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Haiko Wandhoff: Was soll ich tun? Eine Geschichte der Beratung

Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 15.08.2017

Cover Haiko Wandhoff: Was soll ich tun? Eine Geschichte der Beratung ISBN 978-3-9818156-1-0

Haiko Wandhoff: Was soll ich tun? Eine Geschichte der Beratung. Corlin Verlag (Hamburg) 2016. 349 Seiten. ISBN 978-3-9818156-1-0. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR, CH: 38,00 sFr.

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Thema

Wenngleich das Phänomen „Beratung“ durch die Vervielfältigung von Lebensoptionen in unserer hochkomplexen, globalisierten und digitalisierten Welt eine unübersehbare Ausweitung erfahren hat, ist „Ratgeben“ eine uralte Kulturtechnik: schon lange vor dem aktuellen Beratungsboom haben Menschen beratschlagt und sich beraten lassen. Dabei hat sich die Einstellung der Menschen gegenüber dem Rat ihrer Mitmenschen im Laufe der Zeit verändert. Diese Entwicklung will Haiko Wandhoff in ihren Brüchen und Sprüngen nachvollziehen und abschließend einen Ausblick auf die Zukunft der Beratung geben.

Autor

Haiko Wandhoff ist apl. Professor für Ältere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin und systemisch orientierter Berater und Coach.

Aufbau und Inhalt

Wandhoff geht seinem Anliegen in insgesamt zehn Kapiteln nach – vorangestellt bzw. nachgestellt sind Einführung (Was uns die Geschichte des Ratgebens über unsere Gegenwart erzählt), Anmerkungen und Literaturverzeichnis:

  1. Was soll ich tun? Die Grundfrage der Beratung
  2. Orakelsprüche, Prophezeiungen und Horoskope: Alte Rezepturen gegen eine unsichere Zukunft
  3. Consilium und Consensus: Die Suche nach dem einvernehmlichen Ratschluss im Mittelalter
  4. Hofnarren, Sekretäre und Geheime Räte: Beratung auf dem Weg zur Profession
  5. Das aufgeklärte Subjekt geht mit sich selbst zu Rate: Krise und Kritik des Ratgebens auf dem Weg in die Neuzeit
  6. Das Buch als „stummer Freund und Lehrer“: Ratgeberliteratur als Antwort auf die Krise der Beratung
  7. Parlamente, Politiker und Lobbyisten: Die mit sich selbst zu Rate gehende Gesellschaft und ihre Ratgeber
  8. Auf dem Weg in die Beratungsgesellschaft: Vom beratenden Staat zur Consulting-Welle des späten 20. Jahrhunderts
  9. „Beratung ohne Ratschlag“: Die Wiederentdeckung der nicht-direktiven Beratung
  10. Die Gegenwart der Beratung: Aktuelle Trends und Zukunftsperspektiven der Beratung

Im ersten Kapitel geht es zunächst darum, ob es einen unveränderlichen Kern von Beratung gibt und was am Ratgeben eventuell historischen Veränderungen unterliegt. Zum Ersteren zählt Wandhoff die Unterscheidung von Rat und Tat: Jeder Rat dient demnach zur Vorbereitung einer Handlung (incl. Entscheidung). Damit schafft Ratsuchen Zeit. Beratung bewirkt Entschleunigung. Im Weiteren wird eine Unterscheidung von Beratung, Betreuung und Befehl angeboten.

Der Rat kommt vor der Tat, aber es führt kein direkter Weg von diesem zu jener! Die – wie Wandhoff sie nennt – großen Beratungsinstitutionen der Alten Welt, die griechischen Orakel, formulierten ihren Rat als Rätsel, das zur Entschlüsselung die Auslegung des Ratsuchenden brauchte – womit natürlich die Verantwortung für die Nützlichkeit des Ratschlusses in den Ratsuchenden verlegt wird (Kap. 2).

Mit dem Untergang des römischen Reiches – so konstatiert Wandhoff im 3. Kapitel – gehen auch beträchtliche Teile der Beratungskultur verloren, das Bedürfnis, sich beraten zu lassen, bleibt jedoch. Diesen Bedarf füllt das Christentum, das mit Priestern, Missionaren und Gelehrten ein Netz von „Beratungsagenturen“ errichtet. Auch in der mittelalterlichen Verfassungswirklichkeit ist Beratung als notwendige Rechtshandlung verankert. Wichtig ist dabei, zwischen öffentlicher und nichtöffentlicher Beratung zu unterscheiden: erstere hat eher Inszenierungscharakter, letztere dient der Herstellung von Vertraulichkeit und der Wahrung des Prestiges der Beratenen. Diese Unterscheidung kam – so Wandhoff – nicht zuletzt den Frauen zugute, die im nichtöffentlichen „Setting“ Gehör finden und Einfluss nehmen konnten.

