Inge Künle: Das Selbst und der Andere bei Paul Ricoeur und Amartya Sen
Rezensiert von Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann, 13.06.2017
Inge Künle: Das Selbst und der Andere bei Paul Ricoeur und Amartya Sen. Zur Identität des fähigen Menschen. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2014. 297 Seiten. ISBN 978-3-643-12607-8.
Thema
Die Dissertation von Inge Künle will einen Beitrag zur ethischen und politischen Philosophie der Gegenwart beisteuern (S. 1). Inge Künle leistet diesen Beitrag, indem sie Ethik zuallererst aus der Beziehung zwischen Ich und dem Anderen begründet und die Bedeutung des Anderen für die Identitätsentwicklung des einzelnen Menschen hervorhebt. Die Autorin argumentiert in ihrer Dissertation nicht von der Entwicklungspsychologie oder Sozialisationstheorie, sondern von der philosophischen Perspektive auf den Anderen bei Paul Ricoeur und Amartya Sen her. In diesem Zusammenhang kommt rekurriert sie auf Fähigkeitenansatz, der auch bei der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum als Befähigung und bei Axel Honneth als Anerkennung wiederzufinden ist (S. 2).
Autorin
Inge Künle promovierte 2013 bei Prof. Gander in Freiburg; zuvor war sie Lehrerin (Oberstudienrätin) am Freiburger Wentzinger Gymnasium für die Fächer Ethik, Geografie und Französisch.
Aufbau
Das Buch gliedert sich nach einem Vorwort wie folgt:
Einleitung: Die Aufhebung perspektivischer Begrenztheit – Begründung und Folgen
I Vom Selbst zum Anderen – Zur Entwicklung individueller Identität
- Paul Ricoeur: Der Prozess der Identitätsbildung – Vom Text zur Person
- Amartya Sen: Identitätsbildung im Kontext kultureller Vielfalt
II Zur Identität des fähigen Menschen
- Fehlbarkeit und Fähigkeit bei Ricoeur – aus Sicht der philosophischen Anthropologie
- Der Capability-Begriff bei Sen - aus Sicht der philosophischen Ökonomie
III Von der Vielfalt der Kulturen zur Idee der Menschheit
- Der Begriff der Kultur bei Paul Ricoeur
- Ideologie und Utopie als zwei Ausdrucksformen des sozialen Lebens bei Paul Ricoeur
- Der Kulturbegriff Amartya Sens
- Die Idee der kulturellen Freiheit – ein Vergleich
Schluss und Zusammenfassung und Literaturverzeichnis schließen das Werk.
Ad Vorwort und Einleitung
Folgende Forschungsthesen werden von Inge Künle in der Einleitung des Buches formuliert:
- „Das In-Beziehung-Treten zum Anderen und Fremden macht für beide Autoren die Grundkonstitution menschlichen Leben aus …“ (S. 3)
- Sen betrachtet „das Thema der Identität vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Lebensverhältnisse…“ (S. 5).
- „Ricoeur verfolgt in seinem letzten Werk … eine Phänomenologie des fähigen Menschen, die die Befähigung als Grundlage für sein Handlungsvermögen ansieht“ (S. 7).
- „Der Begriff der Fähigkeit ist bei Ricoeur im Rahmen einer philosophischen Anthropologie als ein Gegenbegriff zu dem der Fehlbarkeit zu betrachten. Sen hingegen orientiert sich mit seinem Capability Ansatz, …, an der praktischen Lebensführung und der Freiheit, …“ (S. 7). Bei beiden Referenzphilosophen wird deutlich, dass die Begriffe wie „Identität“, „Fremd“, „Anderer“, „Kultur“ in einem je spezifischen philosophischen Traditionszusammenhang stehen; bei Paul Ricoeur ist vor allem die phänomenologische Tradition zu nennen (S. 15) und bei Amartya Sen ist es eine vermittelte aristotelische Tradition der Gerechtigkeit.
