Kristina Matron: Offene Altenhilfe in Frankfurt am Main 1945 bis 1985
Rezensiert von Dr. phil. Hubert Kolling, 10.07.2017

Kristina Matron: Offene Altenhilfe in Frankfurt am Main 1945 bis 1985. Franz Steiner Verlag (Stuttgart) 2017. 303 Seiten. ISBN 978-3-515-11659-6. D: 54,00 EUR, A: 55,60 EUR.
Thema
Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der offenen Altenhilfe von 1945 bis 1985 in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in Frankfurt am Main. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen dabei sowohl die Entwicklungen und Veränderungen der häuslichen Pflege als auch die hauswirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Angebote für alte Menschen.
Autorin
Kristina Matron promovierte 2010 zum Dr. phil. an der Universität Gießen mit einer Studie zur kommunalen Jugendfürsorge in der Weimarer Republik (vgl. die Besprechung des Rezensenten unter www.socialnet.de/rezensionen/15170.php). Von 2010 bis 2016 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin (IGM) der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart (www.igm-bosch.de) mit dem Forschungsschwerpunkt Geschichte der Altenhilfe und -pflege in der Bundesrepublik. Seit 2015 arbeitet sie in der Geschäftsstelle des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Zugleich engagiert sich Kristina Matron im Bereich der historischen Pflegeforschung, unter anderem als Mitglied im Editorial Bord der online und im Druck zweimal jährlich erscheinenden Fachzeitschrift „Geschichte der Pflege“ (www.geschichte-der-pflege.info/).
Entstehungshintergrund
Am 1980 eingerichteten IGM, dem einzigen außeruniversitären medizinhistorischen Forschungsinstitut in Deutschland, sind in den letzten zehn Jahren neben einer Vielzahl medizinhistorischer Arbeiten auch eine Reihe wichtiger Studien zur Pflegegeschichte entstanden, darunter zuletzt die Dissertationen von Anja Faber „Pflegealltag im stationären Bereich zwischen 1880 und 1930“ (Stuttgart 2015) (vgl. die Besprechung des Rezensenten unter www.socialnet.de/rezensionen/17875.php), Astrid Stölzle „Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg“ (Stuttgart 2013) (vgl. die Besprechung des Rezensenten unter www.socialnet.de/rezensionen/16410.php), Annett Büttner „Die konfessionelle Kriegskrankenpflege im 19. Jahrhundert“ (Stuttgart 2013) (vgl. die Besprechung des Rezensenten unter www.socialnet.de/rezensionen/16407.php) und Ulrike Gaida „Bildungskonzepte der Krankenpflege in der Weimarer Republik“ (Stuttgart 2011) (vgl. die Besprechung des Rezensenten unter www.socialnet.de/rezensionen/11943.php).
Da die Geschichte der Pflege als Handlungsfeld und die Geschichte des Pflegepersonals und seiner Institutionen bisher noch vergleichsweise wenig Beachtung fand, initiierte und förderte das IGM zwei entsprechende Forschungsprojekte. Während Nina Grabe (M. A.) „Die stationäre Versorgung alter Menschen in der deutschen Nachkriegszeit (1945-1975) im Raum Hannover / südliches Niedersachsen“ (Stuttgart 2016) untersuchte, nahm Kristina Matron die „Offene Altenhilfe in Frankfurt am Main 1945-1982/83“ in den Blick. Erstere Arbeit erschien als „Beiheft 61“, letztere als „Beiheft 65“ der von Prof. Dr. Robert Jütte herausgegebenen renommierten Reihe „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“, die mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung gedruckt wird.
