Alain Badiou: Versuch, die Jugend zu verderben
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 25.10.2017

Alain Badiou: Versuch, die Jugend zu verderben. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2016. 110 Seiten. ISBN 978-3-518-07257-8. D: 12,00 EUR, A: 12,40 EUR, CH: 17,90 sFr.
„Wir dürfen uns nicht nur an das Gute erinnern, wir müssen uns auch an die Verbrechen erinnern, wir dürfen uns nicht nur an das Licht erinnern, wir müssen auch an die Schatten denken. Die Machthaber in einem totalitären System verbergen das Schlimme und heben das Gute hervor und vertuschen die eigenen Fehler und wischen mit Gewalt die Erinnerung der Menschen an Unglück, Dunkelheit und Verbrechen weg.“ (Yang Jisheng)
Thema
Augustinus zählt 288 Arten auf, wie Philosophen menschliches Glück definieren, aber er und alle die unzähligen anderen, die nach ihm über Glück nachgedacht haben, war auch nur einer unter ihnen, der von sich sagte, er sei ein rundum glücklicher Mensch? Das dürfte bei aller Unbescheidenheit kaum einer von Bedeutung von sich behauptet haben, es sei denn, er hätte sich wie der kantige Arthur Schopenhauer über eine Fernbeziehung mit dem Glück aus dieser Affäre gezogen und sie mit einem „Nein“ zu sich und zum Glück beendet, sobald sie leidenschaftlicher zu werden versprach. In dieser Lesart wird Glück also negativ bestimmt, als Abwesenheit von Unglück. Aber das ist Glück zum lebensweltlichen Nulltarif, das sich Erwartung und Enttäuschung erspart, Affären in und mit der Welt meidet und Glück nicht innerhalb sondern außerhalb der mitmenschlichen Beziehungen sucht. Das aber ist vakuumiertes Ideenglück für die Vorstellungswelten von Rentiers und Privatgelehrten, das seine Haltbarkeit in der frostigen Asozialität von Eremitagen bewahrt, nichts für Menschen, nur etwas für Philosophen.
Die große Menge der Glücksdenker indessen raten den Menschen entweder zu Strategien der Lust oder des Verzichts, was beides in der gelebten Praxis als solide Basis für glückliches Leben nicht viel taugt. Das Streben nach Lust verausgabt sich bald an ihren Höhepunkten, die mit abnehmendem Grenznutzen immer kürzer und schwächer werden, während die Mühen, die man auf sich nimmt, um sie zu erreichen, immer länger und aufwändiger werden, mit einem Wort: bis die Lust zur Last wird. Der Verzicht auf Lust, nicht ganz frei vom Verdacht, selbst lustvoll zu sein, läuft hingegen auf ein Leben der Unempfindlichkeit und der Ungerührtheit, auf Gleichmut und Gleichgültigkeit hinaus, das sich den etwas schulmeisterlichen Namen „Tugend“ gibt und einer anästhesierenden Vernunft das Wort redet, die sich selbst ad absurdum führt, sobald sie praktisch wird: Ein leid- und freudloses Leben ist ohne Kontraste, ohne vitales Fluidum und damit eines, das keines ist. Aber um derlei Sackgassen wissen die weltoffeneren Philosophen selbst am besten. Ihre unterscheidende und vergleichende, trennende und zusammenzufassende Tätigkeit begabt sie mit einer besonderen Sensibilität für Selbstwidersprüchlichkeiten, in die sich eine allzu radikale Konsequenz verstrickt und an denen das ganze Projekt des glücklichen Lebens schließlich scheitern muss. So wissen die klügsten Klugheitslehrer, dass sinnliche Lust nie ohne den ihr auf dem Fuße folgenden Frust der schlaflosen Nächte und mühsam überstandenen Tage gibt, aber auch, dass erst vorhergegangenes Bemühen das Vergnügtseins so richtig zum tief empfundenen, wenn auch nie in nachhaltigen Glücksgenuss zu verwandeln vermag und genau davon die Tugend profitiert, indem sie selbst zur Lust wird: „Was immer die Philosophen sagen – selbst in der Tugend trachten wir letzten Endes nach Lust.“ (Montaigne).
Was sagt uns das? Weshalb ist glückliches Leben für Philosophen ein Problem? Es ist eines, weil sie „Glück“ an „Wahrheit“ binden. Mit „Wahrheit“ aber ist ein unerbittlicher Maßstab angelegt, der die meisten Glückskonzepte als Illusionen erweist. So wird auch Arthur Schopenhauers Pessimismus verständlich, einer der wenigen, der die Wahrheit der Schmerzen und der Leiden würdigte und sie nicht zu Gunsten der Idee eines Eudämonismus schönredete, der mit einem „Alles wird gut“ über die Wechselfälle des Lebens blauäugig hinwegsieht. Wo aber gibt es Glück auch für Philosophen, die Diskussion und Widerspruch hochhalten, Sein und Schein sondern und aus dem Taumel der Dialektik, dem Hauen und Stechen der Thesen und Antithesen sich in immer logischere, also immer stimmigere und damit unglaubwürdigere Synthesen und Abstraktionen hinaufschrauben?
Wenn „Wahrheit“ der Maßstab für „Glück“ ist, dann kann das gelebte Glück von Philosophen selbst nur im Nachdenken über „Glück“, nur in der „Welt als Vorstellung“ (Schopenhauer) liegen. Zumindest in und nach der Denkbemühung im Medium der Sprache stellt sich diejenige Positivität ein, die Philosophen beglückt, sobald ihnen der Bezug auf eine Idee von Wahrheit gelingt. Insofern ist es die Wahrheit, die Philosophen glücklich macht, und nicht das Glück, das die Bonität der Wahrheit garantiert. Und insofern gibt es für Philosophen nur ein wahres Leben, das glücklich machen kann, nur ein glückliches Leben im Denken ihrer Idee von Wahrheit.
