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Hendrik Trescher: Behinderung als Praxis

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 18.09.2017

Cover Hendrik Trescher: Behinderung als Praxis ISBN 978-3-8376-3971-1

Hendrik Trescher: Behinderung als Praxis. Biographische Zugänge zu Lebensentwürfen von Menschen mit ´geistiger Behinderung´. transcript (Bielefeld) 2017. 294 Seiten. ISBN 978-3-8376-3971-1. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.

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Thema

Lebensentwürfe entstehen zumeist in zeitlichen Kontexten von Krisen persönlichen Wachstums. Eine dieser Krisen, in die die sich herausbildende Persönlichkeit fast unausweichlich hineindriftet, kann als Adoleszenzkrise bezeichnet werden. In ihr vollzieht sich der mehr oder weniger dramatische Prozess der Geburt der sozialen Persönlichkeit, der Identität eines Menschen- der Eintritt in die (gesellschaftliche) Welt der Erwachsenen. Die (selbstreflexive) Beantwortung der Frage, nach dem: „Wer bin Ich“ geht einher mit der Abgrenzung von und der kritischen Auseinandersetzung mit der Lebensweise und den Wertorientierungen der eigenen Herkunft(sfamilie). Das setzt voraus, dass die sich entwickelnde adoleszente Persönlichkeit einen Zugang zu sich selbst finden kann, d.h., eine mehr oder minder adäquate „Bewusstheit“ über die Tendenzen, denen sie folgt, entwickelt. Sie benötigt dazu Menschen, denen sie sich (an-) vertrauen kann, die ihr ein „Du“ sind- an dem sie als erwachsen werdender Mensch „reifen“ kann. In gelingenden kooperativen Dialogen können Wünsche, aber auch („negative“) Emotionen erkannt und in die Sprache gebracht, d.h., benannt und symbolisiert werden. Mehr noch: Sprachmächtigkeit geht einher mit der Entwicklung (einfacher und erweiterter) Handlungsfähigkeit, die darauf drängt, Verfügung über die eigenen Lebens- und Entwicklungsbedingungen zu erlangen. Lebensentwürfe können (sinnerfüllt) „realisiert“ werden.

Was geschieht jedoch mit der Identitätsbildung eines Menschen, wenn überwachende und kontrollierende (institutionelle) Maßnahmen, Strukturen und Verhaltensweisen sich zu mitunter massiven Diskursbarrieren auftürmen? Wie kann es gelingen, eine „wirkmächtige“ diskursive Praxis, die zwangsläufig zu Ausschluss und Separierung führen muss, auf eine Weise zu dekonstruieren, dass die alltägliche „Aushandlung“ von Lebensentwürfen und Zukunftsperspektiven (wieder) möglich wird? Fragen, denen die vorliegende objektivhermeneutische Fallstudie von Hendrik Trescher nachgeht und einer akribischen Analyse unterzieht.

Aufbau, Inhalt und Diskussion

Im Mittelpunkt der „biografischen Zugänge zu Lebensentwürfen von Menschen mit ‚geistiger Behinderung‘“ steht die Dokumentation von 16 Lebensgeschichten und -entwürfen von Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und (kulturell- ethnischer) Herkünfte, die in verschiedenen institutionellen (Wohn-) Kontexten der Behindertenhilfe betreut werden (ambulant, stationär, stationär intensiv, unter besonderer Berücksichtigung der Herkunftsfamilie).

In Topic Interviews (vgl. Kapitel 8), einer Interviewform „die zwar durch das vorliegend Erkenntnisinteresse vorstrukturiert“ ist, „jedoch eine größtmögliche Offenheit“ (S. 63) mitbringt, werden Daten erhoben, die mit den „sequenzanalytischen Verfahren der Objektiven Hermeneutik“ (S. 64) ausgewertet werden. Dabei führt die vom Autor vorgelegte Studie theoretische und empirische Überlegungen und Ergebnisse zusammen (und weiter), die in vorausgegangenen Forschungsprojekten „Freizeit als Fenster zur Inklusion“ und „Wohnräume als pädagogische Herausforderung“ gewonnen und verallgemeinert wurden.

Den systembildende Faktor der Interpretation der Untersuchungsergebnisse bildet „(geistige) Behinderung als diskursive Praxis“ (S. 27 f.), wobei mit Diskurs im Sinne Foucaults „eine gewisse Vollzugskraft“, oder „Wirkmächtigkeit auf das Subjekt, welches entlang gesellschaftlicher Klassifikationssysteme als ‚geistig behindert‘ ausgewiesen (ist- M.J.)“ (S. 29), verbunden wird. „Der Zusammenhang ist dabei darin zu sehen, dass das im Diskurs Gesprochene ein gewisses Denken und damit auch eine gewisse Sichtweise auf geistige Behinderung, bzw. Menschen, die mit dieser Statuszuweisung adressiert werden, hervorbringt“ (S. 29). Der praktische Diskurs sei dabei „nicht statisch, sondern kontingent“, sodass sich mit diesem auch die (soziale) Konstruktion von (geistiger) Behinderung als wandelbar erweist.

