Kurt Grünberg, Wolfgang Leuschner (Hrsg.): Populismus, Paranoia, Pogrom
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.09.2017

Kurt Grünberg, Wolfgang Leuschner (Hrsg.): Populismus, Paranoia, Pogrom. Affekterbschaften des Nationalsozialismus.
Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2017.
176 Seiten.
ISBN 978-3-95558-200-5.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Herausgegeben von der Initiative 9. November.
Thema
Extreme Ideologien brauchen Propaganda, Demogogien und Hassschüren. Dort, wo nationalistische, rechtsradikale, fundamentalistische und populistische Macht entsteht, sind Menschenfeindlichkeit, Höherwertigkeitsvorstellungen und Rassismen die Helfer! Mit der Frage, wie solche menschenunwürdigen Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen entstehen, beschäftigen sich alle gesellschaftspolitischen Fächer, nicht zuletzt PsychologInnen und PsychoanalytikerInnen. Eine Frage dabei ist allen gemeinsam: „Wie kann es gelingen, die Menschen aufzuklären, dass sie aufgeklärt sein wollen!“. Es ist also eine Aufgabe für eine humane, schulische und außerschulische Bildung in allen Lebenslagen und -situationen (vgl. dazu z.B.: Carolin Emcke, Gegen den Hass, www.socialnet.de/rezensionen/21832.php). Wo es um die „Dämonisierung der Anderen“ geht, braucht es Widerstand (Maria do Mar Castro Varela / Paul Mecheril, Hg., 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21724.php). Es sind intellektuelle Anforderungen zum Denken (Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen können, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php). Und sie sind notwendig angesichts der lokalen und globalen Tendenzen bei menschenverachtenden Auffassungen (Brigitte Kather, Die Vermittlung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Identitätsentwicklung Jugendlicher, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21233.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Die populistischen, rechtsradikalen und rassistischen Entwicklungen sowohl im nationalen, als auch im internationalen Rahmen fordern demokratisch denkende und handelnde Menschen heraus. In besonderer Weise wirkt der „Populismus von rechts“. Er bringt Denkformen und unvorstellbare Reaktionen zutage, die für Demokraten abstoßend wirken. Die Widerstände dagegen freilich reichen mit Kopfschütteln und Aussitzen nicht aus. Es braucht eine aktive Kraft und die wissenschaftliche Nachschau darüber, wie solche Entwicklungen entstehen, welche Ideologien und Einflüsse sie steuern und welche Interessen dahinter stehen.
Beim Frankfurter Sigmund-Freud-Institut beschäftigen seit mehreren Jahren transdisziplinäre Arbeits- und Forschungsgruppen mit den Fragen des kollektiven Erinnerns und Verdrängens der Shoa und der nationalsozialistischen Verbrechen. Und zwar nicht nur dokumentarisch als Reflexionsarbeit hin zu einem „Nie wieder!“, sondern insbesondere und durch die aktuellen Entwicklungen in besonderer Weise herausgefordert mit der „Frage, wie dieses Erinnern noch heute das Seeleneben, die Phantasien, das Denken, Fühlen und Handeln nicht nur der damaligen Akteure, sondern auch ihrer Nachkommen prägt“. Es sind also Gegenwarts- und Zukunftsfragen darüber, wie es gelingen kann, dass die Menschheit im Sinne der „globalen Ethik“ friedlich(er), gerecht(er) und demokratisch zusammen leben kann. Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten werden in wissenschaftlichen Symposien und Publikationen vorgestellt. Bei der Tagung vom 24. – 25. Februar 2017 an der Frankfurter University of Applied Sciences diskutierten und analysierten Expertinnen und Experten in Zusammenarbeit mit der Initiative 9. November und dem Projekt „Gegen Rassismus Forum Berlin / Politischer Dialog“ der Friedrich-Ebert-Stiftung die Aktivitäten, Ursprünge, Ziele und gesellschaftlichen Auswirkungen von Pegida, AfD und anderen rechten Bewegungen. Es sind Bestrebungen, im „Volk“ eine „erinnerungspolitische Wende“ hin zu einem nationalistischen, rassistischen und populistischen Bewusstsein zu erzeugen, wie dies z.B. von Björn Höcke und Akif Pirinçci propagiert wird.