Wesentliches Moment im Prozess der Professionalisierung war und ist die Unterscheidung zwischen interner und externer Beratung. Bis ins Mittelalter handelte es sich im Grundsatz um eine Form interner Beratung: wichtig für die Auswahl der Berater war mehr die Zugehörigkeit zum gleichen Stand als eine besondere Beratungskompetenz: Vertrauen vor Kompetenz!

Eine weitere wichtige Unterscheidung spricht Wandhoff mit den (heute so modernen) Begriffen transitiv (als „Rat geben“) und reflexiv (als „sich selbst beraten“) an und findet diese „soziale Selbstberatung“ auf verschiedenen Ebenen bereits in Institutionen des römischen Senats, der griechischen Polis und dem germanischen Ting.

Auf dem weiteren Weg zur Professionalisierung identifiziert Wandhoff Sekretäre, Geheime Räte und – als Meister der paradoxen Intervention! – die Hofnarren, und schließlich das aufgeklärte Subjekt, das mit sich selbst zu Rate geht, indem es nach dem Vorbild einer äußeren Beratung einen inneren Prozess als „vermeintliche Konferenz der inneren Stimmen“ modelliert (Kapitel 4). Begünstigend für die Umstellung von Konsultation auf Autokonsultation sei dabei zum einen die Erfindung des Buchdruckes, der das Entstehen von Ratgeberliteratur (die ein inneres Selbstgespräch mit sich bringt) ermöglichte, zum anderen die Luthersche Reformation, die das Selberlesen der Bibel propagiert und den Glauben zu einer innermenschlichen Angelegenheit macht (Kapitel 5 und 6). Jedenfalls, der Weg vom Beraten zum Tun wird weiter in das Individuum hinein verlegt.

Allerdings war das Vertrauen in die Selbstberatungskräfte nicht von langer Dauer. Erste Bedenken ob der Selbstbestimmtheit und Rationalität kamen von Schopenhauer und Nietzsche, und die Psychoanalyse von Sigmund Freud gab der Idee vom autonomen und vernunftgeleiteten Subjekt den vorläufigen Todesstoß. Heute begegnet uns das Modell der inneren Selbstberatung nicht als Alternative, sondern als Teil der (äußeren) Beratung.

Der weitere Weg in der Geschichte der Beratung führt über Lobby, Politik und „Think Tanks“ (Kapitel 7), psychosoziale Fürsorge, Counseling und Unternehmensberatung (Kapitel 8) zur humanistischen Beratung, zur Gesprächstherapie und zur systemisch-konstruktivistischen Beratung (Kapitel 9).

Unsicherheitsreduktion angesichts einer ungewissen Zukunft – es mag so scheinen, als habe sich Beratung im Laufe der Geschichte im Grundsatz kaum verändert. Diesem Eindruck tritt Wandhoff in seinem abschließenden Kapitel entgegen. Angesichts des durch Digitalisierung, Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung gewandelten Zukunftsbezuges stellt er die Frage, ob sich damit auch Formen und Inhalte des Ratgebens verändern (müssen). Ging es früher (auch) darum, Erfahrung in Form von Beratungsprozessen auf die Jungen zu übertragen, zählt diese Erfahrung in Zeiten immer schnellerer gesellschaftlicher Veränderung immer weniger. So zielen dann auch neuere Ansätze – auch wenn sie sich lösungsorientiert nennen – nicht auf die Lösung eines speziellen Problems, sondern auf Problemlösungskompetenz. Was die Beratungsformen angeht, so hat die Digitalisierung die Entwicklung der Online-Beratung mit ihrer leichten Zugänglichkeit und Anonymität ermöglicht. Unschätzbarer Vorteil des persönlichen Gespräches in der face-to-face-Beratung bleibt aber die Entschleunigung, das Schaffen eines Ruhe- und Reflexionsraumes.

Diskussion und Fazit

Über das, was „Beratung ist“, kann man lange diskutieren, und die aktuellen Diskurse in der Beratungsliteratur darüber, wie sich verschiedenste Beratungsformen und -formate zueinander verhalten, sich gegenseitig ergänzen oder voneinander abgrenzen, zeigen, dass diese Begriffs- und Konzeptbildung nicht abgeschlossen ist.

Auch wenn man sich den von Wandhoff benutzten Begriff in seiner Weite nicht unbedingt zu eigen machen will, so bietet seine Geschichte der Beratung eine Vielzahl von Perspektiven, die diese Diskussion beleben und vielleicht auf ein neues Fundament stellen können. Und das Buch ist geeignet, Ratsuchen und Beraten-werden vom Anschein der Unzulänglichkeit und Unmündigkeit zu befreien. Ich empfehle es jedem, der sich mit Beratung in welcher Form und in welchem Zusammenhang auch immer beschäftigt.

Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische Psychotherapie.
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Es gibt 38 Rezensionen von Wolfgang Rechtien.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 15.08.2017 zu: Haiko Wandhoff: Was soll ich tun? Eine Geschichte der Beratung. Corlin Verlag (Hamburg) 2016. ISBN 978-3-9818156-1-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22817.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.


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