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Waltraut Barnowski-Geiser, Maren Geiser-Heinrichs: Meine schwierige Mutter

Rezensiert von Diplom-Psychol. Jens Flassbeck, 13.06.2017

Cover Waltraut Barnowski-Geiser, Maren Geiser-Heinrichs: Meine schwierige Mutter ISBN 978-3-608-86121-1

Waltraut Barnowski-Geiser, Maren Geiser-Heinrichs: Meine schwierige Mutter. Das Buch für erwachsene Töchter und Söhne. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2017. 160 Seiten. ISBN 978-3-608-86121-1. D: 17,00 EUR, A: 17,50 EUR.

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Thema

Ratgeber über „schwierige Kinder“ gibt es wie Sand am Meer. Gewöhnlich sind es belastende und beeinträchtigende Umweltbedingungen, auf welche die Kinder mit störenden Verhaltensauffälligkeiten reagieren. Der vorliegende Ratgeber setzt hier an, zäumt indes das Pferd von vorne auf. Die Mutter wird als schwierig etikettiert. Nicht um die Mutter als Schuldige zu stigmatisieren, vielmehr soll durch den Titel die Verantwortung der Mutter für das noch unreife und abhängige Kind aufgezeigt werden.

Das Buch behandelt im Wesentlichen vier Aspekte der Mutter-Kind-Beziehung:

  1. typische defizitäre Interaktionsmuster der primären Bindungsperson
  2. dadurch ausgelöste Störungen in der Beziehungsdynamik
  3. beeinträchtigende Auswirkungen auf das Kind und dessen Entwicklung
  4. psychische und soziale Spätfolgen bis ins Erwachsenenalter

Dass die Mutter ebenso eine schwierige Kindheit erfahren hat, wie sie ihrem Kind eine bereitet, ist Teil der sowohl bindungs- und entwicklungspsychologischen als auch transfamiliären und -generationellen Perspektive.

Aufbau

Der Ratgeber ist, abgesehen von Einleitung und Nachwort, zweigegliedert.

Zum erstenTeil

Im ersten, größeren Teil nutzen die Autorinnen die Metapher des Tanzes, um das emotionale und handelnde Aufeinander-bezogen-Sein von Mutter und Kind darzustellen und zu analysieren. „Der erste Tanz“ mit der Mutter kann für das Kind ein Freudentanz oder ein Eiertanz werden. Anhand der Allegorie werden eine Reihe von konkreten Unzulänglichkeiten im Bindungsverhalten der Mutter ausführlich dargestellt:

  • Grenzverletzungen
  • Beschuldigungen
  • Demütigungen
  • Gewalt
  • Überversorgung
  • Resonanz- und Teilnahmslosigkeit
  • Parentifizierung
  • Partnerersatz
  • Delegationen

Ebenso breiten Raum nimmt die Analyse ein, wie das noch in der Entwicklung befindliche und vulnerable Kind die Defizite und Übergriffigkeiten der Mutter zu kompensieren versucht und als Folge dessen als negatives Selbst- und Weltbild internalisiert. Das Kind wird notgedrungen zur Tanzmarionette, zum Solotänzer oder Tanzverweigerer, um die Defizite der Mutter auszugleichen. Diese familienspezifischen Bewältigungsstrategien, die im misslingenden Tanz mit der schwierigen Mutter durchaus adaptiv waren, verwandeln sich oftmals in der Jugend und Adoleszenz beim Versuch, ein eigenständiges Leben zu gewinnen und neue Beziehungen aufzubauen, zu idiosynkratischen und destruktiven Verhaltensauffälligkeiten.

Es wird ausgeführt, wie „die Innenwelt des Kindes zum Fremdkörper“ wird: Die Kinder flüchten, kämpfen oder erstarren als Folge der bedrohlichen Zerrissenheit zwischen der Loyalität zur Mutter und Familie sowie den eigenen verletzten Bedürfnissen und Wünschen. Es entstehen überdauernde seelische „Narben als Spuren des Gestern“: Die Betroffenen leiden manchmal ein Leben lang unter Gefühlslosigkeit, Schuld- und Schamgefühlen, Selbstzweifeln, Selbstentwertungen, Abhängigkeiten, Entfremdung, Beziehungslosigkeit sowie maßlosen Sehnsüchten. Sie können in der Kindheit oder erst später im Erwachsenenalter psychische Folgestörungen wie Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen entwickeln.

Zum zweiten Teil

Schon im ersten Teil des Ratgebers sind vereinzelt Selbsterfahrungsübungen integriert. Der zweite Teil besteht aus einer Reihe weiterer bewährter Übungen aus dem AWOKADO-Konzept von Barnowski-Geiser (2015, 2009). Die Übungen sind therapeutisch methodisch als achtsamkeitsbasiert, kreativ, erlebensaktivierend, kognitiv-emotional umstrukturierend und sinn- und werteklärend einzustufen. Sie heißen z.B. „Vom Leidsatz zum Leitsatz“, „Werden Sie selbstbewusst durch Bewusstsein“ oder „Geben Sie sich heute, was gestern fehlte!“.

Diskussion

Der Rezensent machte eine spannende Erfahrung mit dem Buch. Als er es an einem Feiertag schnell für die geplante Rezension überfliegen wollte, zog es ihn in den Bann. Beim Lesen wurde er auf sich zurückgeworfen und es tauchten die eigenen schwierigen, kindlichen Beziehungserfahrungen aus dem Dunkel des Erinnerns auf. Nach schon wenigen Seiten bei den Übungen zur „Farbe der Mutter“ und zum familiären Narrativ musste er das Buch erstmalig an die Seite legen, um darüber zu schlafen und das Angestoßene wirken zu lassen. Und so ging es weiter.

