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Hans Hesse: Stolpersteine. Idee. Künstler. Geschichte. Wirkung

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.12.2017

Cover Hans Hesse: Stolpersteine. Idee. Künstler. Geschichte. Wirkung ISBN 978-3-8375-1547-3

Hans Hesse: Stolpersteine. Idee. Künstler. Geschichte. Wirkung. Klartext Verlag (Essen) 2017. 512 Seiten. ISBN 978-3-8375-1547-3. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.

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„Stolpersteine“ als nationales Kulturgut mit internationaler Strahlkraft

Wenn Erinnerung zur Symbolik, zur existentiellen Herausforderung und zur Gedenkkultur wird, entwickeln sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung empathische Zeichen, die als „Denkmäler“ gebaut werden. Mit der Übersetzung als Herausforderung „Denk mal!“ kommt zum Ausdruck, dass Denkmäler keine Verherrlichungs- und ideologische Erinnerungen sein sollen, sondern im wörtlichen Sinn „Stolpersteine“. Es sind keine Monumente und Prachtbauten, sondern „Gegen-Denkmale“, über die man tatsächlich stolpern kann. Der Raum wird hier nicht zum öffentlich gelenkten und politisch gesteuerten Blickpunkt; vielmehr zur Herausforderung und zum „dialogischen Ort“-

Entstehungshintergrund und Autor

Das künstlerische Erinnerungsprojekt „Stolpersteine“ erhebt den Anspruch, die öffentliche Wahrnehmung und Aufmerksamkeit auf Völkermord und Verbrechen im Nationalsozialismus zu lenken, sich emotional und faktisch damit auseinanderzusetzen und individuelle und kollektive Verantwortung dafür zu übernehmen. Wie nicht anders zu erwarten, spagatieren Zustimmung, Ablehnung und Kritik am Projekt „Stolpersteine“. Da wird auf der einen Seite davon gesprochen, dass die Idee das gesellschaftliche moralische Bewusstsein stärke, und andererseits den Initiatoren vorgeworfen, mit dem Projekt eine „kettenbriefartige Nötigung“ vorzunehmen.

Der Initiator des Kunst- und Erinnerungsprojektes, der in der Nähe von Köln lebende Konzeptkünstler Gunter Demnig, will mit den „Stolpersteinen“ an die Opfer der NS-Zeit erinnern, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing in den Bürgersteig einlässt. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, das ist das eingängige Motto des Projektes, das mittlerweile in rund 1.100 Orten deutschland- und weltweit umgesetzt wird und von Woche zu Woche wächst. Auf den Stolpersteinen steht geschrieben: „HIER WOHNTE. Ein Stein. Ein Name. Ein Mensch“. Das Kunstprojekt wird organisiert und koordiniert von der „Stiftung – Spuren – Gunter Demnig“ im Kunstzentrum-Signalwerk auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs der Köln-Frechen-Benzelrather Eisenbahn. Interessierte können eine Patenschaft für die Herstellung und Verlegung eines Stolpersteins (120 Euro) übernehmen.

In mehreren Informations-, Diskussions- und Forschungsvorhaben wurden Zielsetzung, Realisierung und Wirkung des Projektes „Stolpersteine“ thematisiert. Es begann Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre in Berlin-Kreuzberg und Köln. Vor allem in Köln experimentierte Gunter Demnig mit der Idee der „Stolpersteine“, nahm Vorläufer und gleichzeitige Initiativen auf, wie ein Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus anders als in Druckschriften und medialen Darstellungen realisiert werden könnte. Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich bringt die vergangenheitsbewusste, gegenwartsbezogene und zukunftsweisende Bedeutung des Projektes auf den Punkt: „Eine zugleich bewegendere und intelligentere Erinnerung, Mahnung, Respektbezeugung kann ich mir nicht vorstellen“. Die nationale und internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung der Initiative wird dadurch verdeutlicht, dass von einem „Jahrhundertprojekt“ gesprochen wird, ja, sie wird sogar mittlerweile als „nationales Kulturgut“ gepriesen, das kulturelle und transkulturelle Ausstrahlung hat. „Stolpersteine“ sind mittlerweile nicht mehr nur Gedenksteine für nationalsozialistische Opfer, sondern empathical und spatial turns gegen jede Form von Unmenschlichkeit überall in der Welt, etwa, wenn der Künstler im April 2016 in der südkoreanischen Hauptstadt Seou „stepping stones“ für die so genannten „Trost“frauen legte, die während des Krieges als Prostituierte von japanischen Soldaten missbraucht wurden.

Die Kunst- und Museumsbibliothek der Stadt Köln hat erstmals in der Ausstellung „Das Projekt STOLPERSTEINE – Ein Kunstdenkmal als Bürgerbewegung“ (16.9. – 12. 11. 2017) in einer umfassenden Schau auf die gesellschaftliche Bedeutung der Initiative aufmerksam gemacht. Die zahlreichen Berichte, Dokumentationen und medialen Informationen über Stolperstein-Projekte in den verschiedenen Orten schreien geradezu nach einer systematischen Sichtung, Registrierung und Forschungsauswertung. Das hat nunmehr die Kölner Kunst- und Museumsbibliothek mit einem Archiv und Kommunikationsort übernommen. Gesellschaftliche, künstlerische und außergewöhnliche Initiativen brauchen kommunikative Orte, um eine kritische Bestandsaufnahme vornehmen, Wege und Methoden diskutieren und an einer Weiterentwicklung weiterarbeiten zu können.