Ad I
1. Paul Ricoeur
In diesem Abschnitt geht es um den Prozess der Identitätsbildung bei Paul Ricoeur, der die Beziehung Text-Rezpient_in präferiert (S. 17). Das Selbst ist bei Ricoeur stets reflexiv vermittelt zwischen Person und ihrem Bewusstsein. Im Unterschied zum Cartesianischen Modell bedarf das Selbst bei Ricoeur jedoch des Anderen, um sich seiner selbst zu vergewissern (S. 19). Das Selbst muss zuerst zum Fremden, zum Anderen werden, um überhaupt beziehungsfähig zu sein, was die erste bedeutende Abgrenzung zu Descartes darstellt (S. 20). Um der Hermeneutik des Selbst auf die Spur zu kommen, bedarf es vier Fragen:
Künle schreibt über Ricoeur: „Den Intentionen der Hermeneutik des Selbst entsprechen jeweils bestimmte Weisen des Befragens, die das Selbst in wechselnden Rollen betreffen und die alle mit ‚wer‘ beginnen: Wer spricht? Wer handelt? Wer erzählt? Wer ist das Subjekt der moralischen Zuschreibung als Adressat der Verantwortung?“ (S. 22)
Der Beziehungsansatz bei Ricoeur, verlange nun, so die Autorin, dass die Person als „psycho-physisches Einzelding“ abgrenzbar werde (S. 23), was eine Innen- als auch eine Außenbeziehung nach sich zieht. Die Innenperspektive ziele auf die „unmittelbare Erlebniswelt in je eigener Befindlichkeit“, während die Außenperspektive auf den Körper als empirisches Objekt in Raum und Zeit ziele (S. 25). Ricoeur vermeide so die dualistischen Zuordnungen bzw. Zuschreibungen an Seele bzw. Bewusstsein bzw. Körper (S. 27). Ricoeur sei, so die Autorin, von seinem hermeneutischen Ansatz her dem Selbst des menschlichen Individuums auf dem Weg der Sprache auf der Spur (27). Zum Anderen trete das Subjekt qua Sprache in Beziehung (28), über die Bedeutungen generiert werden: „Im Akt der Äußerung liegt der Akzent auf dem Akt und auf dem ‚Ich-Du‘ in diesem Akt. Es geht hier um den bewussten Akt der Intentionalität und der Welterschließung durch das Subjekt.“ (S. 31)
Der leibliche Ausdruck einer Person, auch sich selbst zu bezeichnen, kennzeichne das Subjekt auch als handelndes Subjekt (S. 33). Um jedoch das Handeln eines Subjekts von außen identifizierbar zu machen, gelte Folgendes: „Um ansprechbar zu sein, muss das ‚Etwas‘ als ‚Jemand‘ zu begreifen sein, an den man sich richten kann, um ihm z.B. eine Anweisung zu erteilen.“ (S. 34) Das Tun werde identifizierbar dann auch über den einhergehenden Erkenntnisakt (S. 37).
Um das Abhängigkeitsverhältnis der Handlung vom Handelnden zu verdeutlichen, nimmt Ricoeur die aristotelische Handlungstheorie auf (S. 39f), die sich auf „ein vernunft- und urteilsbestimmtes Auswählen einer Möglichkeit unter verschiedenen Möglichkeiten bezieht“: „Alles menschliche Handeln ist zielgerichtet und orientiert sich an einem Gut; nur aufgrund dieses überlegenden Strebens besitzt der Mensch Macht gegenüber den Dingen“ (S. 41). Zum Subjektsein gehöre nach Ricoeur aber auch das Vermögen, zum Handeln fähig zu sein (S. 43). Dabei gibt es für Handlungen einen doppelten Referenzrahmen, einmal innerhalb bestimmter Bedingungen, die nicht beeinflussbar sind, zu handeln und zum anderen aus Freiheit zu handeln, einen Anfang zu setzen (Immanuel Kant) (S. 44): „Die Urtatsache des Tun-Könnens verweist bereits auf die Ontologie des Selbst als eines handelnden und erleidenden Subjekts“ (S. 46).
