Thomas Köhler-Saretzki (Autor), Annika Merten (Illustratorin): Wo ist Wilma?
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Domes, 24.05.2017

Thomas Köhler-Saretzki (Autor), Annika Merten (Illustratorin): Wo ist Wilma? Ein Bilderbuch über Bindungsmuster. Balance Buch + Medien Verlag (Köln) 2017. 36 Seiten. ISBN 978-3-86739-120-7. D: 14,95 EUR, A: 15,50 EUR.
Thema
Die Forschungsergebnisse John Bowlbys und Mary Ainsworths bilden auch heute noch die zentralen Grundlagen und Referenzpunkte hinsichtlich der Bedeutung einer sicheren Bindung für eine gesunde Entwicklung von Kindern. Diese wurden unter anderem durch die Langzeituntersuchungen von Karin und Klaus Grossmann weiterentwickelt. Auch international gibt es einen hohen Zuwachs an empirischen Forschungsergebnissen (Grossmann & Grossmann 2017: 25f.). (Frühe) Bindungserfahrungen als soziale Erfahrungen haben entscheidenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Bindung „ist in den Emotionen verankert und verbindet das Individuum mit anderen, besonderen Personen über Raum und Zeit hinweg“ (Grossmann & Grossmann 2017: 31). Auch die (heutige) Resilienzforschung bestätigt die Wichtigkeit einer sicheren Bindung zu mindestens einer stabilen Bezugsperson als eine zentrale Ressource beim Erwerb von psychischer Widerstandskraft. Konnte diese nicht ausgebildet werden, ist es wichtig, korrigierende Beziehungserfahrungen durch andere bedeutsame Bezugspersonen zu ermöglichen.
Dieses Themenfeld greift der Autor Köhler-Saretzki auf und vermittelt, wie es auf der Website des Buches heißt, „»angewandte Wissenschaft« zu Bindungs- und Beziehungsstrukturen, ihren Voraussetzungen und Mustern“.
Autor und Illustratorin
Dr. Thomas Köhler-Saretzki ist Diplom-Psychologe und Systemischer Familientherapeut. Er leitet eine Familienberatung der Christlichen Sozialhilfe Köln e.V.
Anika Merten ist Kommunikationsdesignerin und Illustratorin.
Entstehungshintergrund
Trotz zahlreicher (wissenschaftlicher) Publikationen zum Themenfeld Bindung und Bindungstheorie gibt es bislang wenig praxisorientierte Materialien/Bücher, die auf anschauliche und leicht verständliche Weise entsprechende Inhalte kreativ vermitteln. Diese „Lücke“ versucht das Bilderbuch „Wo ist Wilma“ zu schließen.
Aufbau
Das (Bilder-)Buch besteht aus der eigentlichen Geschichte „Wo ist Wilma“ sowie einer Informationsseite zu hilfreichen Websites, Literaturempfehlungen und Elternratgebern zur Thematik. Ein kurzes Nachwort von Silke Birgitta Gahleitner schließt das Buch ab.
Auf der Website zum Buch ist zudem „der Kreis der Sicherheit und Exploration“ kostenlos downloadbar.
Inhalt
In der Geschichte geht es um die Kinder Klaus, Lilith, Karl-Heinz und Fabienne, die eine Kindertagesstätte besuchen, und ihre junge Bezugserzieherin Wilma. Wilma stellt sich in der Geschichte die Frage, warum sich die Kinder im Kindertagesstättenalltag so unterschiedlich verhalten im Hinblick auf Beziehungsaufnahme und -gestaltung.
In Anlehnung an die Bindungstheorie John Bowlbys und Mary Ainsworths repräsentiert jedes Kind in der Geschichte einen Bindungstyp (sicher, vermeidend, ambivalent, desorganisiert). Es folgt eine Beschreibung des Verhaltens (Ankommen, Gruppenalltag, Spiel, Abholsituation, etc.) jedes Kindes in der Kindertagesstätte. Im Anschluss schildert der Autor jeweils die frühkindliche Entwicklung innerhalb der Familie/die Eltern-Kind-Beziehung. Ein kleiner „Infokasten“ am Seitenrand fasst die wesentlichen Aspekte zusammen.
Im folgenden Abschnitt „Wo ist Wilma“ beschreibt Köhler-Saretzki die unterschiedlichen Reaktionen der Kinder auf den Weggang von Wilma aufgrund ihrer Schwangerschaft und der Neueinstellung der erfahrenen Erzieherin Friederike, der die Bedeutung dieses Bezugspersonenwechsels bewusst ist. Auch hier fassen „Infokästen“ die wichtigsten Aspekte in Bezug auf die Bindungstheorie zusammen.
Im nächsten Teil der Geschichte wird beschrieben, wie Friederike auf die je nach Bindungstyp unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse von Klaus, Lilith, Karl-Heinz und Fabienne eingeht und dabei gleichzeitig ihr Explorationsverhalten unterstützt, um eine Bindungs(weiter-)entwicklung zu ermöglichen (wiederum mit entsprechenden „Infokästen“). Dies wird in der 1-seitigen Bildgraphik „Kreis der Sicherheit“ (Ich brauche deinen Beistand – Gib mir Zeit – Gib mir Sicherheit – Ich brauch deine Hilfe – Ich bin für euch da) zusammengefasst.