Autor und Entstehungshintergrund
Der derzeit als Star am Philosophenhimmel gehandelte Alain Badiou, Franzose, Philosoph und Mathematiker, emeritierter Professor der École normale supérieur zu Paris, selbst ehemaliger Normalien, bekennender und ehemals aktiver Kommunist, Leninist und maoistischer Ideologe bis auf den heutigen Tag, hat eine Schrift verfasst, die der Suhrkamp Verlag unter dem Titel: „Versuch, die Jugend zu verderben“ 2016 herausgebracht hat und die inzwischen in der 3. Auflage 2017 auf dem Markt ist.
Der Verlag betont mit seiner Titelübersetzung den essayistischen Charakter des Textes und der wirtschaftliche Erfolg gibt ihm darin recht. Im Original erschien das Bändchen unter dem Titel: „La vrai vie“, das wahre Leben, in Paris 2016. Und wir werden sehen, was Badiou als „wahres Leben“ vorstellt, welche Idee von Wahrheit er damit verbindet, die über die Lizenz zum glücklichen Leben verfügt. Das setzt zugleich eine Idee von Falschheit, von falschem Leben voraus, das in der Realität ein unglückliches Leben sein muss, auch wenn es subjektiv als glücklich empfunden werden mag.
Der Titel ist eine deutliche Referenz des Philosophie-Lehrers Badiou an Sokrates. Der wurde von den Athenern zum Tode verurteilt, nicht weil er, wie Badiou unterstreicht, aus Gelüsten nach Sex, Macht und Geld seine schmucklose Weisheit des Nichtwissens lehrte wie die Sophisten, die brillante Rhetorik als Weisheit verkauften, sondern weil er sexlos (Xantippe!), machtlos (redete und redete und redete) und geldlos (mäzenatisch versorgt mit dem Nichts, das er zum Leben brauchte), also interesselos Liebe zum wahren Leben lehrte. Und damit ist gesagt, dass der Athenische Oligarchen-Stadtstaat genau der Verderber ist, als den er Sokrates verurteilt: Denn wer die Jugend für Sex, Geld und Macht verdirbt, verdirbt sie für die Art von Werten, die eine solche Gesellschaft als erstrebenswert hochhält. Badiou versteht sich offenbar als ein neuer, wenngleich schon stark angegrauter Sokrates, über den sein Biograph Xenophon schrieb: „Wie könnte wohl dieser Mann von solcher Art die jungen Leute verderben? Dann müßte wohl die Sorge um die Tugend Verderbnis sein!“ [1] Badiou reiht sich damit in diejenige Galerie bedeutender Denker ein, die von Gesellschaften unter dem Verdacht verfolgt werden, die Jugend zu verderben, die jene aber zur Tugend verführen: „Badiou verdirbt die Jugend“ will also eigentlich sagen, „Badiou verführt die Jugend zur Tugend“ – das ist sein Selbstverständnis, das ist sein Programm.
Aufbau
Dieses verfolgt er in drei Kapiteln:
- „Jungsein heute: Sinn und Nicht-Sinn“,
- „Über das gegenwärtige Werden der Söhne“ und
- „Über das gegenwärtige Werden der Töchter“.
Ausgewählte Inhalte
Die Rezension wird sich vor allem mit dem allgemeinen ersten Kapitel befassen, auf das zweite und dritte wegen seiner holzschnittartigen, genauer: mathematisch-abstrakten, ins binäre Codieren verliebten Denke und offensichtlichen Kurzsichtigkeit infolge ideologischer Mangelernährung an wichtigen Informationen über „Jugend heute“ nur kurz – mir geht´s nicht um Badiou-Philologie, sondern um die Realitäten, die Badious symbolische Repräsentationen entschlüsseln wollen, und die ideologischen Inkubi, die in ihnen schlummern.
Warum wendet sich der 79jährige Badiou an „die“ Jugend? Was ist sein Motiv? Badious Motivdarstellung nimmt die zu Anfang des Textes eingenommene Bescheidenheit à la „Was zum Teufel bringt mich dazu, von der Jugend zu sprechen?“(7) sogleich wieder zurück und wischt die mehr rhetorischen Gänsefüßchen denn Zweifel an der eigenen Berechtigung vom Tisch, „der“ Jugend Ratschläge erteilen zu können, was wahres und was falsches Leben sein soll. Tatsächlich zieht sich Badiou von der empirischen „Jugend heute“, unter der er sich bestenfalls AktivistInnen der seiner Ansicht nach irregelaufenen Occupy Bewegung oder KarrieristInnen der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft vorstellen kann, gleich auf die Abstraktion, also in seine Idee von ihr zurück, indem er übers „Jungsein“ überhaupt fabuliert. Als Repräsentanten dieses Jungseins kommen diejenigen realen Jungen in den Blick, die Badious tatsächlicher Erfahrung im andächtigen Auditorium seiner Vorträge weltweit, wie er schreibt, zugänglich ist [2] – eine Jugend von Hörern also, eine, die ihm zuhört, nicht er ihr, eine, die nicht zu ihm spricht, sondern er zu ihr.
