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Susanne Heynen, Frauke Zahradnik: Innerfamiliäre Tötungsdelikte (...)

Rezensiert von Sabine Hollewedde, 07.11.2017

Cover Susanne Heynen, Frauke Zahradnik: Innerfamiliäre Tötungsdelikte (...) ISBN 978-3-7799-3709-8

Susanne Heynen, Frauke Zahradnik: Innerfamiliäre Tötungsdelikte im Zusammenhang mit Beziehungskonflikten, Trennung beziehungsweise Scheidung. Konsequenzen für die Jugendhilfe. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 135 Seiten. ISBN 978-3-7799-3709-8. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.

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Thema

Jugendarbeit konzentriert sich meist auf Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, wenn sie von Gewalt betroffen sind. Diese Studie untersucht dagegen die Bedürfnisse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die einen Familienangehörigen durch ein innerfamiliäres Gewaltverbrechen verloren haben und macht damit zugleich aufmerksam auf den Zusammenhang von gewaltgeprägten Beziehungen zwischen Eltern und Gewalt gegen Kinder. In den meisten der vorgestellten Fälle betrifft dies die Mutter, welche durch Vater oder Stiefvater getötet wurde. Das Buch richtet das Augenmerk auf die Situation der überlebenden Kinder und auf deren Hilfebedürfnisse nach diesem derart einschneidenden Erlebnis, durch welches sie i.d.R. beide Elternteile auf einmal verlieren.

Die Studie untersucht mittels explorativer Interviews mit (inzwischen erwachsenen) Betroffenen die Situation und die Bedürfnisse Jugendlicher nach einem innerfamiliären Tötungsdelikt. Aus den Ergebnissen sollen, so die Autorinnen einleitend, „Schlussfolgerungen für die Verbesserung der Praxis der Jugendhilfe und angrenzender Systeme gewonnen werden.“ (S. 11)

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt und stellt zunächst den Hintergrund sowie den Forschungsstand auf dem Gebiet vor, worauf in Kapitel 4 Forschungsfrage und Durchführung des Projekts präsentiert und abschließend die Ergebnisse diskutiert und Konsequenzen für die Jugendarbeit gezogen werden.

Forschung und Ausbildung in der Jugendarbeit konzentrieren sich vor allem auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen bei innerfamiliärer Gewalt gegen die Kinder selbst. Die Folgen eines innerfamiliären Tötungsdeliktes für Jugendliche stellen einen weitgehend unerforschten Bereich dar. Diese „Lücke im Kinderschutz“ (S. 11) zu beheben, setzt die Studie von Heynen und Zahradnik an, welche in Zusammenarbeit mit Alexandra Schmidt entstand. Die Relevanz der Studie wird durch den aktuellen Forschungsstand verdeutlicht: Es herrsche eine „Unterschätzung des Zusammenhangs zwischen Tötungsdelikten und häuslicher Gewalt“ (13) und Trennungen und Scheidungen würden in der Forschung primär als „Lösungsstrategien und weniger als Risikofaktoren für Gewalteskalation wahrgenommen.“ (S. 12) „In Deutschland wird, mit wenigen Ausnahmen, weder in fachlichen Diskursen zur Verbesserung des Kinderschutzes, bei gesetzlichen Veränderungen […], noch beim Ausbau der Infrastruktur […] der Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt, Trennungskonflikten und Gewalt gegen Kinder berücksichtigt.“ (S. 14)

Die vorliegende Untersuchung setzt dementsprechend bei der Prävalenz verschiedener Gewaltformen an und stellt zunächst verschiedene Formen von Tötungsdelikten in einen Kontext mit gewaltförmigen Familienstrukturen, wobei bereits deutlich wird, dass der Forschungsgegenstand innerfamiliäre Tötungsdelikte im Kontext von Trennungen und Beziehungskonflikten sehr heterogene Fälle mit unterschiedlichsten Vorgeschichten und Dynamiken umfasst. Gesellschaftliche, gesetzliche und fachlich-methodische Entwicklungen werden im dritten Kapitel knapp vorgestellt, worauf in Kapitel vier das Forschungsprojekt, das in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt Karlsruhe durchgeführt wurde, erläutert wird. „Ziel ist es, das Erleben von Kindern und Jugendlichen zu erfassen, die ein innerfamiliäres Tötungsdelikt im beschriebenen Kontext überlebt haben.“ (S. 38) „Die Studie soll das Verständnis für die besonderen Belange der Überlebenden fördern und Anregungen geben für eine Verbesserung der Praxis der Jugendhilfe und ihrer Partnerinnen und Partner“. (S. 38) Dazu wurden Interviews mit betroffenen jungen Erwachsenen geführt, die sich vor allem auf die Geschehnisse und Bedürfnisse nach der Tat, aber auch auf die Betreuung oder Nicht-Betreuung und Hilfe vor dem Tötungsdelikt konzentrierten. Die Stichprobe umfasst unterschiedliche Fälle: „Die überwiegende Anzahl der Todesopfer [in den Familien der Befragten; S.H.] sind die Mütter der Befragten (9), außerdem betroffen sind Väter (2), Geschwister (2) und neue Partner der Mutter (2).“ (S. 47) Das Alter der Befragten zum Tatzeitpunkt ist ebenfalls sehr unterschiedlich, woraus sich auch eine unterschiedliches Erleben und unterschiedliche Folgeprobleme erklären, sie alle waren aber zum Zeitpunkt der Tat unter 20 Jahre alt.