Die Geschichte wird abgerundet mit der Schilderung eines Elternabends, an dem Friederike den Eltern von den Fortschritten der Kinder berichtet, und dem Besuch von Wilma mit ihrem Baby sowie den Reaktionen der Kinder hierauf.
Diskussion
Die Vermittlung bindungstheoretischen Wissens in Ausbildungs- und Studiengängen sozialer, therapeutischer, aber auch pflegerischer Berufe ist mittlerweile zum Standard geworden. Auch in Elternratgebern wird die Bedeutung einer sicheren Bindung immer wieder betont. Zugleich fällt der Transfer dieses Wissens in konkretes Handeln in der Berufs- wie Erziehungspraxis (Beziehungskompetenz) häufig schwer bzw. ist unklar, wie das theoretische Wissen praktisch angewendet und umgesetzt werden kann.
Das Bilderbuch von Köhler-Saretzki setzt genau an dieser Lücke an. Es transferiert – auf hoher fachlicher Qualität – die Theorie in den Alltag einer Kindertagesstätte. Dabei ist es klar aufgebaut und übersichtlich strukturiert. In leicht verständlicher und zugleich sehr präziser Sprache können die LeserInnen erfahren, wie Bindungsmuster bei Kindern entstehen, sich in unterschiedlichen Situationen zeigen/beobachten lassen und wie Eltern oder Fachkräfte adäquat darauf reagieren können. Zudem erhalten sie Anregungen, wie eine an den je spezifischen Bedürfnissen ausgerichtete Beziehungsgestaltung konkret umgesetzt werden kann – als Voraussetzung, um Kindern auch positive (korrigierende) Beziehungserfahrungen zu ermöglichen. „Dadurch könnten sie empathie- und beziehungsfähiger werden und möglichst ihre eigene, erworbene sichere Bindungsrepräsentation als Ressource für ihre Autonomie und für die Entwicklungsförderung einer sicheren Bindung dieser Kinder nutzen“ (Brisch 2014: 36).
Die Zusammenfassungen der wesentlichen Erkenntnisse der einzelnen Abschnitte in den „Infokästen“ geben zusätzlich Orientierung.
Unterstützt und sinnvoll ergänzt wird der Inhalt durch die Bildsprache der Geschichte. Die „liebevollen“, in weichen Farben gehaltenen Illustrationen von Merten tragen zum positiven Gesamteindruck der Publikation bei.
Fazit
Das Bilderbuch ist nicht nur Fachkräften im Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie Eltern/Erziehungsberechtigten ausdrücklich zu empfehlen. Generell bietet es für Angehörige von sozialen, therapeutischen und pflegerischen Berufen (Beziehungsprofessionen) ein Reservoir, um die eigene Beziehungskompetenz zu analysieren, zu reflektieren und erweitern zu können. Auch empfiehlt der Rezensent den Einsatz der Geschichte in Ausbildung und Lehre, da hierdurch das theoretische Wissen praktisch greifbar und so der immer wieder geforderte Theorie-Praxis-Transfer erleichtert wird. Oder, wie es Silke Gahleitner in ihrem Nachwort formuliert: „So anschaulich und motivierend wurden sie (aktuelle Forschungsergebnisse, Anmerkung des Rezensenten) noch nie aufbereitet!“
Literatur
- Ainsworth, M. & Blehar, M. & Waters, E. & Wall, S. (1978): Patterns of attachment. A psychological study of the strange situation, Hilsdale, NJ: Erlbaum
- Ainsworth, M. & Wittig, B. (1969): Attachment and exploratory behavior of one-year-olds in a strange situation. In: Foss, B. (Hrsg.): Determinants of infant behaviour. Bd 4. London: Mehuen
- Bowlby, J. (2006): Bindung und Verlust (Band 1-3). Aus dem Englischen von Gertrud Mander, Erika Nosbüsch und Elke vom Scheidt, München: Ernst Reinhardt
- Bowlby, J. (2014): Bindung als sichere Basis Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. Mit Geleitworten von Burkhard und Oslind Stahl und Jeremy Holmes. Aus dem Englischen von Axel Hillig und Helene Hanf, 3. Auflage, München: Ernst Reinhardt
- Bowlby, J. (2016): Frühe Bindung und kindliche Entwicklung. Mit einem Vorwort von Manfred Endres und einem Beitrag von Mary D. Salter Ainsworth. Übersetzung von Dr. Ursula Seemann, 7. Auflage, München: Ernst Reinhardt
- Brisch, K. H. (2014): Die Bedeutung von Bindung in Sozialer Arbeit, Pädagogik und Beratung. In: Trost, A. (Hrsg.): Bindungsorientierung in der Sozialen Arbeit. Grundlagen – Forschungsergebnisse – Anwendungsbereiche, Dortmund: Borgmann, 15-42
- Fröhlich-Gildhoff, K. & Rönnau-Böse, M. (2015): Resilienz, 4., aktualisierte Auflage, München: Ernst Reinhardt
- Gahleitner, S. (2017): Soziale Arbeit als Beziehungsprofession. Bindung, Beziehung und Einbettung professionell ermöglichen, Weinheim: Beltz Juventa
- Grossmann, K. & Grosssmann, K. E. (2017): Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, 7. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta
Rezension von
Prof. Dr. Michael Domes
Diplom-Sozialpädagoge, Professor für Theorien und Handlungslehre in der Sozialen Arbeit, TH Nürnberg Georg Simon Ohm
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