Badiou will dieser Jugend die „Dinge“ zeigen, „die das Leben zu bieten hat“ und die Gründe dafür vorlegen, „weshalb man die Welt unbedingt verändern muss, und um die Risiken, die dafür einzugehen sind.“(S. 7) Worin bestehen diese Dinge, die zum wahren und zum glücklichen Leben führen und für die sich zu leben, also die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen lohnt? Es soll ein glückliches Leben sein, so Badiou, ein wahres Leben „voller reicher Gedanken …“(11). Und Gedankenreichtum, Wahrheit und Glück entstünden dann, wenn die „…Jugend nicht die vorgegebenen Pfade einschlagen muss, dass sie sich nicht widerstandslos den Vorgaben der Gesellschaft ergeben muss, dass sie etwas Neues erfinden und ein andere Sehweise auf das entwickeln kann, was sie für das wahre Leben hält.“(14) Soweit so gut. Aber das ist ein Allgemeinplatz, für den die liberalen Marktgesellschaften so viele Anreize setzt, wie sie eine kommunistische Plangesellschaft unterbindet, dafür steht „Freiheit“ im Wertekanon ganz oben, was eine Freiheit ist, die Badiou allerdings für eine Täuschung hält. Denn diese moderne Freiheit sei nur eine Freiheit von allen Hemmungen, sich in den Mahlstrom des Kapitalismus und seiner Zirkulation von Ware und Geld ziehen zu lassen, in der Entfremdung eigene Gedanken ertränkt und das wahre Leben im Keim erstirbt – aber dazu weiter unten mehr.
Das Jungsein ist für Badiou durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet: Jungsein heiße sein Leben „verbrennen“ oder „konstruieren“ wollen. Als Paradigma des Jungseins feiert Badiou den früh berufenen und früh verstummten Dichter Jean Arthur Rimbaud, der mit 14 Jahren zu schreiben beginnt, um mit 19 wieder damit aufzuhören, ein lyrischer Bombenbastler, dessen Lieblingsvokabel „Explosion“ ist und dessen Sprachbilder einen eruptiven Extremismus der magmatischen Erregtheit propagieren, dessen einziger Sinn darin besteht, sich rücksichtslos zu verausgaben, ohne je Befriedigung zu erlangen. Das ist Rimbaud, der sich verbrennt und mit dem Badiou sich das Verhalten der Occupy Bewegung oder auch der französischen Banlieu-Jugend erklärt, die sich auch verbrennt, indem sie protestiert und Zeltlager vor Großbanken aufschlägt oder PKWs, Gummireifen und Barrikaden anzündet. Es wird klar: Rimbaud ist kein Glückskind und die Banlieu- und Occupy-Jugend verfolgen einen Irrweg, und die Brandspur, die sie hinter sich her ziehen, markiert ein falsches Jungsein, kein wahres Leben.
Aber Rimbaud repräsentiert auch das andere Element des Jungseins, das Konstruieren, wie Badiou es sich als Ideal vorstellt, denn Rimbaud wechselte aus der Sphäre der Poesie in die der Ökonomie, wo er sich als Geschäftsmann (?), Schmuggler (?), Sklavenhändler (?) in Äthiopien und Somalia am Roten Meer etablierte. Er starb mit gerade mal 37 Jahren in einem südfranzösischen Spital an Krebs. Aus den Versuchen dieses Menschen, nach seiner Phase als revolutionärer Dichter beruflich auf die Füße und irgendwie zu einer stabilen Existenz zu kommen, meint Badiou das zweite Merkmal des Jungseins herauslesen zu können, das aus sich etwas machen, mit seinem Wort, das sich ein Leben „konstruieren“ will, indem es sich an die gesellschaftlichen Gegebenheiten anpasst. Dieses Bestimmungselement des Jungseins sieht Badiou in dem Bestreben junger Erwachsener heute, sich möglichst hoch zu qualifizieren oder mit Kniffs und Tricks hoch zu arbeiten, um sodann eine möglichst erfolgreiche berufliche Karriere einzuschlagen, die einen hohen Lebensstandard ermöglicht.
Beide Formen des Jungseins, das Verbrennen wie das Konstruieren, bleiben für Badiou in der heutigen Gesellschaft leer – kalte Feuer und bloße Fassaden. Dem Verbrennen der jugendlichen Protestierer ermangele die Konstruktion der eigenen Idee und den Konstruktionen der jungen Karrieristen das selbst hergestellte Sinnelixier zum Leben. Beide Formen brächten nicht etwas wahres Eigenes und damit Neues in diese Welt, vielmehr blieben beide darin impotent, ihrem Leben einen wahren Sinn zu geben. Jungsein heute ist nihilistisch und identitätslos, und das habe strukturelle Gründe.
Dieses Scheitern, dieser auf solche Weise unüberwindbare Nihilismus, diese Unfähigkeit zum wahren Leben hänge nämlich vom Fehlen einer „symbolischen Ordnung“(S. 27ff) ab, die dem Jungsein den Aufbau einer soliden Sozialidentität ermögliche. Tatsächlich schwebt Badiou hier als positives Gegenbild eine Art ständegesellschaftliche Statusordnung vor, mit der er die Vormoderne identifiziert. Diese sortierte die Menschen sozial ein, wies ihnen einen Platz fürs Leben zu und sicherte so ihre soziale Identifizierung. Historisch bleibt diese Behauptung unterbelichtet. Der Subtext deutet an, dass der 79jährige seine eigene Jugend als vormoderne Referenzzeit bevorzugt. Denn Badiou schreibt über die Initiation in diese Sozialidentitäten, die durch Militär und Maloche institutionell organisiert war und aus Jungs Soldaten und Arbeiter und damit Männer machten, während die Institution der Heirat den Mädchen ihre Virginität nahm, um ihnen ihre Fertilität zu erschließen und sie zu Frauen zu entwickeln. Das alles ist Hegel für junge Leser.