Die Frankfurter Psychoanalytiker Kurt Grünberg, Wolfgang Leuschner und die „Initiative 9. November e.V.“ geben den Sammelband heraus, an dem 14 Expertinnen und Experten mitarbeiten. Der Blickpunkt der Beiträge richtet sich insbesondere auf das „Umkippen von Verfolgungsgefühlen durch Propaganda und innere Motivationen in kollektive Zerstörungs- und Pogromaktionen“. Die psychoanalytische These: „Das Umkippen von wahnhaften Verfolgungsängsten und Größenvorstellungen zu verbrecherischen Taten“.
Aufbau und Inhalt
Kurt Grünberg verweist mit seinem Beitrag „Etwas mehr als eine Einleitung“ darauf, dass es angesichts der komplexen, politischen und gesellschaftlichen Probleme und Zumutungen notwendig ist, keine simplen Ja-Nein-Antworten zu erwarten: „Die Herausforderung, vor den aktuellen Tendenzen nicht die Augen zu verschließen, sondern die Situation zu analysieren und Handlungsperspektiven zu entwerfen“.
Der in Atlanta/Georgia/USA lebende Architekt Benjamin Hirsch erinnert sich mit dem Beitrag „Die Zerstörung der Frankfurter Synagoge in der Friedberger Anlage“ an die Pogrome der Nazis. Als Sechsjähriger erlebte er im November 1938 nicht nur die Vernichtung des Gotteshauses, sondern auch seiner Familie und der jüdischen Nachbarn; wie er auch immer wieder die erstaunten, gaffenden und johlenden Zuschauer vor seinem geistigen Auge sieht.
Der 1922 in Limburg/Lahn geborene und in Frankfurt/M. am 2. 4. 2017 gestorbene Edgar Sarton-Saretzki hat nach seiner Rettung vor der Vernichtung durch die Nazis in Kanada als Journalist gearbeitet. Mit seinem Beitrag „Unbequeme Betrachtungen zum 9. November 1938 in Frankfurt am Main“. Es sind bedenkens- und bemerkenswerte Worte, die Erinnerungen an ein (mein?) Land beinhalten, das durch Moral- und Rechtsbruch ein unbekanntes wird: „Das Gefühl, die Menschen und ihre Umgebung zu kennen, erwies sich für viele Juden als trügerisch, für manche als tödlich“.
Der Politikwissenschaftler Hajo Funke verweist mit seinem Beitrag „Paranoia und Politik“ auf die „Entfesselung von Vorurteilen“, die als Merkmal jeder Form von Faschismus, Nationalismus, Rechtsradikalismus, Rassismus und Populismus gilt. Er schlägt den Bogen von den völkischen, autoritären und nazistischen Massenbewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hin zu den rechtspopulistischen und rechtsradikalen „Neuen Rechten“, wie Pegiada und AfD. Der Rechtsruck in den Gesellschaften, und damit eine gezielte Mentalitäts- und Gesellschaftsveränderung, mit all den menschen- und demokratiefeindlichen Folgen, lässt sich aktuell besichtigen in den Ergebnissen der gerade zu Ende gegangenen Bundestagswahlen in Deutschland: Steigerung der Aggression gegen Andere, Verrohung von Sprache und Kommunikation und Kontrollverlust der Politik.
Der Leiter des „Fördervereins Roma Frankfurt a. M.“, Joachim Brenner, thematisiert „Antiziganismus – der Rassismus gegen Roma und Sinti“. Er zeigt den breiten gesellschaftlichen Konsens auf, der sich, offen wie verdeckt, im „feine(n) Ressentiment, geschickte(r) Ignoranz oder brutale(r) Verachtung gegenüber Sinti und Roma“ äußert. Dagegen können nur Aufklärung, Bildung und humane Erziehung etwas ausrichten. Brenner vermittelt dazu Empfehlungen für die schulische und Erwachsenen-Bildungsarbeit.
