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Erika Alleweldt, Anja Röcke et al. (Hrsg.): Lebensführung heute

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Elkeles, 05.07.2017

Cover Erika Alleweldt, Anja Röcke et al. (Hrsg.): Lebensführung heute ISBN 978-3-7799-2950-5

Erika Alleweldt, Anja Röcke, Jochen Steinbicker (Hrsg.): Lebensführung heute. Klasse, Bildung, Individualität. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 287 Seiten. ISBN 978-3-7799-2950-5. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Thema

Abgesehen von der Konjunktur, die das Thema ‚Lebensführung‘ seit einiger Zeit bei Ratgebern und Lebens-Coaching-Angeboten hat (was für sich ja schon von einer gewissen zeitdiagnostisch-soziologischen Relevanz spricht), stehen Stichwörter wie Individualisierung und Pluralisierung, aber auch der zunehmende Druck, sein Leben selbstgestaltend eigenverantwortlich führen zu müssen, auf der Agenda aktueller Soziologie, von denen aus es nicht schwer ist, den Bezug zur Lebensführung herzustellen. Einige halten diese sogar für einen Leit- und Schlüsselbegriff, wenngleich er (bisher) kein systematischer oder gar zentral behandelter Begriff der Soziologie war. Auf den Punkt gebracht und zugespitzt: das will dieser Band ändern, zumindest als Forschungsprogramm und -strategie.

Dazu ist es hilfreich, sich klarzumachen, dass der Mensch, wie es die philosophische Anthropologie herausgearbeitet hat, nicht ‚von selbst lebt‘ (Hervorh. d. Rez.), sondern geradezu dazu gezwungen ist, sein Leben zu führen. „Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt“, zitieren die Einleitung (S. 10) und Müller (S. 29) Helmut Plessner. Und: „Erst auf der Ebene der Lebensführung wird deutlich, was die in der soziologischen Analyse untersuchten Verhältnisse für das Leben der Menschen bedeuten; und erst auf dieser Grundlage lässt sich die nach C. Wright Mills (1959) so zentrale Aufgabe der Soziologie erfüllen, den Zusammenhang von Biografie und Geschichte, individuellem Geschick und gesellschaftlichen Strukturen sichtbar zu machen und zur ‚sociological imagination‘ beizutragen. (S. 9) Lebensstil und Lebensführung hingen sicherlich eng zusammen, doch liege die entscheidende Differenz darin, dass es bei Lebensstilen um die äußerliche, der Distinktion und Objektivierung zugängliche Gestalt gehe, bei Lebensführung hingegen um die innere Gestaltung.“ (S. 12)

Herausgeberinnen und Herausgeber

Die Herausgeber des Sammelbandes, Erika Alleweldt, Anja Röcke und Jochen Steinbicker, sind wissenschaftliche Mitarbeiter(innen) am Lehrstuhl Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Entstehungshintergrund

Der Band geht auf den von der Fritz Thyssen-Stiftung geförderten Workshop „Klasse und Individualität. Lebensführung im 21. Jahrhundert“ am 9. Dezember 2011 an der Humboldt-Universität zu Berlin zurück. Dessen Anlass war der 60. Geburtstag von Hans-Peter Müller. Einige der Aufsätze des Sammelbandes sind Beiträge aus dem Workshop, andere wurden hinsichtlich der Forschungsthematik zusätzlich eingeworben. Der größere Teil der insgesamt elf Beiträge sind Originalbeiträge, ein kleinerer Teil überarbeitete Fassungen von anderweitig zuvor erschienenen Beiträgen.

Aufbau

Die Herausgeber(innen) haben sich gefragt, wie ein breit angelegter Ansatz zur Analyse von Lebensführung aussehen könnte, vor allem, da ihrer Ansicht nach Lebensführung als Globalbegriff – Müller nennt ihn „Kompaktbegriff“ (S. 23) – tatsächlich kaum zu handhaben wäre (S. 12). Als die eine Möglichkeit sehen sie, theoretisch-konzeptionell daran heranzugehen. Dem sind die ersten drei Beiträge zugeordnet:

  • Hans-Peter Müller schließe direkt an Max Weber an,
  • Karin Jurczyk, G. Günter Voß und Margit Weihrauch an die Forschung zur alltäglichen Lebensführung und ihrem zeitdiagnostischem Potential und
  • Cornelia Klinger hinterfrage das Verhältnis von Lebensführung und Lebenssorge.