Und das Problem der Jungs und der Mädchen von heute ist, dass die Jungs orientierungslos seien, weil das mit dem Militärdienst nicht mehr so ist, wie es war, und die Arbeitsplätze fehlten, so dass die Jungs keine Soldaten- und Arbeiter-Männer mehr würden, sondern willenlos in der Adoleszenz abhängten, um im falschen Leben sinnloser Sinnlichkeit zu frönen und spurlos zu verbrennen oder um irgendeine Karriereleiter hinauf zu krabbeln und, oben angelangt, dem konsumistischen Imperativ auf den Leim zu gehen. Die Mädchen hingegen könnten keine Frauen mehr werden, da das mit dem Heiraten nicht mehr so ist, wie es zur Jugendzeit Badious mal war, sondern sie müssten bereits früh etwas ganz anderes werden: Anstelle durch die Vereinigung mit dem Mann in der Hochzeitsnacht zur Frau zu werden, wie Badiou das unterstellt, sind es der Bildungserwerb und die Berufstätigkeit am Werktag, das die Mädchen zu Frauen machten und damit ihrer eigentlichen Bestimmung entfremdeten, die sie in der Beziehung auf die Männer fänden. Es sind diese Art von Frauen, denen die Gesellschaft die Last der Verantwortung für ihr Funktionieren aufbürdete, nachdem die Jungs sich als Blindgänger erweisen, was Badiou dazu verführt, in den Frauen die künftigen Führungseliten in Wirtschaft und Gesellschaft zu erblicken, weltweit.
Das ist ein nicht unsympathischer Gedanke, der dennoch so wirklichkeitsfremd wie marxistisch-ökonomistisch gedacht ist: Die Sitten und Moralen, die „Folk Ways“ (William Graham Sumner) und religiösen und spirituellen Traditionen, der ganze Kosmos dessen, was ein „Zivilisationsmuster“ (Alfred Schütz) ausmacht, erzeugt allerdings eine soziale Wirklichkeit von eigener Widerständigkeit, die sich nicht nur gegen die emanzipatorische Transformation des Arbeitsmarktes zu Gunsten der Frauen (gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit!) sondern auch gegen die desozialisierende Kraft des Kapitalismus überhaupt mit der ganzen Gewichtigkeit ihres „objektiven Geistes“ stemmt. Damit ist auch die ökonomistisch vereinseitigte Verdampfungsthese des Sozialen von Marx/Engels im Kommunistischen Manifest relativiert, auf die Badious Argumentation beruhen und die Marx/Engels als Zentraleffekt des bourgeoisen Kapitalismus beschwören, nämlich, dass alle soziale Bindungen auf ein „reines Geldverhältnis“ (Marx/Engels) zurückgeführt würden, was in der Theorie schlüssig erscheint, in der Praxis aber unrichtig ist (vgl. S. 39/40).
Das alles soll also seine Ursache im Kapitalismus haben, was nicht besonders originell ist, wenn ein kommunistischer Maoist das so sieht. Dieses System des Marktes und des Geldes habe eine traditionale Ordnung der symbolischen Ungleichheit nicht durch eine egalitäre Symbolordnung ersetzt, sondern durch eine ungleich ungleichere und „pathogene“ (Badiou) und damit noch ungerechtere als alle anderen jemals zuvor, die durch das Geld und eine nie zuvor gesehene Ressourcenungleichheit erschaffen worden sei, in der 10% der Weltbevölkerung nahezu 50 % der Ressourcen, 40% nahezu die restlichen 50% Ressourcen und die restlichen 50% der Weltbevölkerung 0% besitzen. [3]
Das sind alt- und gutbekannte Zahlen, die zum Himmel schreiende Ungleichheiten abbilden und sich im nationalen Maßstab der G20-Länder cum grano salis wiederfinden. Aber auf diese Problematik konnte Kommunismus ebenso wenig wie Faschismus und Nazismus eine humane Reallösung bieten, da diese, sobald sie sich mit der Organisationsform des Staates die Verfügung über sein Monopol physischer Gewaltsamkeit verschaffen konnten, nur katastrophales, nie zuvor gesehenes Megaelend zeitigten. Diese totalitären Ideenverwirklichungen egalitär definierter Statussysteme der Klasse und der Rasse haben dem 20ten Jahrhundert das Stigma eingebrannt, das mörderischste Jahrhundert der an Massenmord nicht gerade armen Weltgeschichte gewesen zu sein.
Na, das sind so die Grundgedanken, auf die Badiou so kommt, wenn er so seine biografische Erfahrungen memoriert und so seine Zeitungslektüren und Gelegenheitseindrücke am Rande seiner Vorträge weltweit interpretiert, auf deren Ergebnissen im Wesentlichen das zweite und dritte Kapitel dieses unsokratischen Büchleins beruhen. Was aber hat diese Diagnose mit seinem Appell an die Jugend zu tun? Und was hat dagegen die heutige Moderne dem Jungsein zu bieten? Antwort: Freiheit. Aber, so Badiou, diese Freiheit sei sinnlos, weil der Sinn, den die heutige Jugend ihr unter den kapitalistischen Gegebenheiten gibt und geben kann, nicht der ist, den Badiou im Sinn hat, und der, wie oben zitiert, darin bestehen sollte, auf ungebahnten Wegen das Neue zu entdecken, wobei Badiou schon zu wissen vorgibt, wohinaus diese neue symbolische Ordnung und dieser neue Blick auf die Welt geht, wenn er unterstellt, dass diese egalitär sein wird.