Der Begriff der Identität bei Ricoeur sei, so die Autorin, zweideutig (S. 46), weil personale und narrative Identität zu unterscheiden, aber gleichzeitig als zueinander komplementär zu charakterisieren seien. Identität müsse in diesem Zusammenhang immer zugleich als Selbigkeit und Selbstheit verstanden werden. Ricoeur fasse menschliche Identität in doppelter Weise auf, als Selbigkeit und als Selbstheit, wobei Selbigkeit ein zeitliches Kontinuum voraussetze und Selbstheit sich „auf ein Subjekt“ (bezieht, SWE), „das fähig ist, sich selbst als Urheber seines Sprechens und Handelns zu bezeichnen bzw. zu charakterisieren und sich dafür verantwortlich zu wissen …“ (S. 46). Selbigkeit meint „gleichbedeutend mit äußerst ähnlich, gleichartig in Bezug auf die objektiven oder objektivierten Eigenschaften des sprechenden und handelnden Subjekts.“ (S. 47) Von der Identität wäre dann der Charakter zu unterscheiden, der als „Gesamtheit der erworbenen Identifikationen“ zu verstehen sei (S. 49). Wiedererkennbar wären in diesem Sinn auch „dauerhafte Habitualitäten“, was Ricoeur auch auf die äußeren Charaktereigenschaften eines Menschen überträgt (S. 49).
Zur personalen Identität gehöre nach Paul Ricoeur unbedingt auch die narrative Identität (S. 51). Identität, d.h. der lebensgeschichtliche Zusammenhang eines Subjekts, zeige sich in der Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit (S. 52), das Scharnier zwischen beiden sei die Handlung in der Erzählung (S. 53): „Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative … Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt“ (S. 55; Ricoeur 2006). Über die narrative Identität, das ist der lebensgeschichtliche Zusammenhang, der sich auf das Selbst im Lebenszusammenhang, das Verwobensein in Beziehungen und Geschichten bezieht, erschließe sich dann auch die kulturelle Identität: „Der Mensch ist auf Kultur angelegt und damit auf symbolische Vermittlung; die Welt erschließt sich einerseits nur im Medium symbolischer Formen, andererseits entsteht die Vielfalt der symbolischen Formen erst aus dem Zusammenleben von Menschen, wie Cassirer gezeigt hat.“ (S. 57)
Inge Künle stellt allerdings die kritische Frage, „ob Narrativität die einzige Möglichkeit ist, die Einheit des subjektiv erlebten Lebens zu konstituieren.“ (S. 61) Grundsätzlich gehöre aber auch zur Narrativität des Menschen auch die ethische Auskunft über diese Narrationen und die damit verknüpften Handlungen (S. 63). Praktische „Weisheit“ beziehe sich nicht nur allgemein auf die Grundsätzlichkeit guter Lebensführung, sondern müsse sich gerade auch im Einzelfall beweisen (S. 65). Das „gute Leben“ gebe damit eine basale Orientierung menschlichen Lebens vor (S. 67), das dann als Zentralbegriff den Begriff der Fürsorge innerhalb interpersonaler Beziehungen aufnehme: „Nur, wenn das Selbst bereits gelernt hat, Bindungsfähigkeit zu entwickeln, kann es zur Selbstliebe und zur Freundschaft fähig sein.“ (S. 69) Fürsorge werde so im Vollzug dann zum Weg ethischer Ausrichtung gegenüber dem Anderen, dem Fremden, weil sich so das Selbst konstituiere (S. 74). Von der grundsätzlichen ethischen Ausrichtung des Selbst leitet Ricoeur auch die moralische Pflicht ab, entsprechend zu handeln (S. 75): „In der aristotelischen Zielsetzung auf das gute Leben ist bei Ricoeur die moralische Verpflichtung Kants, die auf dem guten Willen beruht, enthalten … Nach Kant ist der gute Wille das ohne Einschränkung, also unbedingt und an sich Gute. Dadurch bleiben subjektive innere Bedingungen und objektive äußere Umstände der Handlung ohne Berücksichtigung – dies bringt seinen moralischen und universalen Charakter zum Ausdruck. In der Moral Kants nimmt der gute Wille die Stellung ein, die das vernünftige Begehren in der Ethik des Aristoteles innehat.“ (S. 76)
Die Pflicht, moralisch gegenüber dem Anderen oder dem Fremden zu handeln, gehöre zur Selbstachtung des Menschen und gelte universell (S. 77). Die Differenz zum Anderen sei damit konstitutives der ethischen Fürsorge bzw. des moralischen Handelns (S. 81) und ziele auf mutuelle Anerkennung (S. 88).