Aufbau
Die Untersuchung zeigt den folgenden Aufbau, wobei die einzelnen Kapitel weitere Unter- und Nebenkapitel aufweisen:
1. Einleitung
2. Kommunale Altenhilfe in der Nachkriegszeit
- Nachkriegsnot: Versorgung mit Wohnraum und Nahrung
- Fürsorgegesetzgebung und Rentenversicherung
- Frankfurt: Aufgaben der Abteilung Altersfürsorge
- Altenwohnungen, Altenwohnheime und offene Altersfürsorge
- Offene Räume für alte Menschen: Wärmestuben mit Essensausgabestellen
3. Offene Altenhilfe in den 1960er Jahren
- Einleitung – Altersbilder und bundespolitische Entwicklungen
- Kommunaler Altenplan und hessischer Sozialplan für Altenhilfe
- Altenwohnungen
- Altenklubs und Altentagesstätten
- Altenwerkstätten
- Erholungshilfe
- Mahlzeitendienste – kein „Essen auf Rädern“ in Frankfurt
- Ambulante Pflege
4. Offene Altenhilfe in den 1970er Jahren
- Einleitung – Altersbilder und Altenpolitik in den 1970er Jahren
- Frankfurter Altenplan – Resümee und Weiterentwicklung
- Altenwohnungen
- Begegnungsstätten für alte Menschen
- Seniorenbeiräte
- Erholungsaufenthalte für ältere Menschen
- Ambulante Pflege: Gemeindekrankenpflege, Hauspflege und hauswirtschaftliche Versorgung
5. Ausblick 1980-1985
- Einleitung
- Notrufsysteme
- Selbstorganisation
- Universität des dritten Lebensalters
- Pflegebedürftigkeit und Versuch der Neuordnung der Pflege
6. Resümee.
Ergänzt wird die Darstellung durch ein Verzeichnis der Abbildungen sowie der Quellen und Literatur.
Inhalt
In der vorliegenden Studie geht es um die offene Altenhilfe von 1945 bis 1985 in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in Frankfurt am Main. In den Mittelpunkt ihrer Untersuchung hat Kristina Matron dabei sowohl die Entwicklungen und Veränderungen der häuslichen Pflege als auch die hauswirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Angebote für alte Menschen gestellt. Die chronologisch gegliederte Arbeit stützt sich nicht nur auf zeitgenössische Veröffentlichungen, darunter auch auf Beiträge aus Fachzeitschriften wie die „Altenpflege“ und „Seniorenzeitschrift“, sowie auf eine Vielzahl von Studien zur Lebenslage alter Menschen, sondern vor allem auf die Akten der Ministerien des Landes Hessen und zu einem geringeren Teil auf Überlieferungen der Wohlfahrtsverbände.
Nach der Einleitung mit Hinweisen zum Forschungsstand und zur Quellenlage (Kapitel eins) fasst das zweite Kapitel die Entwicklung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren und den 1950er Jahren zusammen. Auch wenn man in diesem Zeitraum nach Darstellung der Autorin noch nicht von einer offenen Altersfürsorge sprechen kann, weder auf Bundes- noch auf kommunaler Ebene, seien alte Menschen Adressaten kommunaler Fürsorgepolitik und in die Versorgung mit Wohnraum und Nahrung eingebunden gewesen. Daraus habe man zum Ende des Jahrzehnts spezielle Angebote für alte Menschen entwickelt, wobei insbesondere die sogenannte Hauspflege zum Ende der 1950er Jahre alte Menschen betreute.
Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht die offene Altenhilfe in den 1960er Jahren, die den Anfang der Entwicklung von Altenklubs, Erholungsfürsorge und Altenwohnungen mit Betreuung einerseits und Altenwerkstätten, Erholungshilfe, Mahlzeitendienste und ambulante Pflege andererseits markierten.
Zum Beginn des darauffolgenden Jahrzehnts, das im vierten Kapitel behandelt wird, wurde der zweite kommunale Altenplan mit Schwerpunktverlagerungen vorgelegt. Zur damaligen Zeit wurde die Altenhilfe, wie dargestellt wird, auch auf bundespolitischer Ebene stärker thematisiert.
Das fünfte Kapitel gibt einen Ausblick über die Entwicklungen bis etwa 1985. Es beginnt mit der Verabschiedung des dritten kommunalen Altenplanes, zeigt die sich allmählich anbahnenden Veränderungen im Bereich der Organisation häuslicher Pflege und geht auf die Selbstorganisation alter Menschen sowie die Entwicklung universitärer Bildungsangebote für alte Menschen ein.
Das sechste Kapitel fasst schließlich die Untersuchungsergebnisse in Form von einem Resümee zusammen.
Diskussion
Während es seit den späten 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum historisch orientierte Arbeiten zum Alter und Altern gibt, standen historische Forschungen zu den konkreten Altenhilfemaßnahmen und den Lebensbedingungen von alten Menschen in der BRD bisher weitgehend noch aus. Für ihre vorliegende Studie zur offene Altenhilfe von 1945 bis 1985 suchte Kristina Matron Frankfurt am Main aus, weil für diese Stadt die Überlieferung sehr gut ist und dort vergleichsweise früh Altenpläne verabschiedet wurden. Darüber hinaus nimmt sie in ihrer Darstellung aber auch den hessischen Raum in den Blick und zieht bundesweite Vergleiche.