Eine zweite Möglichkeit sehen die Herausgeber(innen) in einer analytischen Herangehensweise, die das Themenfeld Lebensführung anhand spezifischer Problemlinien und Analysedimensionen zu erschließen sucht. Anhand dieser wählten sie als Untertitel des Bandes: Individualität, Klasse und Bildung.

Quer zu dieser Systematik geht es nach Auffassung des Rezensenten auch immer wieder um die Polarität oder Dualität von Makro- und Mikroperspektiven.

Inhalt

Hans-Peter Müller arbeitet in seinem Aufsatz „Wozu Lebensführung? Eine forschungsprogrammatische Skizze im Anschluss an Max Weber“ zunächst die makro- und mikrosoziologischen Begriffsarsenale Webers für die Kennzeichnung der institutionellen Konstellation der Moderne heraus, die den Menschen dieses Kulturkreises eine methodisch-rationale Lebensführung abverlange – was kaum aktueller sein könnte. Hierbei sei Lebensführung das Scharnier zur Relationierung von Individuum und Gesellschaft. Nach Aufarbeitung der später vor allem von Helmut Plessner ausgearbeiteten sozialanthropologischen Grundlagen und der geistesgeschichtlichen Hintergründe (die in der Philosophie auf die Antike zurückgehen, bei Weber aber mit einer erfahrungswissenschaftliche Strategie verfolgt werden), werden Untersuchungsperspektiven, Wertsphären und Lebensordnungen aufgearbeitet. Müller gelangt zu einer „Kreuzklassifikation“ von Wertsphären und Lebensordnungen (Makro) und Persönlichkeit (Mikro) mit den Lebenschancen (Sozialstruktur) und den Lebensstilen (Kultur), die auch in einem Schema dargestellt werden (S. 38). Im Ergebnis wird ein Fragen- und Forschungsprogramm mit dem Ziel präsentiert, die soziologische Lebensführungsforschung als „Typus anerkannter Analyse zu etablieren“ (S. 50).

In Fokussierung auf die ‚alltägliche Lebensführung‘ hatte die Münchner Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ zwischen den späten 1980ern und den frühen 1990ern empirische Studien zu Arbeit und Leben vorgelegt. Im Band werden u.a. diese und ihre methodischen und theoretischen Weiterentwicklungen in sieben Eckpunkten (S. 66 ff.) von Karin Jurczyk, G. Günter Voß und Margit Weihrich vorgestellt. Das Konzept mache erkennbar, dass historische Entwicklungen im Bereich der Erwerbsarbeit eng verbunden sind mit komplementären Veränderungen in der Konsum- bzw. Privatsphäre. Vor allem aber mache es darauf aufmerksam, dass diese Veränderungen in der Person zusammenkommen und von ihr prozessiert werden müssen (S. 80). Hierbei stelle sich die Frage nach der ‚gelingenden Lebensführung‘. Denn die alltägliche Lebensführung gerate an ihre Grenzen, wenn sich Anforderungen des Alltags so weiterentwickeln, dass eine Integration nicht mehr gelingen kann (S. 82).