Im Folgenden grenzt Inge Künle Ricoeurs Moralitätsprinzipien gegen Immanuel Kant und Jürgen Habermas ab und schreibt zusammenfassend zu Ricoeur: „Das Selbst wird zugleich in seiner universellen wie in seiner dialogischen – sowohl interpersonalen als auch institutionellen – Dimension begründet.“ (S. 101) Würde könne deshalb dem Menschen weder zugeschrieben noch abgesprochen werden, aber allein „aus Achtung anerkannt werden“ (S. 105), was bedeute, eine „Kunst des interkulturellen Gesprächs“ zu fördern und zu fordern (S. 106). Der Andere ist die Voraussetzung, dass sich das Selbst überhaupt zur Verantwortung rufen lasse (S. 108). Künle schreibt dazu: „Nach Ricoeur lässt sich das Selbst nur in der Dialektik von Selbst und Anderem bzw. Selbstheit und Andersheit begreifen. Die Andersheit umfasst die äußere Andersheit und die dem Selbst innewohnende Andersheit, wozu auch Körper und Leib zählen“ (S. 113).
Die Person indes erscheint nur als Körper, „wenn die Außenperspektive eingenommen wird“ (S. 121). Die Lebensgeschichte eines Menschen als Ausdruck seiner personalen narrativen Identität sei zugleich die Verbindung von Handeln und Leiden. Der Andere, der Fremde, werde zum Analogon meines Selbst (S. 122), weil er strukturell ähnlich sei – der Leib werde zum „Paradigma der Andersheit“ (S. 122) und so könne das Subjekt sich nie als Objekt sehen, der Leib bleibe aber Körper unter anderen Körpern (S. 123). Das Selbst und der Andere konstituieren so auch die eigene Sinnhaftigkeit (S. 124): „Mit der Andersheit des Anderen geht Ricoeur zu einer neuen Dialektik der Hermeneutik des Selbst über, wobei der Begriff der Dialektik beinhaltet, dass sich das Selbst und das Andere aufeinander beziehen in der Weise, dass hier das Andere nicht nur das Gegenstück des Selben bildet, sondern zu seiner innersten Sinnkonstitution dazugehört‘ …“ (S. 124). Das Selbst müsse auf den Anruf des Anderen antworten (S. 130); kritisch dagegen bemerkt Inge Künle, dass der Andere sich dem Selbst verweigern oder die Kommunikation abbrechen könne. Aber aus der Möglichkeit, dem Anderen etwas schuldig zu bleiben, erwachse nach Ricoeur das Gewissen (S. 131). Künle schreibt dazu: „Es wird damit eine Andersheit im Verhältnis zum Selbst behauptet, bei der das Andere wesentlich zum Selbst dazugehört. Somit sind die Formen der Andersheit nur als abstraktes Strukturmerkmal der eigenen Identität anzusehen. Das Fremde ist in uns selbst erfahrbar, hier erlebt sich das Selbst auch als vom Anderen berührt bzw. affiziert, ohne dass der bzw. das Andere in einem Außen in konkreten Formen eines personalen Gegenübers in Erscheinung tritt – eine Begegnung in der Lebenswelt stattfindet. Das Phänomen der Lebenswelt ist … die anschaulich sinnliche Wahrnehmungswelt, die Welt der sinnlichen Erfahrung, die in ihrer Eigenstruktur dem Selbst entgegensteht.“ (S. 138)
Deswegen stehe im Mittelpunkt der Ricoeurschen Hermeneutik der biografische Lebenszusammenhang oder die Lebensgeschichte eines Menschen (S. 139). Zur narrativen personalen Identität gehöre auch: „Der Mensch erscheint von Anfang an als ein handelndes und zugleich leidendes, sich im Geschehen befindendes Wesen, das Schicksalsschlägen unterworfen, und dem die Freiheit der sartreschen Entwurfstruktur nicht gegeben ist“ (S. 139). Das Leben sei bei Ricoeur immer ein erzähltes Leben und in der Erzählung konstituiere sich die Identität als Selbigkeit des Charakters und als moralische Beständigkeit (S. 140). Der Text und seine Interpretation erschließen für den Lesenden die Welt nach ihrem Sein (S. 140); das moralische Subjekt konstituiere sich nach Ricoeur als Zusammenhang mit der ethischen Ausrichtung des Subjekts (S. 147), was wiederum eine dialogische Struktur des Selbst voraussetzt (S. 155). Künle vergleicht Ricoeurs Buch „Das Selbst als ein Anderer“ mit Platons Höhlengleichnis und dessen Stufenweg der Erkenntnis (S. 157).