Das Werk eignet sich nicht zum So-eben-mal-nebenbei-Lesen. Es ist ein Arbeitsbuch der Selbsterfahrung, das portionsweise verdaut werden möchte. Ein Detail hat den Rezensenten dabei irritiert: die Zweiteilung des Buches wirkt künstlich. So scheinen die durchaus ansprechenden und durchdachten Übungen ein wenig zusammenhanglos hinten drangehängt zu sein. Für den persönlichen Prozess beim Durcharbeiten wäre es hilfreicher, die Übungen jeweils an inhaltlich passender Stelle des ersten Teils einzufügen.

Eine Besonderheit des Ratgebers ist, dass die beiden Autorinnen Mutter und Tochter sind und die Thematik folglich aus einer Mehrperspektivität angehen. So ist ein intelligenter, differenzierter und elaborierter Ratgeber entstanden, der den Leser durch Vielschichtigkeit und Fülle fordert. Durch die kreativ-metaphorische Sprache, die zwischenzeitlichen Ausflüge in die Welt der Wissenschaft von Psychologie, Pädagogik und Soziologie (u.a. Papousek & Papousek, 1999; Bowlby, 1969; Oerter & Dreher, 2008; Bandura, 1965; Wustmann, 2005) und die achtsamkeitsbasierten Übungen wird zum Innehalten, Vergleichen, Suchen, Nachdenken, Einfühlen und Entschlüsseln angeregt.

Es ist ein Buch aus der Praxis für die Praxis, für Betroffene und auch für therapeutisch Tätige. Dabei darf der Ratgeber selbstverständlich nicht – wie andere Ratgeber auch – als Ersatz von zwischenmenschlicher Begegnung und Erfahrung oder sogar als Therapieersatz missverstanden werden. Der erklärte, begrenzte Anspruch der Autorinnen ist, das intra- und interpersonelle Verstehen anzuregen und zu vertiefen und dadurch zwischenmenschliche Brücken zu bauen und für mehr inneren Frieden zu sorgen. Aufgrund der fruchtbaren Leseerfahrungen des Rezensenten, möchte er hier abschließend resümieren, dass die Autorinnen mit ihrem Werk den eigenen Ansprüchen voll und ganz genügen. Nicht mehr und nicht weniger. Das fehlende Pendant, ein Ratgeber über schwierige Vater-Kind-Beziehungen soll in Planung sein.

Fazit

Der Ratgeber richtet sich an Personen, die auch im Erwachsenenalter noch unter den nicht verheilten Verletzungen einer problematischen Mutter-Kind-Beziehung leiden. Dabei wird nicht der „schwierigen Mutter“ die Schuld in die Schuhe geschoben, vielmehr wird die Verantwortlichkeit geklärt. Zunächst ist die Mutter verantwortlich für eine sichere Bindungsgestaltung zum noch abhängigen Kind. Falls diese aufgrund von Schwierigkeiten der Mutter misslingt, ist später das erwachsene Kind verantwortlich dafür, sich vom Ballast des Elternhauses zu befreien, sich zu entdecken und das eigene Leben zu erobern. Das verletzte innere Kind des Lesers wird von den Autorinnen achtsam und verständnisvoll an die Hand genommen, die subtile, übermäßige und überdauernde Bezogenheit auf die Mutter wahrzunehmen, zu verstehen und abzumildern. Die übergeordnete Zielrichtung des Buches ist es, den transgenerativen Teufelskreis, das belastende psychologische Familienerbe immer weiterzugeben, zu unterbrechen.

Literatur

  • Bandura, A. (1965). Influence of models´ reinforcement contingencies on the acquisition of imitative response. Journal of Personality and Social Psychology, 1 (6), 589-595.
  • Barnowski-Geiser, W. (2015). Vater, Mutter, Sucht. Wie erwachsene Kinder suchtkranker Eltern trotzdem ihr Glück finden können. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Barnowski-Geiser, W. (2009). Hören, was niemand sieht. Kreativ zur Sprache bringen, was Kinder und Erwachsene aus alkoholbelasteten Familien bewegt. Neukirchen-Vluyn: Semnos.
  • Bowlby, J. (1969). Attachment and Loss (1. Aufl.). New York: Basic Books.
  • Oerter, R. & Dreher, E. (2008). Jugendalter. Identität – das zentrale Thema des Juegndalters. In: R. Oerter & L Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (6. Aufl.) (S. 303-315). Weinheim: Beltz.
  • Papousek, H. & Papousek, M. (1999). Symbolbildung, Emotionsregulation und soziale Interaktion. In: W. Friedlmeier & M. Holodynski (Hrsg.), Emotionale Entwicklung. Funktion, Regulation und soziokultureller Kontext von Emotionen (S. 135-155). Heidelberg: Spektrum.
  • Wustmann, C. (2005). Die Blickrichtung der neueren Resilienzforschung. Wie Kinder Lebenserfahrungen bewältigen. Zeitschrift für Pädagogik, 51, 192-206.

Rezension von
Diplom-Psychol. Jens Flassbeck
Diplom-Psychologe Psychologischer Psychotherapeut
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Es gibt 3 Rezensionen von Jens Flassbeck.

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ISSN 2190-9245