In Kapitel fünf werden dann die Forschungsergebnisse detailliert vorgestellt. In Bezug auf die innerfamiliären Beziehungen und Belastungen vor der Tat ließ sich feststellen, dass es große Unterschiede in den betroffenen Fällen gab. Nicht in allen Familien herrschte vor der Tat Gewalt, jedoch wurden „soziale Belastungen und eine negative Beziehungsdynamik“ (S. 51) von den Betroffenen geschildert. Fand Gewalt bereits vor der Tat statt, so war diese nicht nur zwischen den Eltern ein Problem, sondern richtete sich meist auch gegen die Kinder. Alarmierend ist, dass die Kinder in den meisten Fällen keine Hilfe von Jugendamt oder Bekannten bekamen und teilweise eine wachsende Isolation der Familie/des gewalttätigen Vaters die Dynamiken noch verstärkte. Die sozialen Belastungen innerhalb der Familien waren vielfältig und vielschichtig. Brüchig wurde das Beziehungsgefüge häufig, wenn sich die Rollenverteilung änderte, etwa durch einen sozialen Aufstieg der Frau oder durch Arbeitslosigkeit des Mannes.

Auch die Tatsituation verlief jeweils sehr unterschiedlich. Wenn die Kinder selbst vor Ort waren, so wurden sie direkt mit dem Geschehen konfrontiert und leiden oft unter der Frage, ob sie die Tat hätten verhindern können. Waren die Kinder nicht vor Ort, so wurde die Nachricht auf unterschiedlichen Wegen überbracht: durch die Polizei, in der Schule durch einen Lehrer – in einem Fall wurde der Betroffene nur durch Andeutungen (des-)informiert und so bis zur Beerdigung im Unklaren darüber gelassen, ob seine Mutter noch lebte. Die Unterbringung der Kinder/Jugendlichen nach der Tat war entsprechend dem unterschiedlichen Alter und je nach Familienkonstellation verschieden. Zumeist aber wurden die Betroffenen innerhalb der Familie untergebracht, wobei nicht von professioneller Unterstützung der aufnehmenden Familie berichtet wurde. Die Zeit nach der Tat ist für die Jugendlichen und für ihre Perspektive von großer Bedeutung, gleichwohl wurden emotionale und finanzielle Probleme der Betroffenen wenig beachtet. „Hinzu kommt, dass ein Teil der Interviewten in der dem Tötungsdelikt nachfolgenden Unterbringung ebenfalls Gewalt erlebte.“ (S. 79) Erfahrungen mit dem Jugendamt werden in dieser Phase als i.d.R. nicht sehr hilfreich wahrgenommen. „Strukturelle Defizite wie häufig wechselnde Zuständigkeiten und fehlende Kompetenz, mit Kindern und Jugendlichen zu sprechen, werden deutlich als Hindernis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit wahrgenommen.“ (S. 87)

Der Kontakt zu Täter oder Täterin gestaltet sich nach der Tat recht unterschiedlich. Manche Betroffenen suchten den Kontakt zum verbliebenen Elternteil, der aber eben auch nicht mehr in seiner Rolle als Vater/Mutter agieren konnte. Auffällig ist, dass auch hier nie „von einer professionellen Begleitung oder Aufarbeitung der Beziehung berichtet“ wurde. Die Beziehung zu Geschwistern ist für die Betroffenen meist sehr wichtig, jedoch kann es (z.B. aufgrund von materiellen Unterschieden) auch zu einer Konkurrenzsituation kommen, zumal Geschwister nach einem Tötungsdelikt häufig getrennt untergebracht wurden und „in der Hilfeplanung ihre Beziehung zueinander wenig berücksichtigt wird.“ (S. 96)

