dass die Alterssicherung immer da Altersarmut besser angeht, wo das individuell aus dem Versicherungsverlauf zurechnende Äquivalenzprinzip nachhaltig von universellen Gesichtspunkten der Bedarfssicherung überlagert wird. Das setzt freilich die staatliche Bereitschaft voraus, das versicherungsmathematisch individuell Erworbene durch staatliche Ausgleiche zu ergänzen.

Herausgeber

Professor Dr. rer. pol. habil. Diplom-Volkswirt Gerhard Naegele bekleidete bis 2013 den Lehrstuhl für Soziale Gerontologie der Universität Dortmund und amtiert als Direktor des Instituts für Gerontologie an der Technischen Universität Dortmund.

Aufbau

Das Heft „Strategien gegen Altersamut“ thematisiert die anstehenden Probleme fragmentierter Arbeitsmärkte, misslingender Selbstständigkeit, Zuwanderung und Invalidität für das individuell unzureichende Niveau der Alterssicherung.

In neun Aufsätzen sozialpolitischer Experten werden Genese und Reformmöglichkeiten des deutschen Rentenversicherungssystems unter Ausblick auf die vorbildhaften schweizerischen und österreichischen Lösungen und auf hilfreiche Netzwerkinitiativen vor Ort erörtert. Dahinter klingen armutsverhindernde Möglichkeiten an wie die Verbreiterung des Versichertenkreises, die bedarfsgerechte Aufwertung der Eigenbeiträge, eine breitere Einbeziehung der Einkünfte in die Beitragspflicht und eine geringere Anrechnung des Erworbenen auf die grundsichernde Versorgung.

Inhalt

Reinhold Thiede von der Deutschen Rentenversicherung Bund Berlin zeichnet die Grundprinzipien des deutschen Rentenversicherungssysems nach, prüft aber auch Reformvorschläge auf ihre Eignung zur Vermeidung von Altersarmut. Die drei Säulen Erwerbsbiographie, Betriebliche Alterssicherung und private Vorsorge werden momentan durch das Grundsicherungsnetz flankiert. Die erste Säule fußt auf dem Äquivalenzprinzip und hat damit individuellen Zuschnitt mit sozialen Ausgleichen. In der armutskompensierenden Grundsicherung könnten künftig auch mehr Elemente der Drei-Säulen-Summanden anrechnungsfrei bleiben. Die unterschiedlichen Systeme sollten sich nämlich nicht gegenseitig beeinträchtigen, sondern unterstützen.

Ute Klammer vom Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen lenkt den Blick auf besondere Risikogruppen wie Frauen, frühere Selbstständige, Zuwanderer, Diskontinuierliche und ermittelt den Handlungsbedarf zu deren Gunsten. Wichtig erscheinen ihr präventive Ansätze einer Lebenslaufpolitik mit Mindestbeitragspflichten für alle Tätigkeiten. Die Autorin fordert hier stärkeren politischen Gestaltungswillen ein.

Andreas Wittrahm schildert als Caritas-Bereichsleiter Aachen die im Alter steigenden Bedarfe für Gesundheit, Mobilität und unterstützende Dienste, für die die Sozialpolitik Ressourcen mobilisieren muß. Netzwerke, die die Bedarfe auffangen, verdünnen sich, wenn sich die Kommunen zurück ziehen. Dies bleibt angesichts der statistisch noch immer unterdurchschnittlichen Altersarmut leider unbeachtet. So konterkarieren Resignation und Destruktivität leider viele partizipativen Unterstützungsangebote.

Magnus Brosig will Altersarmutsbekämpfung nicht nur auf Umschichtungen am unteren Einkommensrand beschränkt sehen. Das gesamte Soziale Sicherungssystem hat für ihn im Blick zu bleiben. Das Rentenversicherungssystem habe in der Bevölkerung ein starkes Beharrungsvermögen, so dass ein großer Wurf wie die Grundrente für alle ausbleiben dürfte. Dennoch versucht sich der Autor an einem grundlegenden Reformmodell mit den sechs Optionen Vorleistunsabhängigkeit, Bedarfsabhängigkeit, Sicherungsniveau, Universalität, Privatvorsorge und Steuermitfinanzierung.

Yasmin Fahimi nimmt als in Verantwortung stehende Politikerin Dampf aus dem Kessel übertriebener Ängste und Dramatisierungen hinsichtlich künftiger Altersarmut. Sie will mit Ausgleichen bei Erwerbsminderung, Einbezug weiterer Personen in die Rentenversicherung und „guter Arbeit“ ansetzen. Sie hütet sich vor Prognosen über Anteile künftiger Grundsicherungsempfänger, weil sie Altersarmut eher als individuelles Phänomen ansieht. Insofern leugnet sie auch den Zusammenhang zwischen Rentenniveau und Altersarmut.