Neben der Organisation im Spannungsfeld von bundespolitischen Gesetzen, Veränderungen im Sozialversicherungsrecht und kommunalen Gegebenheiten hat die Autorin die Angebote und ihre Annahme unter folgenden Gesichtspunkten untersucht und dargestellt: Wer war für die offene Fürsorge bzw. Hilfe für alte Menschen involviert und in welcher Funktion? Wer waren die Akteure in der Altenhilfe; bildeten sich neue Berufsgruppen und wandelten sich Tätigkeitsfelder im Laufe der Jahrzehnte?
Zugleich thematisiert sie aber auch die Perspektiv der in der Altenhilfe Tätigen, ihre Berufsbildung und Zusammenarbeit, ebenso wie die Rolle des Ehrenamts, die unentgeltliche Hilfe von Familienangehörigen, Nachbarn und anderen sowie deren Stellenwert sowohl in den überregionalen Schriften, politischen Debatten auf überregionaler und kommunaler Ebene als auch in der Praxis. Wo immer möglich, hat sie auch die Perspektive der älteren Menschen, ihre Nutzung der Angebote und ihre Selbstorganisation, betrachtet.
In der Einleitung weist Kristina Matron zu Recht auf das Problem ihrer Studie hin, Menschen allein aufgrund ihres Lebensalters – hier die Altersgrenze von 65 Jahren bezogen auf den vollen Rentenbezug – als „alte“ oder „ältere“ Menschen zu bezeichnen. Thema seien „im Wesentlichen Angebote für Menschen, die aufgrund altersbezogener Zugangsschwellen der Renten- und Pensionsversicherungssysteme aus der Erwerbstätigkeit ausgeschieden waren bzw. auch ohne vorangegangene Erwerbstätigkeit diese Altersgrenzen erreicht hatten.“
Wie die Autorin zeigen kann, stand in der Nachkriegszeit zunächst der Bau von Altenheimen im Mittelpunkt der Bemühungen. Seit etwa 1960 wurden dann offene Angebote ausgebaut: Erholungsfahrten für alte Menschen und Altentagesstätten sollten die Einsamkeit alter Menschen mindern und ihnen Anregung und Erfahrungen bieten. In den 1970er Jahren wurde das ambulante Angebot dann erweitert. Ziel sei es nun gewesen, die Selbständigkeit alter Menschen in ihrem Zuhause zu erhalten. Häusliche Pflege und hauswirtschaftliche Dienste hätten in dieser Zeit geholfen, eine Heimunterbringung hinauszuzögern oder zu vermeiden. Die Organisation und Finanzierung dieser Unterstützung sei jedoch während des gesamten Zeitraums problematisch gewesen und kontrovers diskutiert worden. In den 1980er Jahren habe schließlich die Selbstorganisation von alten Menschen zugenommen, indem sie sich bei den Grauen Panthern engagiert, Seniorenuniversitäten besucht und eigene Altentreffpunkte gegründet hätten.
Mit ihrer Untersuchung, die sich im Schnittfeld von Forschungen zur Geschichte des Alters, von diskursanalytischen Studien zu Altersbildern, Studien zur stationären Unterbringung von Menschen, zur Pflegegeschichte und zur Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland bewegt, hat Kristina Matron erstmals viel Licht ins Dunkel der offenen Altenhilfe von 1945 bis 1985 in Frankfurt am Main und darüber hinaus gebracht. Die Veröffentlichung ist dabei nicht nur mit einem soliden Anmerkungsapparat ausgestattet, sondern enthält auch eine Reihe zeitgenössischen Abbildungen.
Im Hinblick auf weitere Untersuchungen zum Thema dürften vor allem die Betrachtung anderer Regionen und deren Vergleich miteinander spannend sein.
Fazit
Kristina Matron hat eine profunde Studie zur offenen Altenhilfe von 1945 bis 1985 in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere in Frankfurt am Main, vorgelegt. Das Buch bereichert zunächst den wissenschaftlichen Diskurs, es ist darüber hinaus aber auch für alle lesenswert, die in diesem Arbeitsfeld zu Hause sind beziehungsweise sich unter historischen Gesichtspunkten darüber niveauvoll informieren möchten.
Rezension von
Dr. phil. Hubert Kolling
Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe
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