Auch Peter A. Berger hält Lebensführung für einen „Schlüsselbegriff moderner Gesellschaften und ihrer Soziologie“ (S. 260). Sie erscheine in einer (selbst-)reflexiv gewordenen Moderne als ständig optimierbar und zunehmend begründungspflichtig. Modernisierung sei ein Sammelbegriff für weltweites Wachstum und die sich intensivierende Vernetzung industrieller Komplexe, verbunden mit voranschreitender Urbanisierung, dem Bedeutungsverlust und der ‚Entzauberung‘ überlieferter Weltbilder im Zuge von Verwissenschaftlichung und Rationalisierung, der zunehmenden Demokratisierung, dem Wertewandel und der Individualisierung – also ein Knäuel miteinander verwobener, ungleichzeitiger Wandlungen. Mit Hilfe der Begriffe Struktur, Kultur, Natur und Person könnten ihre Prozesse sortiert werden (S. 262 ff.). Mit Hinweisen auf Simmel, Durkheim, Park, Sorokin, Marx, Weber und Schumpeter zeichnet Berger nach, dass Individualisierung keine Neuentdeckung einer (post)modernen Soziologie sei und dass die indirekten und kollektiven Folgen von Individualisierung und hoher Mobilität hinsichtlich ‚sozialer Integration‘ und ‚kollektiven‘ und ‚kulturellen‘ Identitäten von Anfang an ambivalent gewesen seien. In der Geschichte der Soziologie habe es hierzu sowohl pessimistische wie auch optimistische(re) Deutungen gegeben. Ähnliches lasse sich auch anhand empirischer Ergebnisse zur inter- und intragenerationellen Mobilität in West- und Ostdeutschland ablesen. Hierbei scheine sich ein allmählicher Übergang von einem klassisch industriegesellschaftlichen, eher standardisierten, zu einem stärker flexibilisierten, postindustriellem Lebenslaufregime anzudeuten, nämlich vom ‚Eisenbahnmodell‘ (Bindung an ein fixes Streckennetz und definitive ‚Kursbücher‘ mit allerdings unterschiedlichen Routen und einigen Optionen) zu einem ‚Automodell‘ (mehr Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Abfahrtszeiten, Zielen und Routen, S. 277). Damit würden Klassen, Schichten oder auch ‚Räume‘ mit Blick auf die soziale (oder regionale und nationale) Herkunft der aktuellen Angehörigen dieser Sozialkategorien umso heterogener, je mobiler diese Gesellschaften seien (S. 279). Umso notwendiger sei es daher, die Fragilität und Vielfalt von Lebenswegen im 21. Jahrhundert selbst zum Ausgangspunkt von Reflexionen zu Maximen einer Lebensführung zu machen (S. 280).

Andere Beiträge beschäftigen sich mit

  • der Bedeutung von Bildung in und für die Lebensführung (Heinz-Elmar Tenoth),
  • der studentischen Lebensführung (Rudolph Stichweh, Anja Röcke),
  • der gesunden Lebensführung als Pflicht (Georg Vobruba),
  • der Lebensführung im Alter in der ‚alternden‘ Gesellschaft (Stephan Lessenich),
  • transnationalen Milliardären als Super-Akteuren (Peter Hägel) und
  • sozial strukturierten Reaktionsmustern von Angehörigen der Mittelschicht in Deutschland auf die wahrgenommene Gefährdung ihrer sozialen Position (Cornelia Koppetsch).

Diskussion und Fazit

Der Band vermittelt verschiedene Über- und Einblicke auf die Prägekräfte, Freiräume und Restriktionen der Lebensführung heute. Er ist gut zusammengestellt und lektoriert, liest sich geradezu spannend und sei daher ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. Es wäre wünschenswert, wenn dem ambitionierten Vorschlag, Lebensführung als einen Schlüsselbegriff gerade in der Moderne zu einem Forschungsprogramm fortzuentwickeln bzw. dieses umzusetzen, zukünftig Erfolg beschieden würde.

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Elkeles
bis 2018 Hochschule Neubrandenburg, FB Gesundheit, Pflege, Management

Es gibt 28 Rezensionen von Thomas Elkeles.

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Zitiervorschlag
Thomas Elkeles. Rezension vom 05.07.2017 zu: Erika Alleweldt, Anja Röcke, Jochen Steinbicker (Hrsg.): Lebensführung heute. Klasse, Bildung, Individualität. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. ISBN 978-3-7799-2950-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22851.php, Datum des Zugriffs 14.11.2024.


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