2. Amarthya Sen
Künle diskutiert im Folgenden den Fähigkeiten- bzw. Befähigungsansatz Sens (S. 159) auf dem Hintergrund einer globalisierten Welt: „Eine Ursache für die globale Bedrohung ist nach Sen, dass die Menschen in einem eng abgesteckten religiös-kulturellen oder ethisch-nationalen Identitätskontext eingezwängt sind, in dem sie wie in einer Falle gefangen sind“ (S. 160). Das Individuum als Person müsse die Möglichkeit, seine Freiheit und auch Freiheit zur Selbstentfaltung wahrnehmen können (S. 160) – das Ziel für Amartya Sen bestehe in einer Gesellschaft freier Bürger*innen, die die Freiheit der Einzelnen befördere und zugleich ein Gefühl gemeinsamer Identität und Solidarität entstehen lasse (S. 161).
Künle schreibt in diesem Zusammenhang: „Sens Sorge um die globale Ungerechtigkeit erweist sich über die Selbstsorge des Individuums hinaus als Sorge für Andere, die selbst nicht über genügend Macht zu ihrer Beseitigung und Erlangung von Gerechtigkeit verfügen…“ (S. 161). Sen gehe nach Künle von einer sozialen Identität als Teil des Selbst aus (S. 162), die durch Gruppenzugehörigkeit und Rollen bestimmt werde (S. 162). Der Einzelne wachse in diese soziale Identität hinein, was aber von Sen in Bezug auf nationale, kulturelle oder religiöse Identität problematisiert werde. Da soziale Identität von der Anerkennung durch Andere abhänge, sei diese ebenfalls bedroht, was wiederum einen rechtlichen Schutzrahmen erfordere (S. 163). Die Identität einer Person bestehe aus Identifikationen mit Anderen, die das Selbst variieren und eine Art von Pluralitätskompetenz des Subjekts erforderlich machen (S. 166). In Bezug auf Moralität komme nach Künle Sen zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie Ricoeur (S. 167). Bestimmte Grundbedürfnisse seien nach Sen bei allen Menschen vorhanden, darüber hinaus auch die Verbundenheit mit anderen Menschen und die praktische Vernunft (S. 172): „Die Ethik ist die Anleitung zur Praxis des Gut-Handelns, letztlich zu einem guten und gerechten Leben“ (S. 172). Zum Gebrauch der Vernunft gehöre aber auch die freie Willenswahl (S. 173); die Identität des Menschen entwickle sich also erst in spezifischen Situationen, in denen man sich so oder so verhalten müsse oder könne (S. 174), d.h. eine „Selbstentscheidung zur gegebenen Situation“ gegeben sein müsse (S. 176): „Die Freiheit ist nicht nur begrenzt durch eigene Fähigkeiten, sondern auch durch die Rahmenbedingungen der Situation“ (S. 176).