Nach dem Untergang der vormodernen Welt der Tradition und dem Aufstieg des Kapitalismus trat also laut Badiou keine neue symbolische Ordnung mehr, die einen stabilen Sozialplatz und eine solide Sozialidentität erlaube, sondern die große Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsunordnung, die die Herrschaft des Kapitals, des freien Marktes und des Geldes hervorbringe. Folge hiervon sei eine existentielle Orientierungskrise, eine „Krise der Subjektivität“ (36) oder hegelianisch gesprochen, eine Krise des „subjektiven Geistes“, der in Badious Lesart letztlich die genannte Krise der symbolischen Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft zu Grunde liege. Opfer dieser Krise der Subjektivität seien sowohl die Jungen und die Alten, die Jungen, weil sie bei all ihren Freiheiten letztlich ein sinn- und orientierungsloses Leben führten, die Alten, weil der konsumistische Kapitalismus in seinem werbewirksamen Jugendwahn auch für sie keinen Platz mehr bereitstellte, auf dem sie für das Kapital ihrer Lebenssouveränität und Altersweisheit Anerkennung fänden, sondern der sie mit ihrer Gebrechlichkeit in die Alten- und Pflegeheime abschiebe und dort entsorge.
Ein Ausweg aus dieser Situation sieht Badiou daher in einem Aufstand der sich solidarisierenden Alten und Jungen, der „Haudegen der Existenz“ und der „desorientierten Jugend“(S. 33), die gegen den globalen Kapitalismus gemeinsame Sache machen: „Gemeinsam werden wir durchsetzen, dass sich die Wege zu einem wahren Leben wieder öffnen.“(ebd.) Wer führt? Natürlich die weisen Alten, genauer: die weisesten der Alten, die alten Maoisten, die alten Kämpfer vom Schlage Badious. Und: Was soll Output der solidarischen Kooperation sein? Im Namen der Idee, die er, wie Badiou voll des Selbstbewusstsein seiner eigenen Größe verlautbart, „manchmal … die Idee des Kommunismus“ nenne, eine „neue, egalitäre symbolische Ordnung“ zu entwerfen, „die eine pazifizierte subjektive Grundlage dafür schaffen kann, dass Ressourcen kollektiviert, Ungleichheit tatsächlich abgebaut und Differenzen bei subjektiver Gleichheit vor dem Gesetz anerkannt werden, ja, dass am Ende sogar die separaten Staaten absterben.“(46)
Na, das ist ja mal ein imposant fantasierter Utopie-Output, der nach Parolen einer Weltrevolution klingt, eine Terz aus „Lenin“, „Mao“ und „Bakunin“ und im Unterton vielleicht sogar einen Beiklang von „Netschajew“ hören lässt, diesem ersten modernen Terroristen, der eine „Ethik“ der rücksichtslosen Ausrottung jedwedes „Alten“ in seinen „Worten an die Jugend“ predigte. [4] Was soll „pazifizierte subjektive Grundlage“ sein? Und was soll mit derjenigen „Subjektivität“, die doch ihren Sitz in lebendigen „Subjekten“ aus Fleisch und Blut haben muss, geschehen, die sich nicht im Sinne einer egalitären Ordnung „pazifizieren“, also zu etwas Gleichem machen lässt? „Egalitär“ in Hinsicht auf „Ressourcen“, um diese dann zu kollektivieren und Ressourcenungleichheiten und alles, was daran hängt, „abzubauen“? „Abbauen“ durch „Kollektivieren“?, Allein das Wort „Kollektivierung“ im Text eines Maoisten zu lesen, der von „vorläufigem“ Scheitern des Kommunismus spricht und sich dieses Gespenst als durchaus noch untote Idee vorstellen kann, die eine von ihm verführte Jugend oder der von ihm verführte „subjektive Geist“ des Jungseins auf neuen Wegen reanimieren soll, das jagt dem Rezensenten denn doch jene Schauer über das von den historischen Realitäten gesinnungstherapeutisch entkrampfte Rückgrat: Welch eine Horrorvorstellung! Welch ein „Verrat des Intellektuellen“ (Julien Benda)! [5]
Sowjetunion, China, DDR, Kambodscha, Vietnam, Nord-Korea, Albanien, Kuba, Organisationen wie der Peruanische „Leuchtende Pfad“ etc.? Die stalinistische KPdSU und die maoistische KPCh, die „Roten Garden“ und „Tschekisten“ waren die Akteure, die Stalins „Industrialisierung“ und Mao Zedong´s „Großen Sprung“ (1958-1962) und ihre „Kulturrevolutionen“ in den 20er und 30er sowie den 60er und 70er Jahren des 20ten Jahrhunderts auf Kosten der wesentlich bäuerlichen Bevölkerungen durchsetzten, um ihre „Ideen“ einer „neuen“ und „egalitären“ Gesellschaft und des „neuen Menschen“ planvoll herbei zu morden. Denn was waren die Mittel und was die Folgen? Bürgerkrieg und Massenmord an Bauern und Bürgern, Adligen und Klerikern, „Säuberungen“ innerhalb der kommunistischen Parteien, Schauprozesse, in denen durch Folter gebrochene Funktionäre Geständnisse machten, um „legal“ hingerichtet werden zu können, Zwangsenteignungen und Zwansgumsiedelungen und Deportationen in großem Stil, willkürliche Verurteilung zu Zwangsarbeit in Gulags und in Umerziehungslagern, in denen die Ausbeutung zum Tode an der Tagesordnung war, nicht zu schweigen von den Hungergenoziden, die der sadistische Stalin und der menschenverachtende Mao Zedong und ihre Parteieliten ganz bewusst herbeigeführt und in Kauf genommen hatten, wie die neueren Geschichtsschreiber belegen, die Zugang zu den Archiven in Russland und China erhalten haben.