Der Historiker Hans Hesse legt dazu, gewissermaßen als Start für eine weiterführende, „immerwährende“ Erinnerungs- und Forschungsarbeit zu den „Stolpersteinen“, ein Buch vor, das nicht nur durch die gut gemachte buchbinderische und designte Aufmachung fasziniert, sondern auch einen umfassenden Überblick über die vielfältigen Aktivitäten „vor Ort“ vermittelt. Dass bei dem 511seitigen Werk alleine rund ein Viertel des Umfangs Literatur- und Quellenangaben, Internetadressen, biographische und chronologische Zusammenfassungen, Adressenlisten und Anmerkungen ausmachen, zeigt die Bedeutung des Buches für Aufklärungs-, Informations- und Forschungsarbeiten, und zwar für alle gesellschaftlichen Bildungsbereiche.

Aufbau und Inhalt

Der Autor stellt in der Einleitung den Forschungsstand des „Jahrhundertprojekts“ vor, thematisiert zahlreiche, aktuelle und weiterführende Fragestellungen und zeigt die Grundlagen und Vorläufer auf, die dem Projekt „Stolpersteine“ zugrunde liegen. Im zweiten Kapitel wird der Künstler Gunter Demnig mit einer biographischen Skizze vorgestellt, seine künstlerische Arbeit gezeigt und Einblicke ins Private und Künstlerische des „Handwerkers der Erinnerung“ und „Stolpersteinmetz(es)“ ermöglicht. Das dritte Kapitel überschreibt der Autor mit der Überschrift „Ab und zu gehst du heulend nach Hause“. Es ist ein Ausdruck, der sich angesichts der Unmenschlichkeiten, nationalistischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Vergangenheiten und den Kakophonien in der Gegenwart aufdrängt und nach Gegenwehr schreit.

Dass der 1993 unter Beteiligung von Gunter Demnig während der Buchmesse demonstrativ gesetzte erste „Stolpersein“ von der Kulturöffentlichkeit als „Stein des Anstoßes“ betrachtet wurde, verdeutlicht die kontroverse, emotional und teilweise ethnozentrisch und erinnerungsvergessend geführte Diskussion. Der gesellschaftliche Diskurs über die Stolpersteine vollzog sich in der Spannweite, dass das „Gedenken nur symbolisch sein kann“, der Etablierung und Akzeptanz als „bürgerschaftliches Projekt“, bis hin zur internationalen Aufmerksamkeit. Die Phänomene, wie sie sich als geplante und spontane Aktionen zur Verlegung von Stolpersteinen ergeben, Fragen der behördlichen Genehmigung, des anfänglichen Verbots des Münchner Stadtrats, Stolpersteine im Stadtgebiet zu verlegen, Eigentums- und Besitzkonflikten, Zerstörungswut, hin zu bei Projekten entstehenden Fußgänger- und Verkehrsstaus, zeigen die erinnerungsrelevante und didaktische Bedeutung auf. So ist es erfreulich, dass die bildungspolitischen und aufklärerischen, schulischen und außerschulischen Aktivitäten bei der Vorbereitung, Durchführung und Pflege der Stolpersteine wachsen. Es sind die an- und aufregenden Anstöße, die von der vom Projekt „Stolpersteine“ eingeleiteten neuen Erinnerungskultur ausgehen: Sollen die Stolpersteine „Schluss-Steine“ sein, oder Denkmale für individuelles und gesellschaftliches Erinnern, in Deutschland, Europa und in der Einen Welt? Die Diskussion ist in vollem Gange, und es braucht viele Aktive und Demokraten, Erinnerung als eine ganzheitliche Kompetenz eines humanen, menschenwürdigen Lebens zu erkennen und zu leben.

Fazit

Das Projekt „Stolpersteine“ ist ein Vorhaben, das als Erinnerungskultur an die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland und Europa entstand und als innovative, künstlerische Idee weltweite Aufmerksamkeit findet. Es kann die Kraft entwickeln, ein Bollwerk gegen Ego- und Ethnozentrismus, gegen Nationalismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit zu bilden – wenn es gelingt, die Stolpersteine als lebensweltliche und zivilgesellschaftliche Herausforderung für eine humane Erinnerungskultur zu verstehen!

Autor und Initiatoren der Kölner Kunst- und Museumsbibliothek rufen auf, dem Archiv Informationen und Materialien über die örtlichen und regionalen Stolpersteinprojekte zur Verfügung zu stellen: hesse@hans-hesse.de / elke.purpus@stadt-koeln.de.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1672 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 28.12.2017 zu: Hans Hesse: Stolpersteine. Idee. Künstler. Geschichte. Wirkung. Klartext Verlag (Essen) 2017. ISBN 978-3-8375-1547-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22871.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.


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