Der Vechtaer Gerontologe Uwe Fachinger lenkt den Blick auf technische Hilfen für ein selbstbestimmes Alter und mutmaßt eine geringere Nachfrage nach solchen Assistenzsystemen als deren Kapazitäten verfügbar sind. Denn die Unter-Nutzung hängt mit finanzieller Zurückhaltung und Geld-Knappheit bei Privaten, Sozialleistungsträgern und Kommunen zusammen. Auch an der Komplexität mancher Produkte hängt die Mindernutzung. Die Informationsdichte sollte erhöht werden. Die Kommunen haben hier wichtige Gestaltungsaufgaben.

Am Beispiel der westfälischen Großstadt Münster schildern Jürgen Ribbert-Elias und Stefanie Glaßmeier aktive Altersarmuts-Bekämpfung bei sozial benachteiligten alten Menschen mit dem Programm „Fallmanagement Teilhabe im Alter“ FMThiA mittels Integration und Partizipation. Für das Projekt wurde die Methode des Case Management genutzt. Gearbeitet wurde mit materiellen sowie gesundheitsdienstlichen Hilfen und Kontakt-Anbahnung. Die Evaluation erfolgte auch mittels Eindrücken der eingesetzten Fall-Managerinnen.

Das vielfach vorbildlich armutsvermeidend erkannte österreichsche Alterssicherungssystem unterzieht Helmut Ivansits von der Arbeiterkammer Wien einem Vergleich mit dem deutschen System. Österreich kennt einen breiteren, der Bürgerversicherung nahe kommenden Versichertenkreis und hat nach dem Jahr 2000 keine Pensionsabsenkungen vorgenommen. Dadurch sind Österreichs Pensionen lebensstandard-näher als die deutschen Renten. Gutgeschrieben werden den österreichischen Erwerbstätigen nämlich Anteile an der jährlichen allgemeinen Verdienst-Beitragsgrundlage. Sie sollen damit 80 Prozent ihres letzten Bruttoeinkommens als Pension erhalten. Damit ist das österreichische System stärker entindividualisiert als das deutsche. Die in Deuschland ins Wanken gekommenen Säulen zwei und drei (Betriebsrenten, private Vorsorge) spielen in Österreich nur eine untergeordnete Rolle. Als Grundsicherung kennt Österreich eine von amtswegen einsetzende Ausgleichszulage (von 300 € über einem zu erhöhenden Pensionsbetrag bis/unter 1.000 €).

Das Schweizer Säulen-Modell aus Volksversicherung, beruflicher Vorsorge und staatlich geförderter Selbstvorsorge umreißt Walter Schmid von der Hochschule Luzern für Soziale Arbeit. Das zentrale Element Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV eröffnet universell allen Personen mit unplafondierter Beitragspflicht die in der Höhe freilich auf das Doppelte der Minimalrente von 1.100 € beschränkte, inflationsgesicherte Volksrente. Der Solidaritätsgedanke ist darin stark ausgeprägt. Erwerbstätige haben seit 1985 zusätzlich eine ihren Lebensstandard aufrecht erhaltende berufliche Absicherung für Alter, Verwitwung und Behinderung. Seit 1972 existiert noch eine fiskalisch und steuerlich geförderte Selbstvorsorge in Sparen und Eigentumsbildung. Bedürftigen am unteren Ende der Volksrente ohne zusätzliche berufliche und Selbst-Vorsorge helfen Ergänzungsleistungen, die auch den Pflegebedarf abdecken. Das bis zu den Weltwirtschaftskrisen um das Jahr 2000 stabile System geriet mit den immer geringeren Kapitalerträgen in Probleme, weshalb die Schweiz 2014 eine umfassende „Reform 2020“ einleitete, die noch der Umsetzung in der Volksabstimmung am 24. September 2017 harrt.

Diskussion

Die in der Länge gut dosierten und trotz mancher versicherungsmathematischer Exkurse noch verständlichen Beiträge des Heftes „Strategien gegen Altersarmut“ stoßen zumindest zwischen den Zeilen auf Möglichkeiten der Vermeidung künftiger Altersarmut vor. Jeder der neun Beiträge verbleibt aber derart in seinem eigen-gesetzten Fokus seiner System-, Netzwerk- oder Länder-Betrachtung, als dass sich eine konzise Überschau ergeben könnte. Dazu trägt sicher bei, dass Herausgeber Gerhard Naegele den Akzent in seinem Geleitwort für das DV-Heft auf die zivilgesellschaftlichen und kommunalpolitischen Hilfen für sozial benachteiligte alte Menschen und auf das Gesamt ihrer Lebenslagen setzt.