Menschen teilen also eine gemeinsame Lebensgrundlage (S. 181)! Dazu gehöre auch das Streben nach Achtung und Anerkennung (S. 183), ebenso wie Vertrauen, Sicherheit, Selbstvertrauen; „aber der Mensch kann die identitätsstiftende Anerkennung nur erfahren, wenn er sich die Wertvorstellungen der moralischen Landkarte zu eigen macht, …, sie internalisiert, wodurch diese gesichert bleiben“ (S. 189). Sens Zielrichtung gehe aber nicht über die aristotelische Ethik hinaus, weil das gelingende Leben die gesellschaftliche Solidarität und nicht nur den Eigennutz des Individuums vor Augen habe (S. 185). Bedroht werde dieses Ziel durch z.B. fundamentalistische religiöse Einstellungen (S. 191) oder durch Reduktionen auf den homo oeconomicus oder auch (S. 194) durch kommunitaristische Bestrebungen. Sen werfe wohl, so die Autorin, den Kommunitaristen vor, dass sie das Individuum auf dessen Individualität festlegten (S. 197) und es so gefangen hielten. Dagegen halte Sen das selbstbestimmte Individuum, das sich anderen gegenüber solidarisch zeige und verhalte (S. 199). Die Autorin fragt dann nach den Prinzipien gelingender Identitätsbildung; bei Sen sei Voraussetzung gelingender Identitätsbildung das selbstbestimmte Individuum, „das sich immer wieder neu für oder wider eine bestimmte Gruppe … entscheiden muss“ (S. 198). Entscheidend dabei seien aber die Strukturen von Zugehörigkeit, die sich innerhalb eines Aneignungsprozesses als Prozessqualität einstellten, die ihrerseits aber plural gestaltet sei, weil jeder Mensch in einer modernen Gesellschaft über mehrere Zugehörigkeiten verfüge. Der Gemeinschaftsbezug des Individuums müsse aber, so Sen, von diesem immer wieder neu gesucht und gestaltet werden (S. 199). Beschränkt würden die Wahlmöglichkeiten von innen und außen, aber die Wahlfreiheit selbst gestalte nach Sen, „Bedingungen zu transformieren“ (S. 199). Für das Individuum sei entscheidend, die praktische Vernunft anzuwenden und zu gebrauchen (S. 200); zudem sei die Vernunft als Urteilsvermögen wichtig, um prüfen, entscheiden zu können. Drittens sei der freie Wille wesentlich. Nach Sens Identitätskonzept entscheide sich der selbstbestimmte Mensch zuerst für seine Selbstsorge, dann aber zur Selbstverpflichtung, sich anderen Menschen gegenüber solidarisch zu verhalten (S. 201). Diese Selbstverpflichtung sei wiederum ein wesentlicher Baustein bei der Vergemeinschaftung des Menschen und seiner Gruppenbildung (S. 203). Sen problematisiere dann die Identitätsfalle des Menschen, dass er sich exklusiv, d.h. in Abgrenzung zu anderen versteht, und dass sich eine einhergehende Reduktion der „Identität“ – weg von ihrer sozialen Verpflichtung – verheerend auswirken könne (S. 204). Der kulturell eindimensionale Mensch (Bürger_in) bleibe in seiner Welt gefangen und eiungespannt und sei nicht mehr zum Aushalten von Vielfalt fähig (S. 207).
Ad II
Ricoeur und Sen treffen sich in ihren Vorstellungen beim Modell des „fähigen“, „befähigten“ Menschen, wobei Ricoeur sein Augenmerk darauflege, so Künle, dass der Mensch erst auf dem Weg der Anerkennung seine Identität entwickle, während Sen die Dialektik von Selbstsorge und Solidarität fokussiere (S. 209). Der Weg der Anerkennung bei Ricoeur umfasse sowohl den leidenden als auch den handelnden Menschen, der zu bestimmten Vollbringensleistungen fähig sei (S. 211), wozu aber ein spezifisches Unterscheidungsvermögen der Angemessenheit einer Handlung notwendig sei (S. 213). Die Zuordnung erfolge bei Ricoeur über das Moralitätsprinzip, „[d]ieses setzt das Bekenntnis des handelnden Subjekts voraus, das sich die Initiative der Handlung zuschreibt und dafür Verantwortung übernimmt.“ (S. 214) Hierbei entstehe eine Geschichte, die zu reflektieren personale Identität als moralische Identität ausbilde (S. 215).