Die Diplom-Pädagogin von der Hochschule in Darmstadt und der Fachhochschule Frankfurt/M., Katrin-Marleen Einert, bezieht sich mit ihrem Beitrag „Der Luzifer-Effekt“ auf die Forschungsarbeiten des US-amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo, der mit seinem Experiment nachwies, „was ‚gewöhnliche‘ Menschen zu Tätern werden lässt“. Die konstruierten Machterlebnisse und -erfahrungen entwickeln sich (schleichend und nicht rational begründend) als „Selbstläufer“. Obwohl in weiteren Forschungsexperimenten die ursprünglichen Anordnungen und Methoden verändert wurden, bleiben die wesentlichen Auswirkungen bestehen: „Tyranneien … funktionieren nicht aufgrund ihrer hilflosen und ignoranten Ausführer, sondern da diese sich mit entsprechenden Werten identifizieren und ihre Taten als richtig und gut erachteten“.
Die Soziologin und Mitarbeiterin der Initiative 9. November, Iris Bergmiller-Fellmeth, legt mit dem Beitrag „In der Schule der Gottlosigkeit“ die Erzählung des Schriftstellers Aleksandar Tišma zugrunde und stellt fest, „dass unter extremen Bedingungen aus jedem ein wölfisches Individuum werden kann“, wie andererseits „der Schrecken, das Abgründige die Decke der Zivilisation jederzeit durchstoßen“ kann, wenn Institutionen und Gesellschaften ethisch nicht gefestigt sind.
Der Hannöversche Schriftsteller, Kunsttherapeut und Dozent Dietmar Becker schließt mit dem Beitrag „Bann und Befehl“ an Hanna Arendts Charakterisierung vom „banalen Bösen“ an. Er diskutiert, dass „die List der Vernunft ( ) nicht nur die gute Seite im Menschen (befördert), sondern auch die unheilstiftende“. Begriffe wie „Blut und Boden“, „Blutbann“, „Todeskult“, „Unterwerfungsbereitschaft“, u.a. lassen Ideologien entstehen, die zu einer „Fatalität der faschistischen Verknüpfung von realer Eroberungspolitik und magisch-quasireligiösem Sendungsbewusstsein“ und zur „Bereitschaft führt, in letzter Konsequenz alles zu vernichten, was sich diesem totalitären Bemächtigungsstreben entgegenstellt“.
Der Psychiater und Psychoanalytiker Wolfgang Leuschner informiert mit dem Beitrag „Verfolgungswahn, Zerstören und Totschlagen – zur Psycho- und Soziogenese rechter Gewalt“ über die sozial und gesellschaftlich gemachten menschlichen Affekte, die sich in der „rechtsextremistischen Hasslogik“ äußern. Er diskutiert, wie Hasseffektbildung bereits in frühen Jahren entstehen kann, und er zeigt mit der „Soziogenese der Kollektivparanoia“ die historisch und aktuell wirkenden, rassistischen, populistischen, rechtsextremistischen und kapitalistischen Einstellungen und Verhaltensweisen auf.
Die Sozialpsychologin Regina Becker-Schmidt berichtet mit ihrem Beitrag „Von denen, die ausziehen, Schrecken zu verbreiten und Gewalt auszuüben“ über antisemitische Straftaten, wie z.B. Friedhofsschändungen. Die Zunahme von Schändungen jüdischer Grabstätten (auch) in Deutschland muss jeden ethisch, moralisch und demokratisch denkenden Menschen empören. Psychoanalytisch verweist die Autorin auf die bewussten und unbewussten Trieb-, Affekthandlungen, die sich in den Feldern der Triebdynamik zeigen und mit der Theoriebildung des „Spiegelstadiums“ erklären lassen. Die widersinnigen und konstruierten, antisemitischen Aggressionen sind „an uns gerichtet“. Sie müssen auch von uns beantwortet werden, damit die Suche und die Mitgestaltung einer menschenwürdigen Gegenwart und Zukunft nicht im gespenstigem Gelände von Rassismus, Antisemitismus und Populismus landet.
Dietmar Becker steuert den weiteren Beitrag „Vorindividuelle Gedächtnisbestände“ bei, indem er über „die Wiederkehr von Abgesunkenem und dessen Anteil an Zerstörung und Pogrom“ reflektiert. Der Rückgriff auf imaginäre Bestände des Bösen ermöglicht insbesondere für diejenigen in der Gesellschaft, die sich als „Verlierer“ und „Vergessene“ erleben, ein Festhalten an imaginären, irrationalen und unlogischen Vorstellungen, die sich in Begriffen wie „Nation“, „Volk“ und „Höherwertigkeit“ ausdrücken.
