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Martin Lilkendey: 100 Jahre Musikvideo

Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Drees, 18.09.2017

Cover Martin Lilkendey: 100 Jahre Musikvideo ISBN 978-3-8376-3776-2

Martin Lilkendey: 100 Jahre Musikvideo. Eine Genregeschichte vom frühen Kino bis YouTube. transcript (Bielefeld) 2017. 193 Seiten. ISBN 978-3-8376-3776-2. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 31,60 sFr.

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Thema

Von der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 über Musikkurzfilme für die Jukebox bis hin zu MTV und der heutigen Generation YouTube: Der vorliegende Band zeichnet erstmals detailliert die gesamte Geschichte des Musikvideos in der westlichen Welt nach. Auf Grundlage einer präzisen Definition des populären Musikkurzfilms und der präzisen Einordnung des Musikvideos als eigenständige Genre außerhalb des Musikfilms setzt der Autor eine filmhistorische Klammer zwischen dem frühen Kino und der heutigen YouTube-Praxis und macht dabei deutlich, dass es sich bei der Geschichte des Musikvideos auch um eine Geschichte der Medien handelt.

Autor

Martin Lilkendey (*1970) lehrt an der Universität Koblenz-Landau Kunstpraxis und Kunstwissenschaft mit den Schwerpunkten Musikvideo und Porträtfotografie. Er war langjähriger Freier Producer der Satation Promotion VIVA Fernsehen und Discjockey elektronischer Musik. Die Ausführungen des Buches basieren zum Teil auf eigenen Erfahrungen mit der Produktion von Musikkurzfilmen.

Aufbau

Lilkendey gliedert sein Buch in insgesamt sechs aufeinander aufbauende Kapitel, denen er als Ergänzung noch einen Anhang folgen lässt:

Im 1. Kapitel (Was ein Musikvideo ist) durchleuchtet der Autor zunächst den Begriff „Musikvideo“. Im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit den bisher in der Forschungsliteratur auftretenden Auffassungen und anhand dreier Beispielanalysen bestimmt er Form, Inhalt und Funktion dieses Terminus und kommt schließlich zu einer wesentlich allgemeineren Definition des „Musikkurzfilms“ als eigenständigem Filmgenre, die ihm als Grundlage für die Ausführungen in den folgenden Kapiteln dient. Dabei diskutiert er auch die medientheoretischen Bezüge dieses Ansatzes.

Das 2. Kapitel befasst sich mit der Frühgeschichte des Musikvideos: Ausgehend vom ersten Musikkurzfilm überhaupt betrachtet Lilkendey die während der Stummfilmzeit entstandenen Musikkurzfilme und ihre Produktionsbedingungen, beleuchtet die damit verknüpfte Aufführungspraxis und leitet schließlich zur Entstehung des Tonfilms über.

Das 3. Kapitel (Musikkurzfilme nach 1930) fokussiert auf diverse Typen des Musikkurzfilms und die damit verknüpften Medienkonfigurationen. Gegenstand sind die entsprechenden Kurzfilme im Vorprogramm von Kinovorstellungen, die als Soundies bezeichneten Jukeboxen, die ab den 1940er Jahren Jazzmusikkurzfilme gleichen Namens auf eine Mattscheibe projizierten, sowie deren Nachfolger in den 1960er Jahren, die sogenannten Scopitones mit den dafür produzierten Filmen.

Im 4. und umfangreichsten Kapitel geht es um Musikkurzfilme im Fernsehen. Zunächst richtet Lilkendey seinen Blick auf die USA und verfolgt die Entwicklung dieses neuen Typus von Musikkurzfilmen von der Platzierung der Soundies im TV-Programm über eigene TV-Produktionen im Rahmen von Familienshows und Musikshows für Teenager bis hin zum Spartenprogramm des Senders MTV in den 1980er Jahren mit seinen von der Industrie massenhaft vorproduzierten Musikfilmen. Im Anschluss daran betrachtet der Autor die Entwicklung des Musikfernsehens in Europa, was er durch eine statistisch untermauerte Untersuchung der Musik im deutschen Fernsehen zu einem besonderen Schwerpunkt seiner Studie formt.