Die psychosozialen Belastungen, welche die Betroffenen erleiden, sind, wie anzunehmen, vielfältig. Fast alle Betroffenen leiden nach der Tat an verschiedenen psychischen Problemen und/oder körperlichen Beschwerden, die von Magenproblemen über Depressionen bis zu Suizidhandlungen reichen. „Die Interviewten schildern Schuld- und Schamgefühle, geringes Selbstbewusstsein und die Erfahrung sozialer Isolation und interpersoneller Schwierigkeiten. Hinzu kommt ein starkes Affekterleben.“ (S. 97) Das Vertrauen in Menschen ist nach einer solchen Erfahrung tief erschüttert. Psychotherapeutische Hilfe wurde teilweise in Anspruch genommen, wobei diese nur teilweise über das Jugendamt vermittelt wurde. Oft wird der Versuch der psychologischen Aufarbeitung abgelehnt, kann aber auch als positiv und stützend wahrgenommen werden, was davon abzuhängen scheint, wie der jeweilige Therapeut auf den Betroffenen eingehen konnte. „Kenntnisse über die besondere Lebenssituation der Betroffenen werden sehr positiv wahrgenommen.“ (S. 102)

Für junge Volljährige stellen sich nach einer solchen Tat spezielle Probleme, da sie oft neben der Verarbeitung der Tat und des Verlustes eines Elternteils damit konfrontiert sind, plötzlich ohne (finanzielle) Unterstützung zu leben und keinen Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe haben (vgl. S. 107). Zudem können „sie selbst unter Tatverdacht geraten“ und tragen „Verantwortung in Bezug auf die Folgen des Tötungsdelikts, wie die Organisation der Beerdigung“. (S. 107)

Der von den Betroffenen selbst formulierte Hilfebedarf schließt die Studienergebnisse ab (vgl. S. 107 ff):

  • Wunsch nach elterlichen Bezugspersonen und sicheren Bindungen;
  • Wunsch nach emotionaler Unterstützung und vertrauenswürdigen Ansprechpersonen;
  • Wunsch nach Erhalt von Erinnerungsstücken und positiver Erinnerung;
  • Wunsch nach Unterstützung der schulischen und beruflichen Entwicklung;
  • Wunsch nach Kontakt zu anderen Betroffenen;
  • Wunsch nach aufsuchender Hilfe.

Der Hilfebedarf der Betroffenen ist also klar formulierbar und betrifft „sowohl emotionale und soziale Unterstützung als auch Hilfen bei der Verarbeitung des Erlebten und bei der Bewältigung bestimmter konkreter Aufgaben.“ (S. 112) Diese Hilfen, geben die Autorinnen zu bedenken, sind nicht nur in einer kurzen Phase nach der Tat notwendig, sondern sollten langfristig angeboten werden.

Schlussfolgerungen aus der Studie zieht abschließend Susanne Heynen. Es wird deutlich, dass es „Veränderungsbedarfe im Kinderschutz bei häuslicher Gewalt, Beziehungskonflikten, Trennungen und Scheidungen und damit zusammenhängenden innerfamiliären Tötungsdelikten“ gibt. (S. 113) Dabei besteht die Notwendigkeit, spezielle Kompetenzen in der Jugendhilfe auszubilden. Frau Heynen zieht insbesondere institutionell ausgerichtete Folgerungen für die in den Untersuchungsergebnissen herausgestellten Probleme der Kinder und Jugendlichen. Im Fazit stellt sie noch einmal das Ziel der Studie heraus: „Kindern und Jugendlichen, die ein innerfamiliäres Tötungsdelikt erlitten haben, eine Stimme zu geben, um mit Blick auf die Jugendhilfe zu erfahren“, was den Betroffenen geholfen hat, welche Bedarfe bestehen und welche Konsequenzen daraus für die Jugendhilfe zu ziehen sind. (S. 125) – Dies ist den Autorinnen mit dieser Studie gelungen, was nicht zuletzt an der Form, der Praxisorientierung des Projekts und dem sensiblen Umgang mit den Betroffenen liegen dürfte, sodass auch die Interviewten die Gespräche und das Forschungsprojekt als gewinnbringend empfanden und unterstützten.

Fazit

Die Studie widmet sich den Problemen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, die von einem innerfamiliären Tötungsdelikt im Kontext von Beziehungskonflikten oder Trennungen betroffen sind. Diese ‚Fälle‘ werden jenseits medienwirksamer Effekte wenig beachtet und stellen bislang eine Leerstelle in der Forschung und Jugendarbeit dar, was anhand der abgedruckten Ausschnitte aus den Interviews mit Betroffenen deutlich wurde und sich in der mangelnden Hilfe ausdrückt, die die Betroffenen meist von offiziellen Stellen erfahren haben. Diese Studie leistet daher einen wichtigen Beitrag dazu, die Arbeit der Jugendhilfe bedarfsorientierter zu gestalten und es ist zu hoffen, dass die Ergebnisse, die die Autorinnen in diesem Buch präsentieren, in der Praxis umgesetzt werden.

Rezension von
Sabine Hollewedde
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Es gibt 24 Rezensionen von Sabine Hollewedde.

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ISSN 2190-9245