Eine Verblendung des Philosophen und ein Desaster für einen „Haudegen der Existenz“, der die Jugend zur sozialmoralischen Welterneuerung auf den Weg bringen will und selber unter ideologischer Sehschwäche des Altkommunisten leidet, einer Blindheit des Auges für staatskommunistische Wege wohlgemerkt, denn gegen Faschismus und Rassismus wettert Badiou, und das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass er in Deutschland auf eine verhältnismäßig große Resonanz trifft. Denn ein zu Recht wichtiger Ankerpunkt für die politische Kultur der untergegangenen Bundesrepublik war und für die des wiederauferstandenen Deutschlands ist der Anti-Faschismus und Anti-Nationalsozialismus unter dem Imperativ: „Auschwitz darf sich nicht wiederholen!“, während der Anti-Totalitarismus sein Commitment für die deutschen Intellektuellen seit 1968 zunehmend einbüßte und damit auch die anti-totalitäre Kommunismus-Kritik hierzulande bedeutungslos wurde, was nach Meinung des Rezensenten ja nicht für immer so bleiben muss. [6]
Badious ideologische Einäugigkeit ist allerdings für französische Intellektuelle eher untypisch. Denn unter diesen ist die Konversion vom strammen Staatskommunisten zum Anti-Totalitaristen unter dem Eindruck historischer Ereignisse wie des staatskommunistisch niedergeschlagenen Aufstands von Budapest 1956, des Einmarschs von Truppen des Warschauer Pakts in Prag 1968, des Polnischen Sommers und der Verhängung des Kriegsrechts 1980/81 sowie des Zusammenbruchs des Kommunismus 1989 in bedeutendem Ausmaß vollzogen worden. Die Realität der Menschenrechtsverletzungen hat große Teile der französischen Intelligenz wieder zu Voltairianern und damit wieder zu den Wertideen ihrer humanistischen und aufklärerischen Tradition zurückgebracht.
Zu guter Letzt stellt sich Badiou der Frage nach dem „Wo“ und dem „Wie“, danach, ob es faktische Anzeichen für die „Dinge“ gibt, die auf die Erschaffung einer neuen symbolischen Ordnung des Egalitären hinweisen und wie sie sich entdecken und im weltrevolutionären Maßstab entwickeln lassen. Badiou gibt sich an dieser Stelle ganz als Seher und Wissender, mit einem Wort: als ein Gnostiker der Revolution: „Alle diese Dinge gibt es. Und es gibt Anzeichen, dass sich etwas ereignen könnte, womit sich eine symbolisierbare Zukunft konstruieren lässt. Oft sind sie versteckt, kaum sichtbar, aber es die Pflicht des Philosophen, nicht nur die evidenten Geschehnisse zu beobachten, sondern auch all das, was ihm in seiner eigenen Erfahrung als singulär, originell und seltsam vorkommt, was ihn mehr auf das Künftige als auf das Seiende verweist.“(47/48) Badiou also als altersweiser Seher, als Augur, als Hieroskop, als Gnostiker, der nichts Konkretes sieht, sondern nur etwas Vages schaut, die jugendlichen Leser, wenn es sie denn gibt, mit pathetischem Raunen abspeist und den ärgerlichen Nebelschleier nicht zu lüften sich anheischig macht, der für uns Menschen über allem Zukünftigen liegt. Was Badiou sagt, ist nur, dass es nichts Wichtigeres gibt, als auf solche positive, günstige Zeichen zu achten. „Nichts“, so schreibt Badiou, „ist für uns alle wichtiger, als auf die Zeichen zu achten, die andeuten, dass etwas anderes geschehen könnte, als das, was geschieht. Aber auch in eurer eigenen gelebten Erfahrung, in dem, was sie besonders und irreduzibel macht, könnt ihr diese Zeichen entdecken.“ Das ist schwach, schwächer, am schwächsten, das ist nichts!
Auch zum „Wie“ ihrer Entdeckung rekurriert er auf fiction und nicht auf reality, auf Poesie und Liebe, nicht auf Politik und Geschichte. Der Dichter St. John Perse wird mit einem Gedicht „Anabase“ zitiert, der auf die bekannteste Schrift des Xenophon mit dem gleichnamigen Titel verweist, um diejenige Situation zu verdeutlichen, aus der heraus Badious Meinung nach die Gemüts- und Geisteszustände erwachsen sollen, die der Jugend die Ideen zu einer neuen egalitären Symbolordnung eingeben. Es geht Badiou hierbei um eine Selbstüberschreitung, um das Bewusstsein, dass Menschen in den außeralltäglichen Zuständen der Liebe oder denen plötzlich auftretender Verlorenheit, über sich hinauswachsen und sich neue Wege eröffnen, neue Ideen erschließen, von denen sie nicht gedacht hätten, dass sie zu ihnen in der Lage sind. Diese Selbstüberschreitung im Geist ist es, was Badiou letztlich für das wahre Leben hält, eine Überschreitung, die Aufbrüche motivieren, Fesseln sprengen und Ausgänge aus den Labyrinthen des falschen Lebens weisen kann. Eine Selbstüberschreitung mit Transzendenzbezug auf das wahre Leben in einer als egalitär gedachten Symbolordnung der Zukunft, deren Konstruktion er in die Hände und Handlungen seiner Normalien-Schülern und in politischen Liebesgemeinschaften organisierten Jugendlichen legen will – das ist seine seherische Vision.