Im Mittelpunkt des 5. Kapitels (Musikkurzfilme im Internet) stehen die jüngsten, in Folge einer Demokratisierung der Produktionsmittel greifbaren Tendenzen zur Verlagerung des Musikkurzfilms ins Internet. Stellvertretend für andere Internet-Plattformen nimmt Lilkendey diesbezüglich das 2005 gegründete Videoportal YouTube als neue Art von Musikfernsehen unter die Lupe und beleuchtet die Wandlung der dort hochgeladenen Musikkurzfilmformate, die zunehmend auch von privaten – urheberrechtlich problematischen – Beiträgen, etwa Neuinterpretationen bekannter Musikvideos, bestimmt sind.

Im abschließenden 6. Kapitel (Zusammenfassung und Ergebnisse) leistet der Autor eine kurze Zusammenschau der historischen Entwicklungen und fasst die wichtigsten Ergebnisse seines Buches auf engem Raum noch einmal übersichtlich zusammen.

Der Anhang enthält neben einer ausführlichen Bibliografie ein Personen- und Sachregister.

Inhalt

Bereits der Titel von Lilkendeys Buch gibt – freilich in stark verknappter Form – die Grundthese wieder, dass Musikvideos auf eine fast durchgängig historisch nachzuweisende, (mehr als) hundertjährige Geschichte zurückblicken, wobei sich lediglich Produktions- und Distributions- bzw. Reproduktionsbedingungen veränderten, weil sie eine inhaltliche und formale Bindung an sich wandelnde technische Gegebenheiten erfuhren (S. 9). Hiermit richtet sich der Autor gegen die immer noch weit verbreitete Auffassung, wonach Musikvideos vom Fernsehen oder der Tonträgerindustrie erfunden wurden und eng an die Entwicklung des Mitte der 1970er Jahre als Speichermedium aufgekommenen Videobands geknüpft waren. Ihr stellt er die weitaus allgemeinere, filmhistorisch relevante Definition gegenüber, dass es sich bei Musikvideos in technischer Hinsicht zunächst um „Kurzfilme“ handelt, „die mit verschiedenen Aufnahmeverfahren hergestellt werden können, wobei ein besonderer Wert auf den Look gelegt wird“ (S. 19). Bedeutsamste Kennzeichen ist dabei ein durch Synchronisierung von Musik und Bild ausgebildetes Film-Ton-Gefüge, „das nicht verändert werden will und reproduzierbar ist“ (ebd.). Da es von Anfang an auf die Unterhaltung des Publikums ausgerichtet ist, bestimmt Lilkendey den Musikkurzfilm darüber hinaus als Produkt der Unterhaltungsindustrie, „in dem ein populäres Musikstück filmisch, narrativ, performativ oder assoziativ thematisiert und gleichzeitig hörbar wird“ (S. 24).

Zwar wird die feste Verbindung von akustischer und optischer Komponente erst mit der Erfindung des Tonfilms möglich, doch hat sie bedeutsame Vorläufer, die sich bis in die Anfangszeit des Films verfolgen lassen und von dort ausgehend die Frühgeschichte des Kinos bestimmen. Daher macht es auch Sinn, den Musikkurzfilm als eigenständiges Filmgenre von „einzigartiger Kontinuität“ (S. 34) zu betrachten. Lilkendey weist die Gültigkeit seiner Kriterien bereits an einem 17sekündigen filmischen Experiment von William Dickinson aus den Jahren 1894/95 nach. Auch wenn die dort angestrebte Synchronisation von Filmbildern und auf Tonwalze aufgezeichneter Musik noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, unterscheidet sich das Ergebnis kaum von dem, was sich in den Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende bis zur Durchsetzung des Tonfilms als Standard für die im Kinovorprogramm eingesetzte industrielle Musikkurzfilmproduktion herausbildete. Anhand zeitgenössischer Berichte kann der Autor zudem zeigen, dass sich die Produktionsmethoden aus dieser Zeit kaum von dem bis heute gängigen und auch von YouTube-Nutzern bei der Herstellung privater Musikkurzfilme gepflegten Vorgehen unterscheiden: „Die Musik wird zuerst aufgezeichnet, dann bei der Produktion abgespielt, damit die Interpreten dazu im Playback mimen können.“ (S. 42)