Erst in der Begegnung mit anderen werde die „Brüchigkeit“ und Widersprüchlichkeit narrativer Identität offenbar – die Zurechenbarkeit werde von Ricoeur ethisch auf den Spuren Kants interpretiert (S. 218). Sen dagegen argumentiere, so die Autorin, zuerst bezüglich der Zurechnung juristisch, denn die Befähigungen des Menschen seien dialektisch mit dem Recht verbunden (S. 222) und mündeten in die Frage: Wie soll man leben (S. 223)? Die Unterschiede zwischen Ricoeur und Sen liegen auf der Hand: Ricoeur bezieht sich grundlegend auf ethische Reflexion, gesellschaftliche Fähigkeiten und Praktiken folgten einem ethischen Koordinatensystem; Sen präferiert die Autonomie und Selbstbeteiligung und das Handlungsvermögen des Menschen als solches (S. 223): „Die negativen Freiheitsrechte bestehen im Fehlen von Einschränkungen, die der Staat dem Individuum auferlegt, sowie im Schutz des Individuums von Ein- oder Übergriffen des Staates und der Gesellschaft. Mit den Bürgerrechten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Schutz des Eigentums usw. garantiert der Staat den Freiraum des Individuums, er definiert aber auch die Grenze, wo die Freiheit des Einzelnen des Anderen wegen eingeschränkt werden muss. Sie werden ergänzt durch die positiven Freiheitsrechte, unterstützt durch materielle und soziale Rechte, die dem Einzelnen ermöglichen, die Freiheitsrechte auch tatsächlich aktiv für sich zu nutzen“ (S. 224). Sen zieht eine Verbindungslinie zwischen den Rechten und den Befähigungen eines Menschen: „Die Fähigkeit zum Handeln kann allerdings nur in die Praxis umgesetzt werden, wenn die Hungernden mit Rechten ausgestattet sind“ (S. 225). Ricoeur setzt die Anerkennung des eigenen Selbst und damit des Anderen als entscheidende Bedingung an (S. 226), weil der Sinn (des Lebens) im recht institutionalisiert sei! Beide Modelle rechnen jedoch auch mit der Unzulänglichkeit des Menschen; bei Ricoeur wäre das ein moralisches Verfehlen und bei Sen ein nicht hinreichender Gebrauch der Vernunft (S. 228).
Der Capability Approach Ansatz Sens, der letztlich für ein gutes, gelingendes und gerechtes Leben steht, ist intentional mit dem Ansatz von Aristoteles vergleichbar (S. 235); die Nähe der beiden wird noch deutlicher in der Aussage, dass das bloße Besitzen einer Fähigkeit noch lange nicht die Praxis und den Gebrauch derselben bedeute (S. 235). Sen sieht also in dem Fähigkeitenansatz zuerst einmal nur anthropologische Grundannahmen, über den Gebrauch dieser Fähigkeiten ist deshalb noch nichts ausgesagt: „Am Anfang des Capability-Ansatzes steht bei Sen die Person mit ihren Fähigkeiten bzw. in ihrer Befähigung, die auf Information(en) angewiesen ist, die sie sich selbst beschaffen muss, um beurteilen zu können, welche Prioritäten in ihrer Situation zu setzen sind“ (S. 236).
Ad III
Schöpferische Kultur, Konsumkultur, Weltgemeinschaft sind die Leitbegriffe im dritten Hauptkapitel der Untersuchung Inge Künles. Mit Ricoeur sieht die Autorin im Dialogischen den einzigen vielversprechenden Weg innerhalb der Lebenskonzepte einer Weltgesellschaft (S. 239). Sie schreibt: „Da der Dialog ein wechselseitiger Prozess ist, muss auch der Dialogpartner dazu bereit sein: Er darf weder in starrer Meinung verharren noch versuchen, den anderen zu vereinnahmen, ihn mit dem Ziel der Weltherrschaft zu unterwerfen“ (S. 243). Bei Ricoeur werde dieses Ziel mittels der Hermeneutik angesteuert, bei Sen und Nussbaum (1999) gehe es zwar auch um einen Verstehens- mehr aber noch durch einen politischen Bewusstseinsprozess darum, sich der eigenen Ressourcen zu besinnen und gleichzeitig nicht nur Fähigkeiten anzuerkennen, sondern sich in den politischen Kampf für den Erhalt dieser Rechte zu begeben (S. 244). In beiden Konzepten spielt die je spezifische menschliche Rationalität eine wesentliche Rolle: Bei Ricoeur ist es die menschliche Vernunft, die Menschen auch zur Rationalität verpflichtet (S. 249), aber sie bleibt auf einen Verstehensprozess hin angelegt: „Der Mensch wird schöpferisch durch die Rückkehr zu