Das also ist Badious Idee des wahren Lebens, eine weltrevolutionäre Kommunion der Jugend im Zeichen des wahren Lebens, praktisch als Selbstüberschreitung in auswegloser Situation gedacht. Das ist tatsächlich ein schöner, ein jugendlicher, ein schwärmerischer Gedanke, dessen Schönheit schlagartig verwelkt, wenn ich mir vergegenwärtige, dass ihn ein Greis vorträgt, für den diese Idee fast so alt ist wie er selbst [7] und der die Augen vor den grässlichen Wirklichkeiten verschließt, die diese Idee bereits zu seinen Lebzeiten inspiriert hat. Badiou also schwelgt in den Ideen seiner Jugend. Das macht vielleicht glücklich, wenns um Ideen geht, aber ist nur die halbe, nur die von Badiou geliebte Seite der Wahrheit, deren wirklich gewordene, also für andere Menschen Schicksal gewordene Seite ein auf Wahrheit verpflichteter Philosoph nicht ignorieren darf. Das mag man dem Menschen Badiou als ehrenhaft anrechnen, als Philosoph aber, dem es um bequeme und unbequeme Wahrheit gehen muss, ist es fatal. Denn dann wird der Philosoph zum Nostalgiker, ein Typus also, der immer mit geschlossenen Augen zurückblickt und nur die „wahre Idee“ sieht, aber nicht ihre wirklich gewordene Wahrheit! Badious egalitäre Ordnung, das ist der Traum eines alten Mannes, der nicht ohne Zuversicht sterben will…
So unterschlägt Badiou der Jugend, dass jede Liebe, jeder Aufbruch und also jeder schwärmerische Glücksmoment zeitlich limitiert sind, weil sie sich zwar als Idee im bloßen Denken halten können, aber sobald sie Wirklichkeit werden wollen, mit Interessen, Mentalitäten und Traditionen sich auf dem Boden der Realitäten arrangieren müssen. Denn das Leben ist kurz.
Dieser Typus von wahrem Leben als Leben in der für wahr gehaltenen Idee mündet fast gesetzmäßig in die inhumane Forderung nach einer Identität von Idee und Wirklichkeit, nach der Übereinstimmung von Wort oder Schrift und Tat ein, eine in der politisch-praktischen Konsequenz blutige Illusion, die sich mit Gewalt und Terror herstellen will, ohne je dazu imstande zu sein. Das jedenfalls war und ist das Credo der Revolutionäre aller Zeiten wie die Beispiele des praktischen Terrorismus eines Serge Netschajews, Che Guevaras bis hin zu den islamistischen Bagdadis zeigen. [8]
Was in der Idee wahr ist, kann also in der Wirklichkeit falsch werden, und daraus nach dem blutigen 20ten Jahrhundert nichts zu lernen, ist nicht nur dumm, sondern in hohem Grade verantwortungslos. Wer sich in diesem Zusammenhang auf die Loyalität zur reinen Idee hinausredet, bescheinigt sich nicht Treue zu eigenen Überzeugungen, sondern Starrsinn in der Idolatrie. Wie die politische Reaktion auf diesen Konflikt von Idealem und Realem, von Denken und Handeln ausfällt, davon hängt der Charakter einer Revolution ab. Die Kommunisten wie die Faschisten haben diesen Konflikt mit Gewalt zu lösen versucht. Im Falle Chinas entschied Mao Zedong, dass China die Industrienation Großbritannien innerhalb von 15 Jahren bezüglich der volkswirtschaftlichen Produktivität überholen sollte. Der „Große Sprung“ endete in einem Chaos, das allein zwischen 1958 und 1962 mindestens 45 Millionen das Leben gekostet hat, und das für diese „Idee“ Mao Zdongs. [9]
Fazit
Das ist also der Charakter des Essays: Er ist kein bloßer Versuch, sondern mehr: nicht nur versuchend, sondern versucherisch, ein Aufruf zur Aktion, ein Appell an das Lebensalter, das am Beginn seiner Erfahrungen steht und deshalb größtmögliche Offenheit Ideen und Idealen entgegenbringen kann – familienlos, berufslos, also pflichtenlos und nach Vorstellung Badious deshalb einzigartig für seinen Idealtyp von Politik qualifiziert, da es noch fähig sei, sich von Liebe zur Politik und zu politischen Liebesgemeinschaften zu motivieren und noch nicht vom Streben nach Macht, Geld und Sex korrumpiert sei. Politik soll eine Aktivität aus Liebe, politische Parteien folglich Liebesgemeinschaften und Politiker Liebhaber sein, Liebhaber einer politischen Idee? Ist das die letzte Wahrheit, die ein Philosoph am Ende seiner Tage der Generation der Jungen am Beginn der ihren mitteilen kann? Für den Rezensenten ist das keine Altersweisheit, sondern eine Alterstorheit und folgte „die“ Jugend tatsächlich diesen „Ideen“, dann gnade den Menschen vor ihrer Art zu lieben.
Denn Liebe macht bekanntlich auch blind und wenn die Liebe sich in Vier-Jahres-Plänen vernarrt, dann gedeihen Lüge und Verschwörungstheorie, die die Wirklichkeitswahrnehmung zu Gunsten einer Identität von Plan und Realität durch Terrors praktisch zur Deckung zu bringen sucht. Daher wer heute vom Maoismus spricht, vom Terrorismus nicht schweigen darf. Badiou aber schweigt als Philosoph vom Terrorismus und spricht als Ideologe vom Maoismus. Das aber disqualifiziert den politischen Philosophen Badiou darin, die Jugend zur Tugend bringen zu können, und qualifiziert den Ideologen Badiou dazu, die Jugend zum Tugendterror zu verführen. Das ist kein Beispiel für das wahre Leben, sondern ein Verfahren, das auf lange Sicht an den Realitäten scheitern muss, ohne sich den Eigenanteil daran ankreiden zu wollen.
Denn das wäre ein wahres Leben, das sich den realen, den bequemen wie den unbequemen Wahrheiten stellte und sich nicht in der Eitelkeit der einen geliebten Wahrheit spiegelte. Dann könnte Philosophie die Jugend, die das überhaupt interessiert, ermutigen und ihr bei ihrem Erkennen helfen, was ihrer Ansicht nach an dieser Welt zu ändern wäre und wie diese Änderung ohne Blutvergießen, ohne Elend und ohne Leiden auf humane Weise zuwege zu bringen wäre, also ohne die realen gesellschaftlichen Vermittlungen von Idee und Welt zu vergessen.