Dass (geistige ) Behinderung ein in der „diskursiven Praxis“, hervorgebrachtes und immer wieder durch ausschließende und separierende Diskursbarrieren reproduziertes Phänomen ist (vgl. S. 272), wird nicht nur in jeder einzelnen der biografischen Fallschilderungen und theoretisch verdichteten Analyseergebnisse (Kapitel 9-12) deutlich, sondern auch in der zusammenführenden Erörterung ausschließender und möglich inklusionsfördernder Diskursmechanismen im Kapitel 14: „Behinderung als Praxis im Lebenslauf“ (S. 233 f.) herausgearbeitet:

  • 14.1. – Institutionskarrieren
  • 14.2. -„Geistige Behinderung“ als Determinante?!
  • 14.3. – Medikalisierung als Urform der Reproduktion des „medizinischen Blicks“
  • 14.4. – Subjektivität, Abhängigkeitsverhältnisse und erlernte Hilflosigkeit
  • 14.5. – Das Auflehnen der Subjekte
  • 14.6. – Lebensraum „geistige Behinderung“ als soziale Begrenzung der Lebenswelt?
  • 14.7. – Geistige Behinderung und Bewährung
  • 14.8. – Der Kontakt der Mehrheitsgesellschaft als Krise und der Wunsch nach Normalität
  • 14.9. – Wünsche und Perspektiven
  • 14.10. -Zur Notwendigkeit der (Re-) Fokussierung des Subjekts in stationären Betreuungsstrukturen
  • 14.11.- Herkunftsfamilie und Ablösungsprozesse
  • 14.12.- Das Zusammenspiel von Behinderung und Armut
  • 14.13.- Sprachlosigkeit im Hilfesystem- geistige Behinderung als Diskursbehinderung
  • 14.14.- Wo das Hilfesystem passt- Menschen, denen es „gut“ geht und die Frage nach dem „Guten“

Aus der Studie lassen sich eine Fülle von Herausforderungen an das Hilfesystem (vgl. etwa die Dekonstruktion von Totalität- den Abbau von Überwachung und die Verringerung von Würdeverletzungen), die Betreuungspraxen (vgl. den weiteren Rückbau des dominanten, technisch- bürokratisch verfassten Verständnisses von Bezugsassistenz- die „fallbezogene Reflexion“ im Sinne einer „Refokussierung auf das zu betreuende Subjekt im Handlungsalltag“)

und grundlegende Fragen an Disziplin und Profession: „Angesichts der zunehmend vorhandenen empirischen Daten, die auf die Kontingenz des Phänomens (geistige) Behinderung verweisen und dabei mitunter auch die Rolle des Hilfssystems sowie die Rolle der Sonderpädagogik als solche kritisch reflektieren (…), erscheint es mit zunehmender Dringlichkeit geboten, sich wieder stärker theoretisch- reflexiv denn evidenz- und outputbasiert mit der Handlungspraxis zu beschäftigen“ (S. 266), ableiten.

Aus Sicht des Rezensenten wäre insbesondere an das Desiderat einer „emanzipativen“, oder „selbstermächtigenden“ Pädagogik anzuschließen (vgl. die Arbeiten von Iris Mann alias Christel Manske), die den von geistiger Unterversorgung Betroffenen in der „Einheit von Handlung, Symbol und Zeichen“ eine (Schrift-) Sprache zur Aneignung zur Verfügung stellt, die diese (wieder) „zu aushandelnden Subjekten subjektivier((en) könnte- M.J.)“ (S. 258).

Zielgruppen

Da das Buch einerseits akribisch recherchierte, konkrete Einblicke in die Biografien und die Vielfältigkeit des Lebens und der Lebensentwürfe von Menschen (mit geister Behinderung) eröffnet und andererseits deren soziale Entwicklungssituationen „kritisch analysiert“ und „problemzentriert“ darstellt, könnte es sowohl für Student/-innen der Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswissenschaften von Interesse sein, als auch für „gestandene“ Inklusionsforscher/-innen, Lehrende und Praktiker/-innen der Behindertenhilfe, Sozialen Arbeit und Sonderpädagogik.

Fazit

Eine überaus anregende, begrifflich klar justierte und vielfältige Fallstudie.

Literatur

  • Jödecke, Manfred: „Der Mensch muss werden können, was er seinem Wesen nach ist…“
  • Reflexionen zum psychischen Gestaltwandel am Beispiel des Jugendalters. In: Behindertenpädagogik 46 (2007) 3+4, S. 343- 373
  • Manske, Christel (2008): Jenseits von Pisa. Lernen als Entdeckungsreise. Eigenverlag (ISBN 978-3-00-025061-3). Hamburg
  • Wernet, Andreas (2010): Objektive Hermeneutik. In: Detlef Horster & Wolfgang Jantzen (Hg.): Wissenschaftstheorie. Kohlhammer, Stuttgart

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 18.09.2017 zu: Hendrik Trescher: Behinderung als Praxis. Biographische Zugänge zu Lebensentwürfen von Menschen mit ´geistiger Behinderung´. transcript (Bielefeld) 2017. ISBN 978-3-8376-3971-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22864.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.


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