Diskussion

Lilkendeys Werk erweist sich als sehr gut recherchierte wissenschaftliche Studie, die viel dazu beitragen kann, die bisherigen Forschungsansätze, vor allem aber die Deutung dessen, was – im weitesten Sinne – überhaupt als Musikvideo angesehen wird, zu revidieren. Besonders positiv ist, dass der Autor diesbezüglich mit zahlreichen Klischees und Fehlurteilen aufräumt. Erwähnenswert ist auch die typografische Gestaltung: Zentrale Passagen mit eigenen Definitionen und näheren inhaltlichen Bestimmungen zum Musikkurzfilm werden durch ein kursiviertes Absatzformat vom Rest des Textes absetzt, wodurch Lilkendey die Aufmerksamkeit auf wichtige Details seiner Ausführungen lenkt und eine rasche Orientierung innerhalb der Kernaussagen ermöglicht.

Indem der Autor die historischen Entwicklungen immer wieder an die Frage nach den Produktions- und Distributionsmechanismen zurückbindet, gelingt es ihm, auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen der aufgezeigten Entwicklungen sowie ihre enge Verknüpfung mit der Mediengeschichte sichtbar zu machen. Dass Lilkendey in diesem Zusammenhang einen besonderen Akzent auf die Untersuchung der Verbreitung von Musikkurzfilmen im deutschen Fernsehen legt, ist zwar gleichfalls erfreulich, führt aber auch dazu, dass ein großer Teil des vierten Kapitels sehr stark von Statistiken und grafischen Darstellungen dominiert ist. Keinen rechten Mehrwert hat zudem die Integration von Interviews mit diversen Persönlichkeiten aus der Szene, da sie nicht nur zur heterogenen und ausufernden Erscheinungsweise der entsprechenden Buchteile beiträgt, sondern die Gespräche oftmals auch erheblich von Suggestivfragen bestimmt sind, wodurch ihre Aussagekraft eher gering ist.

Ein Problem des Bandes liegt in seiner Beschränkung, die der Autor freilich von vornherein im Klappentext durch Verweis auf die „Geschichte des Musikvideos in der westlichen Welt“ akzentuiert. Dass dadurch spezifische Entwicklungen aus nicht-westlichen Kulturkreisen – hier ist insbesondere an historisch weiter zurückreichende Tendenzen zur Verwendung von Musik innerhalb des indischen Kinos und damit einhergehender Kurzfilm-Formate zu denken – dezidiert ausgeklammert werden, markiert eine Lücke, die durch weitere Forschungen zu schließen ist. Die Entscheidung für die – verständliche – Beschränkung dürfte vor allem der Fülle des verfügbaren Materials geschuldet sein; zudem lässt sich mutmaßen, dass der Entwicklungsverlauf während der zurückliegenden vier Jahrzehnte Analogien zu den historischen Entwicklungen in der westlichen Welt aufweist.

Als Lücke empfinde ich allerdings, dass Lilkendey die seit gut zwei Jahrzehnten vermehrt auftretenden Musikkurzfilme aus dem Bereich der klassischen Musik nahezu vollständig ausklammert, weil sie offenbar nicht seiner Definition des Umgangs mit populären Musikstücken entsprechen. Da allerdings die Trennung zwischen ernster und populärer Musik in den Anfangszeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch keine Rolle spielte, macht es auch aus aktueller Perspektive keinen rechten Sinn, eine Grenze zwischen den unterschiedlichen Musikrichtungen zu ziehen. Hier wäre zumindest ein kurzer Blick auf bestimmter Tendenzen – etwa die Verwendung klassischer Musikclips als Mittel der Werbung sowie ihre Funktion als visuelle Erweiterung digital erhältlicher Alben – lobenswert gewesen, auch wenn solche Kurzfilme gegenüber der massenhaften Produktion aus dem Sektor der Popmusik im Gesamtbild eine eher marginale Rolle spielen.

Fazit

Insgesamt schärft Martin Lilkendeys Publikation den Blick für die historischen und mediengeschichtlichen Zusammenhänge in Bezug auf die Entwicklung des Musikkurzfilms. Dies dürfte letzten Endes nicht nur für die Popular- und Filmmusikforschung, sondern beispielsweise auch für Forscherinnen und Forscher aus den Kulturwissenschaften oder der Soziologie von großem Interesse sein.

Rezension von
Prof. Dr. Stefan Drees
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Es gibt 14 Rezensionen von Stefan Drees.

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ISSN 2190-9245