Tradition, Sprache und Kultur, die eine Welt der Erinnerung ist, in der wir wurzeln, während die technologische Welt ohne Vergangenheit auf die Zukunft ausgerichtet ist“ (S. 250). Sich auf diesen Verstehensprozess einzulassen, setze nach Ricoeur auch einen ethischen Impuls frei (S. 251). Ricoeur kritisiere die Universalisierung der Technik und die gleichzeitige Abhängigkeit der Menschen, die letztlich zur Zerstörung der traditionellen Kultur beitrage (S. 251). Die Einheit der Menschheit via Technik stelle für Ricoeur eine waghalsige Utopie dar. Die Einheit könne nur auf dem Weg der Versöhnung erlangt werden: „Ricoeurs Utopie besteht im Entwurf einer einheitlichen Weltgesellschaft, die als eine einzige Gemeinschaft begriffen wird. Die Rationalität bzw. der wissenschaftlich technische Geist ist das Mittel, diese Idee von der Praxis durchzusetzen bzw. zu institutionalisieren“ (S. 253). Diese verändernde Utopie stelle nach Ricoeurs Ansicht so etwas wie einen Gegenentwurf zur Bewahrung von Institutionen dar (S. 255). In Sens Modell werde dagegen die utilitaristische Theorie radikal in Frage gestellt; nach Meinung Sens sei die Welt im Netz polarisierender Ideologien gefangen (S. 257). Eine dieser Ideologien sei der religiöse Fundamentalismus bzw. Fanatismus, der aber als emotionale Reaktion auf die postkoloniale Gegenwart muslimischer Länder zu werten sei (S. 258). Dagegen setze Sen den freien Austausch der Güter, d.h. einen „Prozess des geistigen … Gebens und Nehmens“ (S. 261). Letztlich gehe es um die wesentliche Verbesserung der Lebensverhältnisse der Armen (S. 261); von daher lasse sich das Konzept der Globalisierung als ideologiekritisches Konzept verstehen (S. 262). Das Ziel bestehe nach Sen im Schaffen einer Zivilgesellschaft (S. 263): „Über die Selbsthilfe hinaus werden Formen menschlicher Zusammengehörigkeit oder Verbundenheit praktiziert. So gründet Solidarität auf Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft, die universalen Ansprüchen aller Menschen, der Menschheit, verpflichtet ist“ (S. S. 264). Solidarität wäre dann eine Form mitmenschlicher Beziehung (S. 265). Als Handeln setze Solidarität eine bestimmte Verbundenheit voraus (S. 266), was bei Sen wiederum in den Dialog der Kulturen mündet (S. 274).
Fazit
Inge Künle leistet mit ihrer lesenswerten, aber auch sehr anspruchsvollen Dissertation einen Beitrag zur Förderung einer lebensdienlichen und solidarischen Zivilgesellschaft, indem sie die beiden grundlegenden postmodernen Konzepte von Paul Ricoeur und Amartya Sen auf dem Hintergrund des ethischen Ansatzes von Immanuel Kant in dessen Gedanken zum ewigen Frieden vergleicht. Inge Künle verlangt vom Lesenden viel Geduld und Konzentration bei der Lektüre ihrer Dissertation, dem sich aber, wenn er durchhält, durchaus wertvolle und vor allem weitblickende Perspektiven über die Struktur einer zukünftigen Weltgesellschaft eröffnen.
Literatur
- Nussbaum, Martha (1999): Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a.M.
- Ricoeur, Paul (2005): Das Selbst als ein Anderer, zweite Auflage, übers. von J. Greisch, München.
- Ricoeur, Paul (2006): Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a.M.
- Sen, Amartya (1984): Resources, Values and Development, Oxford.
- Sen, Amartya (2003): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, zweite Aufl., München.
Rezension von
Prof. Dr. Wilhelm Schwendemann
Professor für Evangelische Theologie, Schulpädagogik und Religionsdidaktik an der Evangelischen Hochschule Freiburg im Fachbereich II (Theologische Bildungs- und Diakoniewissenschaft)
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Zitiervorschlag
Wilhelm Schwendemann. Rezension vom 13.06.2017 zu:
Inge Künle: Das Selbst und der Andere bei Paul Ricoeur und Amartya Sen. Zur Identität des fähigen Menschen. Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2014.
ISBN 978-3-643-12607-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22879.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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