Der Sozialwissenschaftler Jan Lohl nimmt das Zitat „Für die Zukunft unseres Volkes (…) kämpfen“ zum Anlass, um Forschungsergebnisse zur psychoanalytischen Sozialpsychologie von rechtspopulistischer Propaganda vorzustellen. Mit dem Forschungsprojekt zu rechtspopulistischen Propagandareden wurde danach gefragt, welche Themen in diesen Reden aufgegriffen wurden, welche Rhetorik zum Einsatz kam und welche Bilder das Interesse der Adressaten wecken sollten. Die ausgewählten Beispiele verdeutlichen die Absichten und Zielsetzungen der Propagandareden: „Rechtspopulismus beutet eine mögliche leidvolle psychische Dimension des neoliberalen Wandels der Gesellschaft auf eine tendenziöse, gewaltvolle Weise für die eigenen völkischen und rassistischen Zwecke aus“ – „Aggressive Anklagen und zerstörerische() Impulse, die sich in der Depression gegen das Selbst richten…, um Antisemitismus nach außen, gegen Juden und Jüdinnen gewendet werden“ – „Rechtspopulistische Propaganda bietet die Möglichkeit zu einer konformistischen Rebellion“.
Der Psychologe von der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, Tom David Uhlig, reflektiert mit dem Beitrag „Abgründe der Aufklärung“, wie sich Verschwörungstheorien als antisemitische Zerrbilder der Ideologiekritik zeigen. „Antisemitismus ist eine Denkform, kein Vorurteil, das zufällig aufgeschnappt, ein falsches Bild über ‚die Juden‘ vermittelt“.
Der Geschäftsführer von „medico international“ und mit seiner Funktion Träger des Friedensnobelpreises, Thomas Gebauer, fragt „Was tun?“. Es sind die Antworten, die uns als Demokratinnen und Demokraten fordern, nämlich demokratische, freiheitliche, individuelle und lokal- und globalgesellschaftliche Strukturen zu schaffen; eine menschenwürdige Daseinsvorsorge zu ermöglichen; gegen die fortschreitende, lokale und globale, neoliberale Entsolidarisierung einzutreten: „Ohne einen Bruch mit der voranschreitenden Kolonisierung menschlicher Lebenswelten durch Ökonomie und Macht wird es nicht gelingen, das individuelle, kreative Sein … zu fördern“.
Elisabeth Leuschner-Gafga informiert mit dem Schlussbeitrag „Zur Geschichte der Initiative 9. November“ über die Arbeit der 1988 gebildeten Organisation. Die Jahrzehnte langen Aktivitäten wie Informationsveranstaltungen, Aufklärungsprojekte und Forschungstätigkeiten, haben dazu geführt, den „Bunker Friedberger Anlage“ als Gedenkstätte zu errichten, so dass sich „am ehemaligen Standort der Synagoge Friedberger Anlage die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt“.
Fazit
Wenn der Rezensent am Folgetag der Bundestagswahlen 2017 über die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nachdenkt, die sich z.B. durch den Einzug der rechtsradikalen, populistischen AfD als dritte Kraft in den Bundestag ergeben und nach Erklärungen dafür sucht, findet er eine Fülle von Hinweisen darauf, wie sich „Affekterbschaften des Nationalsozialismus“ Hier und Heute in gesellschaftlichen Prozessen zeigen: „Der Populismus von rechts hat … immer mehr Zulauf bekommen. Dabei werden intergenerationelle Affekterbschaften aus der Nazizeit in neuer Form wieder lebendig und kollektiv in Szene gesetzt“. Für Demokraten und Verteidiger eines freiheitlichen Rechtsstaates können die Beiträge Einsichten, Argumentationen, Diskussionshinweise und Aufforderungscharakter für eine humane Erinnerungskultur und ein demokratisches, gegenwartsbezogenes und zukunftsorientiertes Bewusstsein vermitteln!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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