An vielen Stellen wäre ein stärkeres Rekurrieren auf sozialpolitische Grundprinzipien wünschenswert gewesen. Denn auch das deutsche Alterssicherungssystem ist durchaus wandelbar, hat es doch zwei Weltkriege und Inflationen und Wirtschaftskrisen überstanden. Allerdings widerstreiten sich in ihm Kräfte der Beharrung (auf das individuums-zentrierte Äquivalenzprinzip) und anpassungsfähiger Vorausschau (mit sozialen Ausgleichen nach dem Solidarprinzip und einer breiteren Zusammensetzung des Versichertenkreises). Sicher werden innerhalb der Koordinaten Äquivalenz und Solidarität, Indvidualbezug und Universalität neue Positionen zu beziehen sein, die das System armutsresistenter machen können.

Ob neben den hierfür wichtigen Makro-Akteuren Staat und gesamtstaatliche Versicherungsträger auch vor Ort aktiven sozialen Netzwerken mit informierenden und kontakt-stiftenden Akteuren eine derart hilfreiche Funktion zukommt, wie einige Beiträge des Heftes glauben machen wollen, darf bezweifelt werden. Natürlich sollen sich auch die Kommuen nicht aus der Bekämpfung von Altersarmut zurück ziehen. Gegenüber den positiven Alterssicherungs-Beispielen aus Österreich und der Schweiz wirken diese kommunalen Appelle aber doch sehr kleinteilig.

Österreich widerstand dem wirtschaftsliberalen Zeitgeist um die Jahrtausendwende und hat mit lebensstandard-sichernden Renten und einer wirksamen Ausgleichszulage ein vorbildhaftes, Armut weitgehend ausschließendes Alterssicherungssystem geschaffen und weiter entwickelt.

Auch die Schweizer Alterssicherung kann mit ihrem Drei-Säulen-Modell aus Volksrente, beruflicher Vorsorge und Selbstvorsorge als aufgaben-adäquat gelten, muss aber wegen sinkender Kapitalerträge und wegen Wandlungen auf Schweizer Arbeitsmärkten mit einer einige Ansprüche beschneidenden Reform vor das Volk treten.

Im Ergebnis bleibt folgende Schluss-Einsicht, die im Heft „Strategien gegen Altersarmut“ stärker hätte resümiert werden müssen: Erwerbsgruppenbezogene Alterssicherungen mit individuell-äquivalent zurechenbaren Ansprüchen werden zunehmend obsolet und unzulänglich. Stattdessen sollten Vorschläge wie Ausweitung der Alterssicherung auf alle Bevölkerungsgruppen (Bürgerversicherung) und unplafondierte Verbeitragung aller Einkünfte (Abkehr von der Beitragsbemessungsgrenze) sowie effektive Auffangsicherungen (Grundsicherung, Ausgleichszulagen, Ergänzungsleistungen) stärker beachtet werden.

Die nicht immer stringente Darbietung der Ideen des Heftes „Strategien gegen Altersarmut“ zeigt sich auch im Dissens zwischen den Beiträgen Yasmin Fahimis und Helmut Ivansits bei der Frage, ob eine Senkung des Rentenniveaus die Altersarmut erhöht oder nicht, was Fahimi verneint, Ivansits hingegen bejaht. Das direktive Vorgehen in der Armutsbekämpfung der Stadt Münster nach dem „Fallmanagement Teilhabe im Alter“ FMThiA wirft die Frage auf, ob hier noch klientenzentrierte Soziale Arbeit im Sinn von Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wurde. Der Aufsatz Magnus Brosigs zu den Reformoptionen löst sein gestecktes Ziel nicht ein, das Gesamtsystem der Alterssicherung in den Blick zu nehmen, da er zu sehr an einzelnen Reformmodellen orientiert bleibt, die aus verschiedenen politischen Lagern kamen und kommen.

Fazit

Das Heft „Strategien gegen Altersarmut“ des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge gibt mit seinen kundigen Beiträgen wichtige Fingerzeige zur Überwindung der künftig bei Nichtstun steigenden Altersarmut. Die vielfältigen Gesichtspunkte von möglichen Ergänzungen und Verbesserungen des derzeitigen deutschen Systems mit Annäherung der Sozialleistungsprinzipien, Universalität und Flankierung vor Ort hätten in einem resümierenden Gesamtbeitrag zusammen geführt werden sollen.

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 20.07.2017 zu: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. (Hrsg.): Strategien gegen Altersarmut. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. - DV (Berlin) 2017. ISBN 978-3-7841-3005-7. Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2/2017. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22778.php, Datum des Zugriffs 28.11.2023.


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