Ein Vorbild hierfür kann Alexis de Tocquevilles und sein Werk: „Der alte Staat und die Revolution“ sein, das im klassischen Propädeutikum einer ehrwürdigen Bildungseinrichtung ohnehin nicht fehlt. Tocqueville wusste nach seiner Analyse der französischen Revolution besser als Badiou es wegen seiner Unterlassung einer Analyse der maoistischen „Kulturrevolution“ je wissen wird, wie viel Neues durch den voluntaristischen Akt jugendlich unbekümmerter Revolutionäre historisch tatsächlich in die Welt kommen kann, und dass das Neue nur eine Chance hat zu dauern, zum „wahren Leben“ zu führen und glücklich zu machen, wenn die Zeiten dafür reif sind: „Wie radikal die Revolution auch immer gewesen sein mag, so hat sie doch weit weniger Neuerungen gebracht als man gewöhnlich annimmt.“ (Alexis de Tocqueville)
[1] Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Stuttgart: Reclam. 1980, S. 9.
[2] Vgl. dazu S. 33, wo Badiou auf seine „Vorlesungen und Tagungen … in aller Welt“ hinweist, wo die „Veteranen wie mir, welche die großen Schlachten der sechziger und siebziger Jahre geschlagen haben “ und die „Masse junger Leute, die gekommen waren, um zu hören…“ hinweist. Das also sind die, die er erreichen will: Seinesgleichen und die Hörer seiner Ausführungen. Ist das nicht anmaßend, diese Grüppchen für „die“ Jugend und „die Alten“ zu halten?
[3] Vgl. S. 41 ff.
[4] Siehe Serge Netschajew: „Worte an die Jugend“, in: Michael Bakunin und Serge Netschajew: Worte an die Jugend/Prinzipien der Revolution. Berlin: Karin Kramer. 1984, S. 15: „Sind alle vorhandenen Formen schlecht, so können neue erst dann entstehen, wenn keine einzige von der Vernichtung verschont geblieben ist; das heißt völlig neue Lebensformen können nur aus dem vollkommenen Amorphismus (aus der völligen Ertötung) entstehen.“
[5] Vgl. Julien Bendas (1866-1956) „Der Verrat der Intellektuellen“, einer der wenigen konsequent humanistischen Intellektuellen, der nie mit einem der Totalitarismen des 20ten Jahrhunderts kokettierte und an der universalistischen Menschenrechtlichkeit festhielt, ohne sie ihrer notwendig partikularistischen Realisierung im Namen von Klasse und Rasse durch Ein-Parteien-Staaten zu opfern.
[6] In der deutschen intellektuellen Kultur gab es zwar Leute wie Arthur Koestler und Franz Borkenau, Richard Loewenthal und Margarete Buber-Neumann, die sich unter dem Eindruck stalinistischer Entwicklungen in der deutschen KPD vor 1933, die nicht die Nazis sondern die SPD als Hauptfeind definierte, und der berüchtigten Moskauer Schauprozesse 1936/37/38 vom Kommunismus abwendeten, in der so prominente Kommunisten wie Kamenew, Bucharin, und Rykov, Nachfolger Lenins im Amt des Regierungschefs, verhaftet und vor Gericht der Prozess gemacht wurde – von der Ermordung Trotzkis im Exil ganz zu schweigen. Aber „Renegatentum“, also die Fähigkeit, sich von der Realitätswahrnehmung durch Kollektive zu emanzipieren und sich irren und korrigieren zu können, gilt in Deutschland eher als Verrat und Abtrünnigkeit, beides als Ausdruck eines flachen, nicht in >>tiefster Innerlichkeit
[7] Laut Wikipedia-Eintrag war schon der Vater Gründungsmitglied der linkssozialistischen PSU und auch Mathematiker. Insofern fiel Badiou politisch nicht viel anderes ein als dem Vater, sondern er radikalisierte nur die politische Position des Vaters, ein Faktum, das aus der Forschung zur politischen Sozialisation altbekannt ist: Die mit ihren Eltern identifizierten Kinder überbieten deren politische Orientierung immer ins Radikale, im Falle Badious nach links. Badiou wirkte so in seiner >>JugendzeitNietzsche weist in „Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ darauf hin, dass die Menschen die unbequemen, dissonanten Wahrheiten zu ihren geliebten Wahrheiten doch lieber überhören, statt sie zur Kenntnis zu nehmen. Und davon macht auch Badiou keine Ausnahme, was für einen Ausnahme-Philosophen eigentlich selbstverständlich sein sollte.
[8] Vgl. Serge Netschajew (a.a.O.: 23): „Wir glauben nur denjenigen, die ihre Ergebenheit für die Revolutionssache durch die Tat äußern, ohne Folter oder Kerker zu fürchten; daher verwerfen wir alle Worte, denen nicht die Tat auf dem Fuße folgt.“ Fast wortgleich äußerst sich Che Guevara im „Bolivianischen Tagebuch“ und die Scharia-Auslegung des terroristischen Islamismus spricht dieselbe Sprache, und das ist die der Tat, also des Terrorismus gewordenen Fundamentalismus.
[9] Vgl. Dikötter 2014, der die Zahlen des „…Sicherheitsdienstes sowie die umfangreichen Geheimberichte, die in den letzten Monaten des ‚Großen Sprungs‘ verfasst wurden, zeigen, dass die Zahlen viel zu niedrig angesetzt sind … In diesem Buch werde ich zeigen, dass zwischen 1958 und 1962 in China mindesten 45 Millionen Menschen einen unnötigen Tod fanden.“ (Dikötter 2014, 13)
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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